An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden beschreibt unser Redakteur Simon, was sich anhand des Remix von "bissu dumm ¿" über politische Diskurse in der Szene sagen lässt.
Die Initiator:innen des "bissu dumm ¿"-Remix haben wahrscheinlich einen Hiphop.de-Award für den größten organisatorischen Aufwand des Jahres verdient. Quasi alles mit hohem Bekanntheitsgrad im deutschen Straßenrap sowie einige Hochkaräter aus anderen Subgenres haben die Hamburger auf dem Song versammelt und die Gäste sich ordentlich ins Zeug gelegt. Sowohl inhaltlich als auch anhand des Formats lassen sich einige Rückschlüsse über den aktuellen Stand im Subgenre "Straßenrap" ziehen.
Zunächst sei gesagt, dass es gute Gründe gibt, den Track gar nicht erst zu hören: Knapp 20 Minuten für einen Song sind wirklich arg lang. Entscheidender aber dürfte sein, dass sich einige der vertretenen Artists in den letzten Jahren mindestens mal unsympathisch bis ekelhaft und auch widersprüchlich zu den Werten verhalten haben, die sie und wir für HipHop proklamieren. Ob einen diese Punkte abhalten oder nicht, muss jede:r für sich selbst entscheiden. Wer sich aber darauf einlassen möchte, bekommt einiges geboten.
Song und Video vermitteln ein wenig das Gefühl, dass es so etwas wie "die Szene" immer noch gibt und es auch weiterhin ein wichtiges Identifikationsmerkmal für die Artists ist, Teil dieser zu sein. Niemand rappt alleine im Studio oder mit irgendwelchen Leuten, die man nicht kennt. Es gibt laufend Handshakes und Props. Alle scheinen sich so richtig als Rapper:innen zu sehen, als Teil einer Kultur, die sich in ihren Vorstellungen über Welt und Gesellschaft von dieser unterscheidet und nicht einfach zu ihr gehört. Features mit jedem dahergelaufenen Popstar und massentaugliche Chart-Hits hin oder her – der Song ist zunächst ein ganz kitschiger HipHop-Moment.
Worin begründet sich aber diese Abgrenzung von Mainstream und Mehrheitsmeinung? Was sind 2025 die Inhalte, die sowohl die Szene zu einen scheinen als auch als Abgrenzungsmerkmal taugen wollen? Das lässt sich vielleicht nicht umfassend anhand eines einzelnen Songs beantworten. Er liefert durch die große Anzahl an Gästen aber Hinweise darauf, was der aktuelle gesellschaftspolitische Minimalkonsens in der Szene ist. Folgende Punkte scheinen mir die elementaren Aussagen neben dem üblichen Representen zu sein. Wahrscheinlich steht auch nicht jeder Artist vollständig hinter jeder Aussage, aber niemand hat sich davon so sehr abgrenzen wollen, dass er oder sie abgesprungen wäre:
1. Wirtschaftliche Not und Underdog-Mentalität:
"Wir sind hier unten, wir hören nicht auf die da oben."
Viele Zeilen drehen sich um Geldnot, damit verbundene Kriminalität und die Risiken, welche beim Konflikt mit dem Gesetz entstehen können. Einhergehend damit ist oft eine Wut auf ungerechte Zustände und Menschen, die mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Ist natürlich der Straßenrap-Dauerbrenner, aber ein Standpunkt, der die Grundlage für den Inhalt vieler der folgenden Zitate ist. Zudem ist es bemerkenswert, dass auch die möglichen Millionär:innen unter den Artists sich weiterhin derart zuordnen.
2. Die Politik ist korrupt und hat ein Drogenproblem (und Pädophilie ist ein Elitenthema):
"Die echten Mafias sitzen mal wieder nicht im Bau, sondern im Parlament trotz Kindesmissbrauch."
Dass Politiker:innen Koks ziehen, Wahlversprechen brechen und insgesamt die schlimmstmöglichen Menschen sind, findet sich in irgendeiner Form in fast jedem zweiten Part. Was davon stimmt und was nicht, sei mal dahingestellt. Dass sich an den Problemen aus Punkt 1 aber auch rein gar nichts ändern würde, wenn sich Abgeordnete moralisch etwas integrer verhielten, scheint für keinen Artist ein Problem zu sein. Als würde es an unehrlichen Minister:innen liegen, dass es ein paar wenige gibt, die gewinnen und ganz viele, die verlieren. Als wären Wahlversprechen ein verbindlicher Vertrag und nicht nur ein Kommunikationstool im Wahlkampf. Man kann sich auf jeden Fall darüber beschweren, dass der Staat nicht dazu da ist, etwas grundsätzlich an der Misere der Ausgebeuteten zu ändern. Wenn das erkannt ist, kann man aber schwerlich Politiker:innen vorwerfen, diesen Status quo nicht anzugreifen. Und der emotional durchaus nachvollziehbare Hass gegen pädophile Handlungen hat wirklich gar nichts mit irgendwas zu tun. Pädophilie ist ein Problem in allen Teilen der Gesellschaft, bestimmt für niemanden politische Entscheidungen und nein, es gibt auch keine kleinen elitären Zirkel, die die Gesellschaft lenken und gemeinsam Kinder missbrauchen.
3. HipHop ist die Sprache der Unterdrückten:
"Ich sprech' für all die Kids, die von da oben keiner sieht."
Auch dieser Anspruch ist kein neuer. HipHop als Sprache der Unterdrückten ist Teil der Gründungsgeschichte der Kultur. Wenn auch grundsätzlich sympathisch, ist es doch ein bisschen witzig, dass gefühlt 90 Prozent der Artists entweder jenseits der 35 sind und/oder mittlerweile weit über dem Durchschnittseinkommen liegen dürften, aber dennoch blind davon ausgehen, den Struggle immer noch hautnah zu teilen.
4. Wir hassen die Polizei:
"(…) Wenn noch einer droppt, dann zeigt das Loch einer Glock auf den Kopf eines Cops."
Hier könnte jetzt ein Absatz über oberflächliche Polizeikritik kommen. Doch nachdem mit Lorenz A. aus Oldenburg kürzlich wieder ein junger Schwarzer von der Polizei mit Schüssen in den Rücken umgebracht wurde, muss man auch einfach nichts mehr dazu sagen.
5. AfD und Nazis sind scheiße:
"Nein, die sollen nicht in Berlin hängen, so wie Nazi-Plakate."
Dürfte jetzt weder szeneintern noch im medialen Mainstream irgendwie eine kontroverse Haltung sein, dennoch ist es beruhigend zu hören, dass es auch noch Brandmauern gibt, die halten. Und die beiden positiven Antifa-Referenzen auf dem Song deuten darauf hin, dass HipHop doch in Teilen so etwas wie die linke Gegenkultur ist, die zumindest ich gerne darin sehen möchte.
6. Free Palestine:
"Zahlen hunderte Millionen, damit in Gaza Kinder sterben und der Bundestag nur kokst."
Antideutsche Bahamas-Abonnent:innen werden sich Gott sei Dank wohl nicht unter den Artists finden. Auch wenn Deutschland eher hunderte Millionen durch Waffenlieferungen an Israel einnimmt, was auch zur Folge hat, dass in Gaza Kinder sterben. Wo genau "wir" jetzt Geld dafür ausgeben, verstehe ich nicht. Von dieser Verdrehung abgesehen ist es schön, dass das Thema wohl nur innerhalb der Linken spalten kann.
7. Wenn uns danach ist, sorgen wir für Aufstände und Revolten:
"Wenn wir wollen, dann brennt alles, von Hamburg bis Berlin."
Die ganze Wut und Enttäuschung über Politik und Gesellschaft kulminiert in der Fantasie, den gesamten Laden einfach abreißen zu können, wenn man wollte. Dann darf aber die Frage gestellt werden, warum es denn weder in Frankfurt noch Hamburg oder Berlin auch nur ein bisschen glüht. Die Antwort liefert dankenswerterweise die Hook. Das "System ist wie Gefängnis" und als Insasse hat man in der Regel einen relativ engen Gestaltungsspielraum. Die Zeile müsste also eigentlich "wenn wir könnten, dann würde alles brennen" lauten. Was wiederum die Frage aufwirft, warum man so wenig an einem System ändern kann, das einem permanent nicht guttut.
Insgesamt ist also vieles beim Alten in der Subszene "Straßenrap". Fehler, die es schon seit "Blaulicht" gibt, finden sich heute auch wieder. Zum Beispiel die große Rolle von "Papa Staat", der sich nur nicht richtig kümmert, obwohl genau dieser Staat vorsieht, dass viele verlieren und wenige gewinnen. Auch die selbst zugeschriebene Verantwortung als Sprachrohr für marginalisierte Gruppen ist vermessen und unnötig. Erzähl mir als Artist, was dich stört und versuch nicht, dir zu überlegen, was mich auch stören könnte, wäre der viel sympathischere Ansatz. Aber wichtige Haltungen haben es ebenso ins Jahr 2025 geschafft. Sei es eine zumindest oberflächliche Polizeikritik oder Ablehnung von Nazis. Es finden sich auch inhaltliche Details, die über das Anpassen der gesellschaftlichen und kulturellen Referenzen hinausgehen. Eine prominent vor sich hergetragene Palästina-Solidarität konnte man früher eher nur bei Massiv sehen. Auch die Aufrufe zu Protesten haben in den vergangenen Jahren sicher zugenommen.
Die Szene mag dickköpfig und schwerfällig sein, wenn es darum geht, sich mit den Gründen für ihre schlechte soziale Lage auseinanderzusetzen. Von dem eigenen Verhalten der Artists, das den getätigten Aussagen teilweise komplett widerspricht, ganz zu schweigen. Da ist die Szene ganz Spiegel der Gesellschaft. Die neuen Aussagen und Schwerpunkte zeigen aber auch: Unbeweglich ist sie sicher nicht.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)