In der aktuell vorherrschenden nationalstaatlichen Weltordnung gibt es keine Möglichkeit, sich Politik beziehungsweise politischen Phänomenen zu entziehen. Selbst wer sich als "unpolitisch" beschreibt oder dementsprechend handelt, agiert politisch. Oft unbewusst werden auch kleinste Situationen im Alltag von politischen Entscheidungen beeinflusst oder haben eine politische Dimension: Welche Lebensmittel werden konsumiert und wo werden diese eingekauft beziehungsweise produziert? Wie bewegt man sich durch die Stadt, welche Transportmittel werden genutzt? Dementsprechend wichtig ist die politische Sozialisation und Bildung junger Menschen. Das politische Denken wird dabei aber längst nicht nur in der Schule beeinflusst, sondern ebenso von der Familie oder popkulturellen Figuren geprägt. Somit haben Rapper:innen auch heute, obwohl manchmal ungewollt, politischen Einfluss. Eine Rapperin, die sich ihrer Rolle durchaus bewusst ist, ist Kitana. Immer wieder lässt sie in ihre Lyrics politische Inhalte fragmentarisch einfließen – oft in Kombination mit der Fluchtgeschichte ihrer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wir sprachen deshalb mit ihr über ihre politische Sozialisation, was Rap in diesem Zusammenhang leisten kann, über kulturell-religiöse Konflikte und das Entstehen von Politikverdrossenheit.
MZEE.com: Wir sprechen heute über das Thema politische Sozialisation. Wann bist du das erste Mal bewusst mit Politik in Berührung gekommen?
Kitana: Nachdem ich mein Abitur gemacht habe, war mein erster Beruf ein klassischer Verwaltungsjob in meiner Heimatstadt. Die wollten umbedingt eine junge Person im Team und das wurde ich. Ich habe dort das politische Geschehen immer sehr ernst genommen und verfolgt. Trotzdem habe ich da immer Angst, mir die Finger zu verbrennen. Es ist sehr angespannt und du kannst so viel falsch machen. Eigentlich möchte ich nur, dass wir uns alle gernhaben und nett zueinander sind, unabhängig von Nationalität oder Background. Wir sollten einfach gute Menschen sein. Das ist meine politische Haltung, die ich versuche zu leben.
MZEE.com: Du hast gerade schon kurz deine Werte und Überzeugungen angesprochen. In dem Song "Humble" rappst du: "Mama sagt: Reife bestimmt Klasse." – Inwieweit ist denn deine Mutter für deine politische Sozialisation verantwortlich?
Kitana: Meine Mutter und mein Vater haben immer gesagt, dass ich mich raushalten soll. Die waren stellenweise unpolitisch, das finde ich nicht gut. Ich finde es zum Beispiel extrem wichtig, wählen zu gehen, um einen politischen Beitrag zu leisten. Aber meine Eltern hatten den Eindruck, dass es bei allen Parteien sowohl gute als auch schlechte Attribute gibt oder dass Versprechungen nicht eingehalten werden. Deshalb hieß es immer: "Kind, halte dich besser raus. Schaue, dass du ein guter Mensch bist und behandele deine Nächsten gut." Das ist sehr katholisch, denn meine Balkan-Familie ist sehr gläubig. Es hieß oft, ich solle so handeln, wie Gott es für richtig hält, auch wenn das total plakativ ist. Das war meine erste Prägung, aber ich habe während meiner Schulzeit gelernt, dass man sich nicht nur raushalten kann. (überlegt) Finanziell sind wir in sehr schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Wir waren die "Scheiß-Jugoslaw:innen" und meine Eltern mussten richtig hustlen, um Geld zu verdienen. Zu uns hat niemand gesagt: "Refugees welcome!" Ich hatte als Kind nicht viel und meine Mutter meinte immer zu mir, dass es egal ist, was du trägst. Dein Kopf entscheidet, welche Klasse du besitzt. Überzeuge mit deinem Talent und mit deinen Aussagen die Menschen von dir. Man sieht an einem Vorfall wie auf Sylt, dass bei "oberen" Schichten manchmal die Reife auch gleich null ist.
MZEE.com: Gab es denn noch andere Menschen und Momente, abseits von deiner Familie, die dich politisch sozialisiert haben?
Kitana: Nein, nicht wirklich. Während der Schulzeit hat man zwar politische Bildung, aber meine Schulzeit war crazy. Ich war ein problematisches Kind und bin mit 14 von der Schule geflogen. Das ist ein wichtiges Alter, in dem du dich für die höheren Schulen bewirbst (Anm. d. Red.: bezieht sich auf das Schulsystem in Österreich). Ich habe nur Scheiße gebaut, aber als ich älter wurde, hatte ich eine Professorin, die verstanden hat, wie ich ticke. Sie meinte, ich solle mich zusammenreißen, weil ich etwas aus mir machen könne. Die hat mich nicht unbedingt politisch geprägt, aber sie hat mir gezeigt, dass es nichts bringt, sich antisozial zu verhalten. Das war ich zu diesem Zeitpunkt, ich habe auf alle Regeln geschissen, Lehrer:innen beschimpft, Gesetze gebrochen und viel mit Drogen am Hut gehabt. Die Professorin meinte aber zu mir, ich müsse mich ein bisschen an die Regeln halten, um in diesem System funktionieren und etwas erreichen zu können. Das war sehr prägend, denn normalerweise hat man ja eher Traumata von Lehrer:innen. Aber diese eine Frau war mein Spirit Animal, durch sie habe ich mich zusammengerissen und konnte mein Abi machen.
MZEE.com: Kommen wir noch mal zurück zur Geschichte deiner Familie: Gerade auf deinem ersten Album tauchen immer wieder Referenzen bezüglich des Krieges im ehemaligen Jugoslawien auf. Hast du manchmal Sorge, dass die politische Geschichte in Vergessenheit gerät?
Kitana: Ich weiß nicht, ob ich das erzählen soll, aber meine Familie beziehungsweise die eingeheiratete Familie meiner Mutter wird das Interview nicht lesen: Ich habe das Musikvideo von "Humble" in Travnik in Bosnien gedreht. Dort ist es so, dass mit Serb:innen, bosnischen Kroat:innen und Muslim:innen drei Kulturen beziehungsweise Religionen aufeinandertreffen. Mein Taxifahrer zeigte mir noch mal die Stadt – ich war dort das letzte Mal vor 15 Jahren – und sagte: "Gehe nicht in dieses Viertel, dort leben die Muslime." Ich habe mich echt gefragt, ob das sein Ernst ist. Ich hatte Gänsehaut und mich nicht getraut, etwas dagegen zu sagen, weil er ein alter Soldat war. Die denken dort noch immer in klaren Feindbildern gegenüber anderen Religionen und Nationalitäten. Ich zeige das in meiner Musik auf, denn ich nutze selbst viele katholische Bibelzitate und verbinde sie mit muslimischen Wörtern. Das liegt auch an meinem Vater, der diese viel in seinem Jargon verwendet hat. Obwohl er Katholik ist, kommt er aus dem Viertel in Travnik, in dem überwiegend Muslim:innen lebten. In Wien sind wir zwar die Bosnier:innen, Serb:innen und Kroat:innen, aber wir verstehen uns. Wenn ich jedoch aufs Land fahre, macht es mir Angst, was die dort noch für Einstellungen haben. Ich habe extreme Sorge, dass dieser religiöse Kampf immer weiter geht. Es ist dort alles sehr religiös und das hängt eng mit den Kulturen zusammen. Jugoslaw:innen konnten in Wien leichter akzeptiert werden als zum Beispiel Muslim:innen, weil sie nicht fünfmal am Tag beten, kein Kopftuch tragen und die Kirchen nicht sonderlich laut sind. Aber was soll das? Mir ist eine grundsätzliche Akzeptanz wichtig und das zeige ich in meiner Musik. Doch ich habe Angst, weil dieser religiöse Konflikt weiter anhält. Das ist oft eng verbunden mit vielen politisch-kulturellen Aspekten der Gesellschaft. Wir müssen unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Das ist zwar auch ein Zitat aus der Bibel, aber warum tun wir uns damit so schwer? Ich verstehe das nicht, denn wir können auch Konflikte haben, wenn wir der gleichen Nationalität und Religion angehören. Lasst uns doch unsere Probleme gemeinsam lösen, ich will im Endeffekt niemandem etwas Schlechtes. Die Welt gehört allen, verdammt noch mal! Das ist meine Devise.
MZEE.com: Kannst du nachvollziehen, wenn sich Menschen überhaupt nicht mit politischen Ereignissen beschäftigen?
Kitana: Ich kann es nachvollziehen. Ich glaube, es liegt daran, dass Politik historisch für viel Unheil verantwortlich war. Es waren immer politische Konflikte, unter denen viele Menschen gelitten haben, die damit nichts direkt zu tun hatten. Noch immer sterben Menschen, wenn sich auf politischer Ebene einige Wenige streiten. Also stellst du dir die Frage, wen du wählen sollst. Damals dachten die Leute auch, dass sie die "Richtigen" wählen und trotzdem sind Kriege ausgebrochen. Dadurch wird das Vertrauen in die Politik zerrüttet. Vielleicht denken deshalb viele, dass sie nichts bewegen können. Denn auch die Person, der ich meine Stimme gebe, wird mich womöglich verarschen. So entwickelt sich ein Mindset, dass man es gut findet, niemanden zu wählen, weil alle scheiße sind. Ich kann das verstehen und es ist auch nicht komplett aus der Luft gegriffen. Gerade, wenn du dir zum Beispiel Österreich anguckst, was bei uns Bananenrepublik-mäßig los war (Anm. d. Red.: Der Begriff "Bananenrepublik" bezeichnet in der Regel korrupte und bestechliche politische Staaten. In Österreich bezieht sich die Bezeichnung zum Beispiel auf die Pannen bei den Wahlen 2016). Das ist doch schrecklich. Sag mir, wen soll ich wählen? Die Hoffnung liegt dann meistens bei neuen kleinen Parteien, denn die sind noch unbefleckt. Aber versteht mich nicht falsch, ich finde es nicht gut, nicht zu wählen. Wir müssen unsere Stimme nutzen. Du musst dir dazu nicht jeden Zeitungsartikel durchlesen und alle Fernsehsendungen anschauen, aber überlege es dir gut, zu wählen, wenn wichtige Wahlen anstehen. Rede mit Leuten, nimm dir Zeit, informiere dich und dann gib jemandem nach deinem Ermessen deine Stimme.
MZEE.com: Hättest du denn eine Idee, wie man Politikverdrossenheit verhindern könnte?
Kitana: Du musst die Bildungssysteme überarbeiten, denn es hat viel mit Jugendlichen und den heranwachsenden Generationen zu tun. Wir müssen dazu übergehen, dass man junge Menschen dazu ausbildet, eine eigene Meinung zu entwickeln und selbst nachzudenken. Ich zitiere hier immer gerne Immanuel Kant: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Wir wachsen in einem System auf, in dem wir ein kleines Zahnrädchen sind: Du sollst nicht anecken, sondern dich eingliedern. Wir sollten aber einen Raum schaffen, in dem sich Jugendliche entfalten können. Dort sollte es andere Möglichkeiten geben, um zu lernen und Wissen zu konsumieren. Es gibt viele spannende politische Themen, aber wenn dir das Lehrer:innen so erzählen, dass du dabei einschläfst, kann man es auch sein lassen. Ein anderer Punkt ist die oft sensationsgierige Medienlandschaft. Es geht um Clickbait-Headlines und möglichst virale Social Media-Beiträge. Wann kommt der nächste Skandal? Kids schauen sich das dann an und haben per se eine schlechte Meinung über die Politik im Generellen. Es wäre wichtig, dass sich die Medienlandschaft hier auf Fakten bezieht und politisch möglichst alle Meinungen und Richtungen abbildet. Es können immer Fehler passieren, aber niemandem ist geholfen, wenn einzelne Medien oder Menschen "einfach" gecancelt werden, ohne sich die Faktenlage näher anzusehen. Deshalb bin ich mittlerweile auch sehr vorsichtig: Wenn ich zum Beispiel hier etwas Falsches sage, verwendet es der oder die Nächste im Battle gegen mich und ich habe das vielleicht ursprünglich gar nicht so gemeint, wie es verstanden wurde. Lasst mich in Ruhe. (lacht) Lasst uns über dieses Bier reden. (Anm. d. Red.: zeigt auf die Getränkeflaschen auf dem Tisch)
MZEE.com: Wie blickst du auf die Wahlergebnisse in der jüngsten Zeit?
Kitana: In Österreich haben wir bald Nationalratswahlen, da mache ich mir große Sorgen drum. Gerade bei unserer Historie haben wir ein generelles Rechts-Problem in Europa. Das ergibt sich auch aus den interkulturellen Verstrickungen, denn viele verschiedene Kulturen leben auf einem Haufen zusammen. Vielen von uns geht es finanziell und wirtschaftlich schlecht, auch Menschen, die keine Fluchtgeschichte haben. Die Leute sind frustriert aufgrund von Phänomenen wie der Inflation. Wir wissen aus unserer Geschichte, in welcher Form diese Frustration ausarten kann. Ich glaube trotzdem weiterhin an das Gute, aber die Anspannung steigt leider stetig an und Menschen hassen sich aufgrund ihrer Herkunft oder ihres sozialen Status.
MZEE.com: Kommen wir noch mal zurück zu deiner Musik: Auf "Kitana Season" sprichst du unter anderem Yung Hurn an. Was für ein Ziel verfolgst du, wenn du Personen des öffentlichen Lebens direkt ansprichst und outcallst?
Kitana: Imagine, du wärst eine Frau, die betroffen ist, und du gehst auf ein Festival. Dort siehst du, welchen Support diese Person bekommt, wie sie von Labels in der Musikindustrie, von Zeitungen, von Fans und auch anderen Frauen gepusht wird. Dann fragst du dich, wie das sein kann. Wie kann so ein schlechter Mensch so viel Support in einem System bekommen, in dem wir gerade eigentlich sehr kritisch sind? Feminismus ist ein großes Thema und Frauen werden gestärkt. Jede:r weiß, was dort vorgefallen ist. Es ist der Elefant im Raum und trotzdem tut niemand etwas. In dem Song spreche ich das System, die Musiklabels, Zeitungen und Booker:innen an: Wie könnt ihr so jemanden tolerieren? Das Erste ist, dass ich der Frau, die alleingelassen auf einem Festival steht, eine Stimme geben will. Das Zweite ist, dass es mich persönlich extrem triggert. Ich komme aus dem Rap und habe somit Zugriff auf eine Kunstform, in der man so etwas künstlerisch ansprechen kann. Ich finde so ein Verhalten wie von ihm nicht in Ordnung. Lasst Kinder und Frauen in Ruhe und seid generell gute Menschen. Das ist immer meine Conclusio. Ich finde es schwach von allen anderen in der österreichischen Szene, denn fast niemand hat den Mund aufgemacht. Ich musste es machen, obwohl ich nicht mal Wienerin bin, ich lebe erst seit acht Jahren dort. Schämt euch alle.
MZEE.com: Bleiben wir doch bei deinen Lyrics: "Kids sind verloren ohne 'ne Message!" – Was möchtest du der jüngeren Generation mit auf den Weg geben?
Kitana: Ich bin zum Rap gekommen, weil ich bei Rapper:innen wie Sido den Hass und die Wut auf das System und seinen Mittelfinger an alle gehört habe. Ich konnte mich damit identifizieren. Ich spreche auch Themen an und bediene Inhalte, die andere jüngere Leute bewegen. Diese Menschen haben mit mir eine Person als Beispiel, die hätte abrutschen können, aber etwas aus sich gemacht hat. Das will ich repräsentieren, gerade weil ich finde, dass Message und Thematiken ein bisschen verloren gegangen sind. Es geht oft nur noch um Vibe, es muss bouncen und für einen Moshpit funktionieren. Niemand achtet mehr auf Rhymes, sprachliche Aspekte, Punchlines und Wie-Vergleiche. Das ist aber eigentlich etwas Künstlerisches und es macht Spaß, sowas zu konsumieren. Diese Kreativität geht momentan etwas verloren. Ich meine hier natürlich die breite Masse. Musik ist nicht nur Vibe, es kann auch etwas charten, das eine krasse Message hat. Aber momentan chartet nur Musik mit Vibe. Dabei lässt sich mit Emotionen viel mehr ausdrücken. Es steckt zum Beispiel sehr viel Tiefgründiges in der Musik von Haftbefehl oder PA Sports. Mit emotionalen Erzählungen aus deren Alltag, dem Drogenkonsum und -verkauf, wird "echte" Musik produziert. Es ist echt, weil die Brüder das erlebt und dann aufgeschrieben haben. Das funktioniert mit Industriepflanzen und deren Songwriter:innen nicht. Dort fehlt die Seele in der Musik. Das ist verloren gegangen.
MZEE.com: Wie möchtest du deine eigene musikalische Stimme – vielleicht auch politisch – in Zukunft weiter nutzen?
Kitana: Ich sehe mich nicht in einer Partei oder bei der Organisation von Demos. Aber ich bin offensichtlich urpolitisch in meinen Texten, denn ich setze mich mit vielen politischen Themen auseinander und behandle diese. Das ist mein Wesen und das werde ich weitermachen. Ich finalisiere gerade mein Album und will dort unter anderem Themen ansprechen, die als unangenehm betrachtet werden. Beim Anhören sollen sich die Leute die Frage stellen, wie und warum ich darüber einen Track mache. Mein Hauptfokus beim Veröffentlichen von Musik war immer die Idee, dass es Leute da draußen gibt, die allein in ihrem Zimmer sitzen, dieselben Probleme haben, die traurig sind und denen es schlecht geht. Im Optimalfall hören diese Personen einen Song von mir und haben nicht mehr das Gefühl, dass es nur ihnen so geht. Ich möchte, dass die Leute aus meiner Musik Kraft schöpfen, gerade bei negativen, schwierigen und politischen Themen. Damals hatte ich dieses Gefühl bei Sido, der Sachen gesagt hat, die mich emotional abgeholt haben. Das waren traurige Tracks, aber ich habe daraus Kraft geschöpft und etwas Gutes daraus gemacht. Mittlerweile mache ich selbst Rap. Mit Musik hat man potenziell die beste Möglichkeit, viele Leute zu erreichen. Und zwar gerade Menschen, die sich vielleicht nicht so für Politik, Kulturelles und Soziales interessieren.
(Alec Weber & Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Nikolas Rode)