Hochkultur (2019)
Strahlender Sonnenschein. Früher Feierabend. Die EM geht los. Freie Fahrt auf der Autobahn. Und ich höre mir nicht Football is coming home oder die Hair Metal Playlist an, sondern den letzten Teil der Samy Deluxe Discography. Bitter. Die Mixtapes werde ich mir aufjedenfall nicht auch noch antun. Hochkultur (das nichmal eine Wiki-Seite hat) bietet abermals ein völlig neues Soundbild. Ich kannte die letzten vier Alben ja noch nicht und bin etwas überrascht, dass sie so unterschiedlich sind; ich hatte gedacht, die wären alle mehr oder weniger im Albert Einschwein Style. Hochkultur kam bei den Kritikern besser an als die letzten Scheiben, ist dafür aber mit Platz 24 das erste seiner Werke, das (abgesehen von Herr Sorge und inklusive ASD) nicht in den Top 5 der Charts landen konnte.
Mir ist erst jetzt aufgefallen, dass ich bei keiner meiner bislang 15 Reviews auf das Cover der Platte eingegangen bin. Was beim Stöbern im Laden einst tatsächlich noch einen Einfluss auf die Kaufentscheidung hatte, ist in den Briefmarken-großen Versionen auf Spotify komplett untergegangen. Das Hochkultur-Cover - Samy Deluxe auf einem rauchenden (!) Kamel vor den Pyramiden von Gizeh - gefällt mir aber ziemlich gut.
Was auf Hochkultur passiert, könnte man wohl als die Kunstwerkstadt-Version von Trap bezeichnen - düstere Synthies, tief wabernde Bässe, 808s, Snarerolls, 70 Bpm, sehr viel Doubletime und vereinzelt auch Einflüsse der gängigen Triolen- und abgehackten Project Pat-Flows. Aber Samy wäre ja nicht Samy, wenn er nicht alles komplett verschachteln, zerstückeln und ins detailveerliebte Chaos stürzen würde. Gefühlt hat jeder Track zwei Hooks, drei Bridges, vier Beatwechsel, 25 Flow-Switches und dazu noch einen Drumbreak hier, ein Zitat-Schnipsel dort und natürlich eine kurze Feature-Einlage plus ein langes Outro - und natürlich obendrein noch Max Raabe auf Autotune. Am Ende hat man das Gefühl, nicht 16, sondern 30 Tracks gehört zu haben (was es auch erschwert, auf die einzelnen Tracks einzugehen, da bei dem ganzen Durcheinander wenig hängen bleibt). Das Problem: eine geile Hook ist halt besser als zwei solide und ein geiler Beat ist besser als drei solide in einem. Vielleicht bin ich auch einfach zu alt für den Scheiß, diese Herangehensweise an Songs hat mich schon auf Compton von Dr. Dre vollkommen abgeschreckt. Für mich gehören das Loop-Prinzip und die vertikale Entwicklung von Tracks einfach zur Rap-Musik dazu und diese zusammengeflickten Puzzleteppiche aus zuvielen Ideen und Ansätzen gehen mir nicht ins Ohr.
Die Instrumentals entstanden offenbar in Team-Arbeit, ich habe keine Liste gefunden, wo die Produzenten der Stücke genannt werden, sondern stets mehrere Personen, die für die Synthies, den Mix, die Gitarre etc. verantwortlich waren. Abgesehen von Matteo von Culcha Candela sagt mir keiner der Namen etwas. Hören lassen kann sich das alles durchaus. Die einzelnen Teile der Beats können häufig überzeugen, aber meistens ist der nächste Beatwechsel nicht weit, wenn man gerade Gefallen an einer Stelle gefunden hat.
Inhaltlich geht es wieder um Migration (Priviligiert), um Selbstinszenierung (Maskenball), Frauenfeindlichkeit im Rap (Muttersprache), die Schattenseiten des Ruhms (Fame) und es wird wieder mehr angegeben (Gewinne, Championsound). Bei den meisten Tracks ist aber schwer zu sagen, worum es geht, es werden wieder verschiedenste Themen zusammengewürfelt zu irgendetwas zwischen philosophieren und rapresenten. Trap-typische Textstellen gibt es auch, so geht Samy nun shoppen, ohne auf den Kaufpreis zu achten und steigt in den Jet. Das Leitfaden-Motiv der Hochkultur taucht häufig auf, meist aber nur dadurch, dass darauf hingewiesen wird, dass sich das alles gerade um Hochkultur handelt. Am stärksten findet sich das Thema wohl in der Single Requiem, bei der er versucht, besonders episch zu klingen, oder, um es mit seinen Worten zu sagen, er strebt Epochalität an. Zu Beginn malt er dabei ein paar gelungene Bilder "Opernchöre aus'm Ghettoblaster/ Trap-Beats in der Kathedrale/ Violin-spielende Skateboardfahrer/ Stripperinnen im Orchestergraben/" doch dann beschränkt sich der Text auf das Aufzählen von Dingen, die im Allgemeinen als hochkulturell oder epic gelten (Tonskulpturen, Mozart, Staatspaläste, Schlossmauern etc.) und erinnert etwas an Fantasie vom vorletzten Album.
Natürlich gibt es wieder viele miese Vergleiche, Zweckreime, komische Betonungen und falsch ausgesprochene Wörter, all zu große Peinlichkeiten sind aber keine auszumachen. Für den Tiefpunkt des Albums sorgt erstmals ein Gast: Auf Suppengabel stellt man sich die Frage, was schlimmer ist: der groteske Part oder die todesnervige Hook von Fantasma Goria. Der stellenweise brachial pumpende Beat hat das echt nicht verdient. Die persönlichen Thementracks, die häufig zu den Highlights der Alben gehörten, bleiben diesmal außen vor. Generell geht es wohl eher um den Sound und sprachliche Bilder als um den Inhalt.
Hits: Hochmut, Autopilot
Flops: Suppengabel
Die Beats haben oft großes Potential, das durch die Verschachtelung aber vergeudet wird und inhaltlich bleibt nicht viel hängen. Hätte man aus den besten Passagen und den besten Ideen stringentere Songs gemacht, hätte das ein wirklich gutes Album werden können aber in dieser aus allen Nähten platzenden Form ist es vor allem eins - anstrengend. 4,5/10.