"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Aufgewachsen in zerrütteten Familienverhältnissen und schwierigen Vierteln des Londoner Südens, wendet sich Che Lingo bereits in jungen Jahren der Musik zu. Er macht seine ersten Schritte in Jugendclubs, in denen er regelmäßig mit einem neuen Stapel Zettel in der Hand auftaucht und kein Open Mic-Event auslässt. Bald verbringt der britische Nachwuchskünstler Tage und, in Phasen der Wohnungslosigkeit, Nächte im Studio und releast ab 2017 mehrere EPs.
Der "hardest working rapper in the country", wie er sich später selbst bezeichnet, will jeden kreativen Prozess am liebsten alleine managen. So konzipiert Che Lingo seine Musikvideos, schreibt seine Pressemitteilungen und designt seine Cover und Visuals. Dieser 360 Grad-Ansatz in Bezug auf die eigene Karriere hilft ihm laut eigener Aussage, sich als Künstler stets weiterzuentwickeln und konstant nach Höherem zu streben. Mit diesem Mindset schickte er sich 2020 an, sein erstes Album zu releasen. Heraus kam "The Worst Generation", ein bemerkenswertes Debüt, das Laune macht, bei dem sich aber auch genaueres Hinhören lohnt. Die Platte handelt unter anderem vom Aufwachsen im Süden Londons, von Rassismuserfahrungen, Verletzbarkeit, Enttäuschungen beim Dating und mentaler Gesundheit bei Männern. Che Lingo greift keine seichten Themen an, doch das Album klingt niemals schwermütig oder nach harter Kost. Das Zusammenspiel von Elementen aus US-Trap, Grime, Jazz und R 'n' B beweist die musikalische Vielseitigkeit des UK-Rappers.
"The Worst Generation" ist ein bunter Strauß und eine von vorn bis hinten runde Platte zugleich. Die rar gesäten Features wie Kojey Radical oder Rachel Chinouriri komplettieren ein Album eines spannenden Künstlers, der sich spätestens mit diesem Release auf die Karte des UK-Rap gesetzt hat.
(Enrico Gerharth)