Schon wieder hat ein neues Jahr begonnen – schon wieder gab es in den letzten Wochen musikalische Jahresbestenlisten auf die Ohren, so weit das Auge reicht. Ob generell Musik oder "nur" Rap, ob Alben oder Tracks – alles wurde rauf und runter bewertet, als gäb's kein Morgen mehr. Da machen wir natürlich mit! … kleiner Scherz. Aber: Über manche Songs und Alben möchten wir doch noch ein paar Worte verlieren. Musikalische Werke, die uns im vergangenen Jahr im Bereich Rap, vornehmlich deutschem Rap, begeistert und beeindruckt haben. Die in uns etwas ausgelöst und uns bewegt haben. Oder die wir aus irgendeinem weiteren Grund, den wir Euch gerne verraten, noch einmal besonders hervorheben möchten. In diesem Sinne: Vorhang auf für unseren Jahresrückblick, verpackt in die schöne Hülle des musikalischen MZEE Recaps 2024.
Hör' in Brandenburg 'ne Unterkunft in Flammen aufgehen und brennen.
Hör' das Mittelmeer atmen und die Welle schluckt ein' Mensch.
Hör' mein Telefon, es klingelt und du fragst mich, wo ich steck'.
Hör' die ganze Welt, von wo ich sitz' – nur nicht mich selbst.
Unzählige Menschen mussten andernorts viel aufgegeben, um hier zu sein. In Deutschland, in Europa. Vielleicht haben sie ihre Familien verlassen, das Land, das sie einst Heimat nannten. Womöglich immer noch nennen. Sie haben ihr Zuhause verlassen, das ihnen mal Sicherheit und Frieden gab. Vielleicht mussten sie fliehen aus Angst vor Terror, Krieg, Bedrohungen. Vielleicht sind sie aber auch gekommen, um in Deutschland ein "besseres Leben" zu finden oder zumindest etwas Geld zu verdienen. Um eines Tages zurückzukehren.
Ein Teil dieser Beweggründe und eines solchen Lebens wird auch von Apsilon beschrieben. Allerdings nicht in seinem Track "Lost in Berlin" von seinem 2024er Albumdebüt "Haut wie Pelz", sondern vorrangig anhand zusammengehörender Musikvideos zum Album, von denen das zu "Lost in Berlin" eines ist. Es zeigt die wahre Geschichte eines türkischen Paares – Apsilons Großeltern – im grauen Deutschland der 70er Jahre, das seine Kinder in Istanbul zurückgelassen hat. Um ihnen einmal mehr ermöglichen zu können, stehen die beiden einer Lebensrealität voller Träume und Hoffnung, harter Arbeit und viel Verzweiflung gegenüber.
All diese Videos wurden mithilfe der Berliner Filmproduktion silkrock produziert, und das in einem so hochwertigen Stil, dass sie mir – gerade für die deutsche Rapszene – sowohl stilistisch als auch konzeptionell als einzigartig erscheinen. In jedem Video wird die Familiengeschichte Apsilons über Jahrzehnte hinweg weitererzählt. Teils lose verbunden durch den Rapper selbst im Hier und Jetzt oder die Nebengeschichte eines für den Großvater ganz besonderen Autos.
Der Track "Lost in Berlin" selbst handelt besonders von Sorgen und Leid in der heutigen Zeit. Während das Video von seiner Familie erzählt, die durch Benachteiligung und Diskriminierung in Deutschland geprägt wurde, offenbart der Song, dass diese Themen auch Jahrzehnte später noch die jüngeren Generationen der Familie betreffen. Track und Video zusammen sind so persönlich, nahbar und echt, dass mir jedes Wort, das ich schreiben könnte, als zu klein erscheint. Ein:e YouTube-Nutzer:in namens Aykoo hat das Ganze treffenderweise wie folgt kommentiert: "Das Video hinterlässt in mir ein melancholisches Gefühl. Es ist [sic] als würde ich das Leben, den Schmerz und die Hoffnung meiner Großeltern in Deutschland in bewegten Bildern sehen. Kognitiv verstehe ich [sic] was meine Großeltern alles aufgeopfert haben. (…) Für die Hoffnung auf ein besseres Leben für die nächsten Generationen haben meine Großeltern leider mit den [sic] höchsten Preis bezahlt. (…) Lange Zeit habe ich immensen Druck verspürt [sic] es schaffen zu müssen, denn ansonsten wäre das Opfer meiner Großeltern umsonst gewesen. Nun verspüre ich tiefste Dankbarkeit."
So kitschig es klingt: Dankbar kann auch die deutsche Rapszene dafür sein, einen Künstler wie Apsilon unter sich zu haben. Einen, der es schafft, persönliche und politische Themen zu verbinden, sich verletzlich zu zeigen, ohne pathetisch zu werden, – und mit Sicherheit das Lebensgefühl einer ganzen Generation an (Enkel-)Kindern einst so genannter "Gastarbeiter:innen/Vertragsarbeiter:innen" zum Ausdruck zu bringen. Zusammen mit Arman, seinem kleinen Bruder, hat er für seine Geschichten über das ganze Album hinweg außerdem einen sehr eingängigen und zur Stimmung passenden Sound kreiert. So kann ich jedem nur Song, Videos und Album ans Herz legen und ich freue mich darüber, dass Künstler:innen wie Jassin nun nachziehen und in ähnlichem Stil endlich ihre Geschichten und die ihrer Familien erzählen.
(Florence Bader)