An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unsere Redakteurin Lena mit dem Einfluss von Social Media auf die deutsche Rap-Szene auseinander. Sie beschreibt, wie Plattformen wie TikTok neue Kinder- und Teeniestars hervorbringen und das Musikbusiness verändern.
Hand aufs Herz: Wenn ich an Kinder- und Tenniestars denke, fällt mir zuerst Hollywood ein. Britney Spears, Miley Cyrus – Disney: ein System, das Kinder früh ins Rampenlicht schiebt. Kinder- und Teenie-Stars gibt es aber mittlerweile längst auch in der deutschen Musikindustrie, selbst im Rapgame. Früher dominierten TV-Castings, Plattenfirmen und offizielle Chart-Platzierungen das Durchbruchsnarrativ. Heute kuratieren Algorithmen Reichweite: Virale Clips, Short-Form-Formate und Meme-Kultur treiben Charts teils schneller in Bewegung als ein klassisches Album-Release. Die Charts bleiben wichtig, doch sie spiegeln oft nicht mehr eine langfristige künstlerische Entwicklung wider.
Was daran schwierig ist? Das System belohnt Dauerpräsenz statt Pausen, Provokation statt Schutz. Minderjährige Artists können Verträge, Shitstorms und die Unendlichkeit des Internets nicht überblicken. Kindheit wird zu Content und lässt sich als Identifikationsfläche gut vermarkten. Und damit sind wir bei der Gegenwart: Denn wer beim Satzanfang "Chabos wissen, wer …" noch in erster Linie an Haftbefehl denkt, ist wohl über 40 oder hat keinen Zugang zum Internet. Dieser legendäre Satz aus Haftbefehls Hit von 2012 war damals schon mehr als nur ein Meme – er war ein Statement einer ganzen Generation. "Chabos wissen, wer der Babo ist" wurde zum geflügelten Wort für Selbstbehauptung und Szenezugehörigkeit. Heute ist der Satz wieder da, aber mit neuem Gesicht: Zah1de. Spätestens mit ihrer Hommage an Haftbefehl und Cro kenne auch ich als Millennial die neueste prägende Person der deutschen Social Media-Landschaft. Denn ihr Song "Mona Lisa Motion (Einmal um die Welt)" ist mehr als nur virales Futter: Sie sampelt einen der größten Cro-Hits überhaupt – "Einmal um die Welt" von 2012 – und setzt mit der Zeile "Chabos wissen, wer Zah1de ist (You)" ein selbstbewusstes Statement. Sie macht Songs aus der Vergangenheit für eine neue Generation wieder relevant und sorgt sogar dafür, dass die alten Hits wieder in den Charts landen. Was früher als Gegensatz galt – Cro zu poppig und Haftbefehl zu viel Straße – wird jetzt durch Zah1de vereint.
Angefangen hat Zahide Kayaci als Tänzerin der Kreuzberger Tanzcrew Lunatix, hier wurde sie 14-jährig als Zah1de bekannt. Als reichweitenstärkste TikTokerin Deutschlands mit über 8,5 Millionen Follower:innen und mehr als 577 Millionen Likes hat sich die Berlinerin aus Kreuzberg mit kurdischen Wurzeln längst einen Namen gemacht. Dazu beigetragen haben zunächst ihre viral gegangenen Tanzvideos auf TikTok. Seit November 2024 veröffentlicht sie als Musikerin eigene Songs und bringt damit frischen Wind in die deutsche Rapszene. Was macht Zah1de so faszinierend? Ihre Musik trifft den Nerv einer neuen Generation, während ihre Girlboss-Attitüde und ihr internationaler Appeal auch weit über TikTok hinaus für Gesprächsstoff sorgen. Mit ihrer vierten Single "Zahide did it better" sorgte sie für besonders viel Aufmerksamkeit, noch bevor der Song überhaupt erschienen war. Der Track, der am 23. Mai 2025 veröffentlicht wurde, ist davor auf TikTok bereits millionenfach geteilt und diskutiert worden. Die Mischung aus Deutsch, Englisch und Gen Z-Sprache polarisiert – während einige Fans den Song schon jetzt als Ohrwurm feiern, kritisieren andere die vermeintliche Beliebigkeit der Zeilen. Spätestens seit "Zahide did it better" und dem Meme "Zahide won this trend" ist klar: An Zah1de kommt man im Netz nicht mehr vorbei. Sie steht exemplarisch für eine neue Generation von Artists, die Social Media nicht nur als Bühne nutzen, sondern gleich zur eigenen Spielwiese machen. Wenn unter jedem zweiten TikTok-Video plötzlich "Zahide did it better" kommentiert wird, verschwimmen die Grenzen zwischen Fan-Hommage, Internet-Phänomen und Selbstinszenierung.
Doch wo so viel Aufmerksamkeit ist, bleibt Kritik nicht aus: Während ihre Fans sie international pushen und ihre Songs millionenfach streamen, gibt es auch Stimmen, die ihr Alter oder die vermeintliche Oberflächlichkeit ihrer Texte kritisieren. Zah1de selbst lässt das kalt – sie rappt selbstbewusst gegen jeden Zweifel an: "Ich hab' mich selbst zum Star gemacht" und stellt klar, dass die Zeiten der unsicheren Teenager:innen vorbei sind. Der Hype um sie erinnert nicht zufällig an einen anderen kometenhaften Aufstieg im deutschen Rap: badmómzjay. Auch sie wurde als Teenagerin zum Social Media-Phänomen, polarisierte mit selbstbewusster Attitüde, auffälligem Style und einer enormen Online-Präsenz. Wie schon bei badmómzjay ist es bei Zah1de die Mischung aus Nahbarkeit und Unantastbarkeit, die für Gesprächsstoff sorgt – und für Neid. Beide Künstlerinnen stehen sinnbildlich für eine neue Generation von Rapper:innen, die ihre Plattformen offensiv nutzen. Während badmómzjay mit provokanten Lines und feministischer Message schnell zur Projektionsfläche für Kritik und Bewunderung wurde, erlebt Zah1de nun einen ganz ähnlichen Spagat: Zwischen Fan-Hype, Meme-Kultur und Hate-Kommentaren muss sie ihren eigenen Weg finden – und tut das bislang mit erstaunlicher Souveränität. Der Vergleich zeigt aber auch: Die Mechanismen des Internets greifen heute noch schneller.
Wo badmómzjay sich ihren Platz in der Szene über mehrere Jahre erkämpfte, reicht bei Zah1de schon ein viraler Trend oder ein Meme, um Millionen zu erreichen – und ebenso viele Reaktionen zu provozieren. Wie Sade Kaingu im MZEE Kommentar "TikTok: Fluch oder Segen?" vom 03.09.2023 betont, sind schnell wachsende Karrieren durch Social Media kein neues Phänomen: Bereits 2007 wurde Soulja Boy über MySpace zum Star. Was damals noch Wochen oder Monate dauerte, passiert heute in Echtzeit – der Weg vom Kinderzimmer in die Charts ist so kurz wie nie zuvor. Zah1de ist längst kein Einzelfall mehr: Auch benno! zeigt gerade eindrucksvoll, wie ein junges Talent das deutsche Rap-Game aufmischt. Mit gerade mal 16 Jahren hat er bereits ein ganzes Album veröffentlicht: "1of1" und landet mit Tracks wie "Dein Mann Freestyle" direkt in den Charts. Seine TikToks gehen regelmäßig durch die Decke, Millionen Views sind bei ihm eher Regel als Ausnahme. Unterstützung bekommt er dabei nicht nur von seinen Freund:innen oder seiner Familie – auch große Namen wie Shirin David oder Luciano haben ihn längst auf dem Schirm.
Ob Zah1de oder benno! – beide stehen stellvertretend für eine neue Generation junger Artists, die Social Media perfekt beherrschen und klassische Strukturen herausfordern. Doch bei all der Aufregung um Zah1de & Co lohnt sich ein genauerer Blick: Ist es wirklich fair, die Verantwortung für Oberflächlichkeit, Hype-Kultur oder vermeintliche Beliebigkeit allein bei den Kids abzuladen? Oder zeigt ihr Erfolg nicht vielmehr, wie sehr sich das Rapgame – und mit ihm die gesamte Musikindustrie – verändert hat? Wer heute als Teenager:in viral geht, spielt nach Regeln, die längst von Algorithmen, Trends und Plattformen diktiert werden. Klar kann man sich über TikTok-Hypes oder Gen Z-Slang echauffieren. Aber am Ende sind Zah1de & Co vor allem Produkte eines Systems, das Reichweite belohnt und Authentizität zur Währung macht. Die Teeniestars nutzen die Tools ihrer Zeit einwandfrei und holen dabei das Meiste für sich heraus. Ehrlicherweise finde ich persönlich, es könnte um einiges schlimmer sein, denn zumindest benutzen sie die Tools für ihre Musik und proklamieren zum Beispiel keine unerreichbaren Schönheitstrends. Mit ihrem ganz normalen zeitgenössischen Girly-Style und ihren Texten, die eben auch ihre Realität in der Schule behandeln, ist Zah1de der Lebensrealität von 14-Jährigen um Einiges näher als die Vorbilder, die ich in dem Alter hatte.
Die eigentliche Frage ist also kaum "Was stimmt nicht mit diesen jungen Künstler:innen?", sondern "Warum wundern wir uns, dass Kids, die mit TikTok aufgewachsen sind, genau wissen, wie sie die Plattform benutzen müssen, um Reichweite zu erlangen?" Deshalb gilt: Don't shame the player, shame the game. Wer Zah1de kritisiert, sollte sich fragen, ob man wirklich sie meint – oder nicht doch das System dahinter. Denn solange Klicks mehr zählen als Skills und Memes mehr bewegen als Messages, werden immer mehr junge Künster:innen über Nacht zu Stars – ob sie wollen oder nicht. Doch eines bleibt klar: Für nachhaltigen Erfolg im Musikbusiness reicht Viralität allein nicht aus. Wer es wirklich ernst meint mit einer Musikkarriere, muss sich musikalisch weiterentwickeln. So wie badmómzjay es eindrucksvoll vorgemacht hat: vom Social Media-Hype zur etablierten Künstlerin mit eigenem Sound.
(Lena Pinto)
(Grafik von Daniel Fersch)