"Auf Goethe, den Gesteinsnumerierer, den Sterndeuter, den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser für alle Fälle und alle Zwecke. Auf Goethe, der den Deutschen die Binsenwahrheiten gebündelt und als allerhöchstes Geistesgut durch Cotta hat verkaufen und durch die Oberlehrer in ihre Ohren hat schmieren lassen, bis zur endgültigen Verstopfung. Auf Goethe, der den deutschen Geist mehr oder weniger für Jahrhunderte verraten und auf das Mittelmaß der Deutschen gestutzt hat mit jener Emsigkeit, die ich Gambetti gegenüber als die goethische Emsigkeit bezeichnet habe. Auf Goethe, den philosophischen Rattenfänger, wie ich zu Gambetti das letzte Mal gesagt habe. Goethe sei der Gebrauchsdeutsche, habe ich zu Gambetti gesagt, sie, die Deutschen, nehmen Goethe ein wie eine Medizin und glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft: Goethe ist im Grunde nichts anderes, als der Heilpraktiker der Deutschen, habe ich zu Gambetti gesagt, der erste deutsche Geisteshomöopath. Sie nehmen sozusage Goethe ein und sind gesund. Aber Goethe, habe ich zu Gambetti gesagt, ist ein Scharlatan, wie die Heilpraktiker Scharlatane sind und die Goethesche Dichtung und Philosophie ist die größte Scharlatanerie der Deutschen. Seien Sie vorsichtig, Gambetti, habe ich zu diesem gesagt, seien Sie vor Goethe auf der Hut. Allen verdirbt er den Magen, sagte ich, nur den Deutschen nicht, sie glauben an Goethe wie an ein Weltwunder. Dabei ist dieses Weltwunder nur ein philiströser philosophischer Schrebergärtner. Gambetti hatte lauft aufgelacht, als ich ihm erklärte, was ein Schrebergarten ist. Das hatte er nicht gewusst. Insgesamt, habe ich zu Gambetti gesagt, ist das Goethesche Werk ein philiströser philosophischer Schrebergarten. In nichts hat Goethe das Höchste geleistet, sagte ich, in allem nur das Mittelmaß zustande gebracht. Er ist nicht der größte Lyriker, er ist nicht der größte Prosaschreiber, habe ich zu Gambetti gesagt, und seine Theaterstücke sind gegen die Stücke Shakespeares beispielsweise so gegeinander zu stellen, wie ein hochgewachsener Schweizer Sennenhund gegen einen verkümmerten Frankfurter Vorstadtdackel. Faust, hatte ich zu Gambetti gesagt, was für ein Größenwahnsinn! Der total missglückte Vesuch des schreibenden Größenwahnsinnigen, hatte ich zu Gambetti gesagt, dem die ganze Welt in seinen Frankfurter Kopf gestiegen ist. Goethe, der größenwahnsinnige Frankfurter und Weimarianer, der größenwahnsinnige Großbürger auf dem Frauenplan. Goethe, der Kopfverdreher der Deutschen, der sie jetzt schon hundertfünfzig Jahre auf dem Gewissen hat und zum Narren hält. Goethe ist der Totengräber des deutschen Geistes, habe ich zu Gambetti gesagt. Wenn wir ihm Voltaire, Descartes, Pascal entgegensetzen zum Beispiel, habe ich zu Gambetti gesagt, Kant, aber natürlich auch Shakespeare, ist Goethe erschreckend klein. Dichterfürst, was für ein lächerlicher, dazu aber grunddeutscher Begriff, hatte ich zu Gambetti gesagt." (aus: "Auslöschung. Ein Zerfall" von Thomas Bernhard, 1986)