Wir schreiben Samstag, den 7. Oktober 2023, als die Hamas bei einem terroristischen Angriff hunderte mehrheitlich israelische Zivilist:innen ermordet und viele weitere entführt. Israels Antwort auf die Attacken ist ein Gegenschlag, der in einem bis heute andauernden Krieg mündet.
Wir schreiben Sonntag, den 9. Juni 2024, als rechte Parteien länderübergreifend ihren Siegeszug mit historisch starken Wahlergebnissen bei der Europawahl beenden. Hierzulande erreicht die Alternative für Deutschland über 15 Prozent, in Frankreich löst Präsident Emmanuel Macron das Parlament auf und ruft zu Neuwahlen auf.
Wir schreiben Montag, den 8. Juli 2024, als russische Raketen in einem ukrainischen Kinderkrankenhaus in Kiew einschlagen.
Was bei all diesen Ereignissen mitschwingt, ist ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit. Hilflosigkeit gegenüber Gräueltaten, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Hilflosigkeit gegenüber dem immer größer werdenden Einfluss extremer Parteien. Hilflosigkeit und die schiere Handlungsunfähigkeit, etwas unternehmen zu können, was hilft. Wie will man als Einzelperson etwas ändern? Wie kann man sich solidarisieren und für eine bessere Welt kämpfen? Wie findet man die Energie dafür? All das sind Fragen, die Düzen Tekkal und ihre Schwestern kollektiv und Tag für Tag, immer und immer wieder beschäftigen und angehen. Mit ihrer Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help geht die Aktivistin und frühere Kriegsberichterstatterin dahin, wo Hilfe am nötigsten gebraucht wird. Ob Wertedialoge zwischen jüdischen und muslimischen Schüler:innen, Messen für geflüchtete Menschen auf Jobsuche oder Reden auf den größten Demonstrationen des Landes – Düzen Tekkal kämpft für ihren Purpose, für ihren "German Dream", für eine bessere Zukunft. Im Interview mit uns spricht sie nicht nur über ihr Demokratieverständnis, sondern auch darüber, wie man selbst aktiv werden und Veränderungen im eigenen Rahmen starten kann. Wir wollten außerdem wissen, wie man sich in diesem ständigen Kampf nicht selbst verliert und Selfcare betreibt, um die Hoffnung auf eine schönere Zukunft bei all den Krisen nie zu verlieren.
MZEE.com: Wenn man sich sowohl deinen persönlichen Lebensweg als auch deinen beruflichen Werdegang genauer ansieht, stechen zwei Punkte besonders heraus: Es wurde dir nicht leicht gemacht und du machst es dir selbst auch nicht leicht. Damit meine ich: In Deutschland aufzuwachsen, ist mit deiner Familiengeschichte sicherlich nicht einfach gewesen. Und die Berufe, die du ausübst, tragen immer auch eine gewisse "Schwere" in sich – die Themen deiner Filme, deine politische Arbeit auch im Bundestag, die Gründung der Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help, die Themen deiner Bücher. Glaubst du, dass es mit deiner Geschichte und deinen persönlichen Erfahrungen gar nicht anders möglich war, als dein Leben so sinnstiftend zu gestalten?
Düzen Tekkal: Erst einmal danke für die sehr schöne Frage. Interessant, wie du das beschrieben hast – vor allem den Aspekt, dass ich es mir selbst auch nicht leicht mache. Das merkt man in dem ein oder anderen Moment ja selbst gar nicht, sondern erst in der Rückbetrachtung. (überlegt) Die Frage ist ja: Sind wir grundsätzlich auf der Welt, um uns das Leben individuell einfacher zu machen? Ich glaube nicht. Natürlich haben wir auch die Verantwortung, uns das Leben schön zu machen. Ich glaube aber, dass meine Sozialisation und Identität eine große Rolle spielen für das, was ich heute tue. Für meine Berufung und die Aufgaben, die mich gefunden haben. Weil ich in meiner Identität und meinen Wünschen nie selbstverständlich war. Beide wurden eingeschränkt. Beide wurden bekämpft. Beide wurden herausgefordert. Und werden es bis heute. Denn jetzt kommen wir in einem Jahr zusammen, in dem Recherche-Ergebnisse von Correctiv veröffentlicht wurden, in denen Teile der Gesellschaft beschlossen haben, dass wir nicht erwünscht sind und aus Allmachtsfantasien Realitäten werden. Wo der Rechtsruck, in dem wir uns weltweit befinden, mittelbare Folgen hat. Dass mein Leben im Ausnahmezustand und in Gefahr ist – und dass ich nicht erwünscht bin: Mit diesem Gefühl bin ich aufgewachsen. Deswegen wusste ich auch, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Frieden nichts Selbstverständliches sind, sondern man dafür kämpfen muss. Und all das beantwortet dann auch die Frage: Wegen all dem musste ich meinem Leben diesen Sinn geben und hatte aus meiner Sicht in der Rückbetrachtung gar keine andere Wahl. Der Aktivismus ist alternativlos, würde ich sagen – und auch etwas, was meine Schwestern und ich teilen. Ich arbeite ja mit vier meiner Schwestern zusammen – wir sind zwar keine HipHop-Band, sondern Aktivistinnen, aber ich glaube, dass es tatsächlich viele Parallelen zu HipHop gibt. Das war auch der Grund, warum ich dieses Interview mit euch machen wollte: Weil es ganz viele Menschen da draußen gibt, die sich die Fragen stellen, wer sie sind, welche Aufgabe sie haben und wo sie hingehören. Und es geht in diesen gegenwärtigen Krisen – ob das der Israel-Palästina-Konflikt ist oder es weltweite Krisen sind – auch sehr viel um Identitäten. Deshalb ist das, was wir erleben, gerade auch auf allen Seiten so schmerzhaft.
MZEE.com: Du hast gerade in Bezug auf deinen Aktivismus gesagt, dass er alternativlos ist. Im Endeffekt müsste es ja vielen Menschen so gehen, die in Deutschland leben. Eigentlich müssten sie die Privilegien erkennen, spüren, dass es einem im Vergleich sehr gut geht, darauf aufmerksam werden, dass es vielen anderen Menschen eben nicht so geht, und aus Empathie heraus handeln. Woher kommt die Vehemenz, mit der du für bestimmte Themen einstehst, und was hält andere Menschen davon ab, diese Themen mit dem gleichen Antrieb zu verfolgen?
Düzen Tekkal: In meinen Augen hat das viel mit Angst zu tun und der Bewertung von außen. Dass wir uns diesen Widerstandsgeist zu wenig zutrauen. Das Gefühl zu haben, nicht auszureichen, dass wir nicht genug sind. Dass wir wackeln, wegkippen, gecancelt werden könnten. Was mich gerettet hat, war bis heute immer mein Purpose: Wenn du tust, wovon du überzeugt bist, und es mit Liebe tust, ist es eigentlich nicht zerstörbar. Sprich: Wenn du für etwas bekämpft wirst, hinter dem du nicht stehst, kannst du ganz schnell aus der Kurve fliegen. Aber wenn du einen inneren Purpose hast oder einer tiefen Überzeugung folgst, einer Idee, die größer ist als du selbst, dann passiert etwas ganz Spannendes, wenn du angegriffen wirst: Du wirst noch stärker. Das ist das, was wir gerade erleben, weil wir auf diesem Minenfeld groß geworden sind. (Anm. d. Red.: Mit "wir" sind Düzen Tekkal und ihre Schwestern gemeint.) Und weil wir eine psychische Widerstandskraft, eine Resilienz dafür haben, wenn einem das Leben unangenehm gemacht wird. Meine Formel ist, keine Angst davor zu haben. Gerade auch vor dem unangenehmen Teil oder der Konfrontation. Ich würde sogar sagen, dass der Sinn in unserem Leben ist, genau darum zu ringen. Und dass ich festgestellt habe: Immer dann, wenn es wichtig und relevant wird, wenn es um etwas geht, wird es auch wahnsinnig unangenehm. Aber das durch- und auszuhalten und das Gefühl danach – das ist für mich tatsächlich sinnstiftend. Das bedeutet aber nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder dass wir nicht kompromissfähig sind und nicht über unseren Tellerrand hinausdenken. Ich merke das auch ganz konkret beim Israel-Palästina-Konflikt, bei dem ich mit unterschiedlichsten Gruppen zu tun habe und für jede:n dankbar bin, die:der anderer Meinung ist als ich. Die:Der eine andere Position vertritt und es schafft, vernünftig mit mir zu reden. Ich würde nie jemanden dafür verachten, anders auf die Situation zu blicken. Denn ich finde, gerade als Nicht-Betroffene ist es unser Auftrag, in Solidarität, Wohlwollen und Liebe zu bleiben. Es ist ein ganz großer Irrtum im Freizeit-Aktivismus, zu glauben, dass man wütend und unversöhnlich sein muss. Das ist nicht der Aktivismus, für den wir einstehen. Für uns geht es um Grautöne und wie wir es schaffen, Brücken zu bauen und Spaltungsdynamiken zu überwinden. Ich merke das auch in unserer Menschenrechtsorganisation: Da gibt es viele unterschiedliche Positionen – aber ich finde, es ist ein Geschenk, wenn wir es schaffen, uns weiter etwas zuzumuten. Uns nicht von Leuten zu trennen, die anderer Meinung sind, und dann eigene Echokammern zu bilden. Das ist nicht Sinn der Sache. Wir merken ja gegenwärtig, dass wir genau das Gegenteil von dem machen müssen. Ich glaube auch, dass wir uns als Gesellschaft jetzt ganz anders verhalten müssen: Wir müssen viel lauter werden. Unsere Demokratie droht zersetzt zu werden, von innen und von außen. Von Demokratiegegner:innen, Verfassungsfeind:innen im Inland. Aber auch von Despotien und Unrechtsregimen im Ausland. Für mich ist völlig klar, dass wir jetzt ins Handeln gehen müssen. Und das ist, was wir täglich tun und versuchen, vorzuleben.
MZEE.com: Hast du manchmal das Gefühl, dass zu viele Menschen unserer Gesellschaft denken: "Den Aktivismus überlasse ich den anderen, die werden das schon regeln"? Und dass es langsam an der Zeit ist, vom Sofa auf die Straße zu kommen?
Düzen Tekkal: Beides. Auch immer ganz viel Gemecker: Die da oben, die da unten. Ich sehe gerade aber auch sehr viele Menschen, die sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Und wirklich Konsequenzen ziehen. Ich hab' Leute in meinem Umfeld, die gut dotierte Jobs kündigen, weil sie sagen: "Wir müssen was gegen den Demokratiezerfall tun. Ich will jetzt meine Zeit, Ressourcen und Netzwerke der richtigen Sache widmen." Und das ist ein Riesengeschenk, das wir gerade haben. Ich glaube, wir waren noch nie so politisiert wie gegenwärtig. Es ist ein wahnsinniges Kraftfeld, das da aufgeht. Natürlich tun wir trotzdem alle immer noch viel zu wenig – sonst wären wir nicht da, wo wir gegenwärtig sind. Und es gibt viele Menschen, vor allem die Betroffenen, die müde sind, mürbe. Die keinen Bock mehr haben, zu erzählen, wovor sie Angst haben, warum sie auf gepackten Koffern sitzen – und jetzt kriegen wir die ganzen Beweise. Aber es darf nicht zu spät sein. Unsere Historie hat uns gelehrt, dass wir nicht erst dann aufbegehren müssen, wenn wir selbst betroffen sind, sondern auch für unsere Mitmenschen. Das ist die Solidarität, die über die eigene Betroffenheit hinausgehen muss, das ist der Muskel, der uns interessiert.
MZEE.com: Du wirkst immer ziemlich positiv. Denkst du dennoch, dass es für die Demokratie in Deutschland irgendwann zu spät sein könnte?
Düzen Tekkal: Ich finde, diesen Weltschmerz können wir uns nicht erlauben. Schon gar nicht als Privilegierte. Wir sind nicht vom Krieg betroffen, von Unterdrückung, Verfolgung und Völkermord, wie ich es als Kriegsberichterstatterin kenne. Wie traurig wäre es, wenn ich unserer Demokratie eine Absage erteilen würde? Ich würde mir damit gleichzeitig die Grundlage entziehen, aktiv zu handeln. Das ist nicht das, wofür ich stehen will. Wir haben eine ganze Bildungsinitiative, die German Dream heißt. Es gibt ganz viele, die das angreifen und sagen: "Ich glaub' nicht an den German Dream!" Doch allein das ist schon eine Luxusaussage. Denn: Was soll das heißen, du glaubst nicht an den German Dream? Heißt das jetzt, wir geben uns auf? Heißt das jetzt, wir suhlen uns in Negativität und reden weiter über die German Angst? Ich weiß auch, dass der German Dream noch nicht erreicht ist. Das heißt aber nicht, dass wir nicht den Versuch unternehmen, solange wir leben. Und unser Prinzip ist, dass Aufgeben keine Option ist. Das heißt nicht, dass ich mit 'nem Superlächeln und Superoptimismus durch die Gegend renne. Im Gegenteil: Ich hab' auch unterschiedliche Phasen. Insbesondere Ende letzten Jahres hat es mich richtig rausgeknallt. Das alles geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Gerade mit den ganzen Gegensatz-Spannungen, wenn Menschen entgrenzt sind und beleidigen. Ich hab' Morddrohungen bekommen, Sicherheitsbehörden haben sich eingeschaltet. Mein Leben hat sich durch den Aktivismus auch verändert und da braucht es eine tiefe Überzeugung, um den Sinn zu finden, weiterzumachen. Aber bevor ich mir die Frage stelle, ob ich es lassen sollte, möchte ich alles versuchen – auch gemeinsam als Gesellschaft –, um zu eruieren, was wir tun können, um das zu retten. Tatsächlich gibt es auch viel mehr innerliche Freude, wenn wir für das Gute einstehen, uns nicht immer nur abarbeiten. Das kennen wir ja alle: Wenn wir anfangen, uns über Dinge zu ärgern, ist das wahnsinnig destruktiv und belastet uns selbst mit am meisten. Alles, was an Ärger rausgehen soll, richtet sich wie ein Bumerang gegen uns selbst. Und dafür haben wir keine Zeit. Der Tag hat nur 24 Stunden und wir treffen jeden Morgen die Entscheidung, womit wir diese Zeit nutzen wollen. Ich erwische mich manchmal dabei, dass es destruktiv wird, wenn ich mich über irgendwas oder -wen ärgere. Aber das kann ich nicht lange machen. Nach einer halben Stunde werde ich direkt wieder gefordert: "Hey, wir brauchen dich jetzt." Und gebraucht zu werden, kann wirklich dagegen helfen.
MZEE.com: Seit ein paar Jahren befinden wir uns auch in Mitteleuropa in sehr bewegten Zeiten und die Situation spitzt sich ständig weiter zu. Ob wir von Corona oder den Kriegen in Europa und im Nahen Osten sprechen, vom Iran oder aktuellen Wahlen. Es scheint logisch, sich die Frage zu stellen, wie es weitergehen und "wieder besser werden" soll. Was gab dir persönlich Halt und Hoffnung in den letzten Jahren? Woraus schöpfst du deine Kraft und die Stärke, den Mut nicht zu verlieren?
Düzen Tekkal: Ich hab' ja schon ein paar Jahre Erfahrung in dem, was ich mache. Ich sage das, weil ich weiß, dass man den Preis, den man für Aktivismus zahlt, am Anfang nicht einpreist. Der kommt nebenbei – und zwar mit großer Wucht und einem Schatten. Aber das Geschenk ist, dass man da reinwächst. Ich weiß, dass ich in den Anfangsjahren viel schlechter zu mir selbst war. Ich hab' den Druck verlagert, mich dafür bestraft, dass es anderen Menschen nicht gut ging. Ich bin in eine Parallel-Co-Abhängigkeit gegangen, weil ich so viel mit IS-Überlebenden zu tun hatte, und hab' mir plötzlich auch verboten, zu leben. Und das ist eigentlich genau gegen das Mantra, für das wir stehen: "Jin, Jiyan, Azadi – Frauen, Leben, Freiheit". Ein Leitspruch der kurdischen Freiheitsbewegung, mit dem ich aufgewachsen bin. Das "Ja" zum Leben und zur Lebensfreude. Das kann man nur leisten, indem man auf sich achtet. Das heißt, ich musste lernen, trotz all dem Purpose eine Art Selfcare zu betreiben. Eine Seelenhygiene, eine Schönheit für mich selbst. Ein Mantra ist zum Beispiel, weder Gesundheit noch Schönheit für den Aktivismus zu opfern. Das hat keinen egoistischen Grund, sondern ist etwas ganz Pragmatisches. Was mir geholfen hat, war einerseits Selbstliebe, die keine Selbstverständlichkeit ist. Viele Menschen strugglen mit ihr ja aus unterschiedlichen Gründen … Als ich daran gearbeitet habe, hab' ich auch gemerkt, dass mir das ein Gefühl von Einsamkeit nimmt. Eine Aufgabe oder Bestimmung zu haben, kann ja auch einsam sein. Immer weiterzumachen, wenn andere zu den Kindern fahren oder in den Feierabend gehen. Andererseits half mir natürlich, mir eine Menschenrechtsfamilie zu suchen. Eine Armee der Solidarität von Menschen, die mich lieben für das, was ich bin. Ich brauche keine Leute, die mir privat auch noch erzählen, was sie alles scheiße finden und nicht akzeptieren. Oder dass sie hiermit und damit nicht einverstanden sind. Auch ich habe den Anspruch, im Privaten mal aufgefangen zu werden. Mal nicht über Schmerz und Politik reden zu müssen. Sondern einfach oberflächlich über Trash zu labern, gar nichts zu sagen oder einen Film zu gucken. Einfach von Menschen umgeben zu sein, die dich lieben. Da habe ich eine Handvoll von. Und dann habe ich natürlich diese Superfamilie. (lächelt) Meine Schwestern, das ist die Kernfamilie in der Familie. Wir sind sozusagen noch mal eine eigene Familie, weil wir diese Vereine gemeinsam gegründet haben. Das Schönste, was es für mich gibt, ist, morgens aufzustehen und zu wissen, dass ich mit den Menschen, die ich liebe, an einer besseren Welt und Zukunft arbeiten darf – für andere. Vor ein paar Tagen sind wir zu Fuß ins Büro gegangen. Wir wohnen alle in einer Gegend, ich bin rüber zu den Mädels und wir haben sofort laut diskutiert. Da musste ich lachen, weil ich merkte, dass sich nichts geändert hat. Wir sind immer noch wie früher, als wir gemeinsam in die Schule mussten. Nur, dass wir jetzt mit ein paar Leuten mehr arbeiten und mittlerweile über 70 Mitarbeitende haben. Eine Organisation und Bildungsbewegung. Zusammen in den Tag starten und Herausforderungen meistern. Wenn mir etwas passiert, dann trifft das alle – wir sind ja kollektivistisch geprägt. Das heißt, wenn es gegen meine Schwester geht, geht es gegen mich. Das ist das Kollektive bei uns. Ich gebe auch zu, dass das eine Einheit ist. Früher habe ich immer so getan, als wären wir alle wahnsinnig individuell. Sind wir auch, aber es gibt einen ganz festen Kitt. Und wer sich mit mir anlegt, der legt sich mit allen an – umgekehrt genauso. Das gilt im besten Fall nicht nur für die Schwesternschaft, sondern für die Gemein- und Gesellschaft. Ich hab' sehr viel Hass abbekommen in den letzten Monaten, aber auch genauso viel Liebe. Die habe ich auch empfangen, zugelassen und gesehen. Und die brauchen wir auch, sonst brechen wir zusammen.
MZEE.com: Thema Selfcare: Hast du irgendwann angefangen, Dinge anders zu machen? Wir kennen es ja alle, dass wir bestimmte Denkmuster haben – wie uns dauernd über Kleinigkeiten aufregen –, aber sie trotz unseres Wissens über sie nicht ablegen können.
Düzen Tekkal: Das ist das Problem: In dem Moment, in dem wir überziehen, fangen wir an, zu uns selbst nicht gut zu sein. Das liegt auch an unserem Stresspensum: Wenn wir in diese Minuszone kommen, wird es nur noch destruktiv. Ich habe erst spät begriffen, dass das eben auch viel mit Struktur und einem Pensum zu tun hat. Ich dachte immer: "Ja, ich bin nicht gut zu mir … weil ich nicht gut bin." Dass das aber daran lag, dass ich mir zu viel zugemutet habe – darüber habe ich nicht nachgedacht. Und dass es genau dann passiert, wenn ich Dinge mache, die ich eigentlich gar nicht machen will. Man muss lernen, intuitiv in sich hineinzuhören und zu fragen: Wo gehe ich mit? Wo bleibe ich auch bei meinem Nein? Dafür brauche ich persönlich immer wieder Phasen, in denen ich Detox mache – in jeder Hinsicht. Nicht nur ernährungstechnisch, sondern auch menschlich. Manchmal brauche ich einfach Inseln wie eine Art Winterschlaf. Inseln, bei denen alles draußen bleiben muss. Und ich brauche es auch, guten Gewissens Nein zu sagen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es nur noch um Erwartungshaltungen geht. Jedes Nein ist aber auch ein Ja zu dir selbst. Nur setzt all das eben Zeit voraus. Und ich glaube, dass wir selbst auch dafür verantwortlich sind, zu entschleunigen. Gut zu uns zu sein. Manchmal brauchen wir den Druck, das ist ganz klar. Wir sind Krisenmanagerinnen. Und Krisen und Kriege kündigen sich nicht an. Die sind da und dann müssen wir agieren. Deswegen gibt es bei uns kein nine to five oder daily business. Jeder Tag ist anders und kann krass sein. Trotzdem kann man lernen, in dieser Zwischenwelt so etwas wie Sicherheit zu entwickeln.
MZEE.com: Ich finde es wichtig und zeitgleich schwierig, zu lernen, dass man sich immer mal wieder selbst priorisieren muss – ohne das Gefühl zu haben, egoistisch zu sein. Und dass nur, wer immer wieder Pausen macht, auch 100 % leisten kann. Und ich denke, je mehr man sich mit seinem Beruf identifiziert, desto schwieriger wird es. Dann gibt es kein: "Es ist 17 Uhr, ich geh' jetzt nach Hause und die Themen interessieren mich morgen früh wieder."
Düzen Tekkal: Genau. Und dann ist es Samstag. (lacht) Genau das, was du sagst. Also: Leidenschaft, die Leiden schafft. Gerade bei Menschen, die lieben, was sie tun, ist es erst recht wichtig, das zu berücksichtigen. Und sich selbst nicht auszutricksen – sich aber auch nicht austricksen zu lassen. Das fängt schon bei einer Aufwandsentschädigung dafür an, wenn ich einen Vortrag halte. "Das machst du doch gerne – ist ja dein Lebensthema." Ja, das heißt aber nicht, dass er nicht bezahlt wird. Vor allem, wenn Unternehmen anfragen. Es gibt ja noch genug, was man ehrenamtlich macht. Ich möchte nur sagen: Ein gesundes Selbstbewusstsein und Selfcare schützen auch in gewisser Weise. Aber das sind keine Sachen, die einem vorher einer erklärt – die muss man selbst lernen. Und gerade, wenn man in den Abgrund guckt, muss man lernen, damit umzugehen. Es geht schneller, als man denkt … Ich musste zum Beispiel erst den Unterschied zwischen Mitleid, Mitgefühl und schlechtem Gewissen kennenlernen. Auch als Kriegsberichterstatterin habe ich immer aufgepasst, was zuträglich ist und genau überlegt: Wie weit gehe ich? Was will ich sehen? Und wo gucke ich für die eigene Sicherheit vielleicht auch weg? Ob das Kindersoldaten waren oder IS-Überlebende. Es gab Möglichkeiten, in denen mein Journalistinnenherz ganz laut Ja geschrien hat, aber ich als Mensch mich dagegen entschieden habe. Weil ich wusste: Das hat Nachwirkungen, auch seelischer Natur. Und dann hab' ich's gelassen.
MZEE.com: Wir haben vorhin bereits das Thema "Angst" angesprochen. Seit Jahren wird Angst in Bezug auf steigende Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien als ein treibender Faktor bezeichnet. Viele Menschen bekommen wiederum Angst, wenn sie sich aktuelle Wahlergebnisse ansehen. Und wiederum andere arbeiten auf politischer Ebene mit Angst, um ihre Ziele zu erreichen. Was, glaubst du, wären Mittel, um unsere Gesellschaft wieder mehr zusammenzuführen?
Düzen Tekkal: Ich glaube, dass das grundsätzlich mit einer Entscheidung zu tun hat: Wir haben uns für Impact entschieden statt Angst. Ich sage das, weil viele mit dieser Angst-Pädagogik arbeiten. Sie dient ja auch zum Machterhalt und ist das, was Kriegstreiber sich zunutze machen: Despotien, Unrechtsregime und natürlich rechtsextreme, islamistische und faschistische Parteien. Das einzige Kraut, das aus meiner Sicht dagegen gewachsen ist, ist die Währung des Impacts und des Handelns. Die Angst wird größer, wenn wir uns lähmen lassen. Wenn wir Dinge lassen, weil wir Angst haben. Aber der Moment, in dem ich mich den Ängsten stelle, sie überwinde und überlebe – das ist ja immer wieder der Beweis, den man dafür antritt –, stärkt auch das Selbstwertgefühl. Und dieses Zentrum des Widerstands und Mutes. Ich glaube, es ist ganz wichtig zu verstehen, dass Angst eine Währung ist, mit der gearbeitet wird, um zu herrschen. Und dem dürfen wir nicht auf den Leim gehen. Unsere Mitarbeiter:innen werden immer wieder Mutproben ausgesetzt, die der Beruf mit sich bringt. Bei uns gehört es zum Beispiel dazu, dass man unsere Frauenhäuser in Afghanistan besucht. Natürlich würden wir nie jemanden dazu zwingen. Aber jede:r unserer Mitarbeiter:innen, der:die diese Regionen besucht hat, ist erfüllt und ein Stückchen mutiger wiedergekommen. Ich glaube, wir müssen da rein – in die Konfrontation. In erster Linie ist jede:r, der:die rechts wählt, selbst dafür verantwortlich. Ich finde es schwierig, das als Protestwahl zu verklären. Wer die AfD wählt, wählt in vollem Bewusstsein rechts. Und wir haben das viel zu lange schleifen lassen mit: "Wir müssen die verstehen, wir müssen …" Wir müssen gar nichts. Wir müssen jetzt die Demokratie retten. Punkt. Und so radikal, wie die das betreiben, müssen wir das auch machen. Ganz einfach. Und da bringt es nichts, sich in Partikularinteressen zu verlieren – das passiert dann bei den Linken leider sehr oft, was schade ist. Wir müssen an einem Strang ziehen und überlegen, was denn jetzt unsere größte Aufgabe ist. Was verbindet uns als Demokrat:innen? Wogegen müssen wir wirklich kämpfen? Wollen wir uns jetzt gegenseitig bekämpfen oder wollen wir mal anfangen, uns um die wesentlichen Themen zu kümmern? Denn während wir uns hier selbst oder gegenseitig bekämpfen, profitieren ganz andere davon, die sich in die Hände klatschen. Das sehe und beobachte ich gerade mit großer Sorge. Ich hoffe und bilde mir ein, dass da neue Bündnisse entstehen – und das ist genau das, wofür wir uns interessieren. Wir versuchen beispielsweise momentan, einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid:innen zu erwirken. Und dafür brauchen wir Pro Asyl und Leave No One Behind, dafür brauchen wir Menschen, auf die wir zählen können. Das schaffen wir nur gemeinsam. Um auch Druck auf politische Entscheidungsträger:innen auszuüben und diese Selbstwirksamkeit nutzbar zu machen. Das finde ich ganz, ganz wichtig.
MZEE.com: Du hast eben davon gesprochen, dass wir alle unsere Demokratie jetzt schützen müssen. Abseits der politischen Ebene kann man auch selbst im eigenen Umfeld tätig werden: Was sind die Hebel, die wir alle haben, um einen Beitrag zum Schutz der Demokratie zu leisten?
Düzen Tekkal: Ich glaube, es war nie einfacher als jetzt – denn wir sind die fünfte Gewalt. Damit meine ich die Zivilgesellschaft. Es geht um die Bürger:innen, die Selbstwirksamkeit, die Mündigkeit von uns. Darum, dass wir Politik machen. Und dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem wir von unserem Demonstrationsrecht Gebrauch machen können. Wo wir, wenn wir auf die Straße gehen, nicht fürchten müssen, dafür ins Gefängnis zu kommen. Ich möchte das Beispiel von Roya Heshmati nennen: Eine junge Kurdin aus dem Westen des Irans, die sich geweigert hat, das Kopftuch aufzusetzen und dafür 74 Peitschenhiebe bekommen hat. Während sie ausgepeitscht wurde, hat sie immer wieder vor sich hingesungen: "Jin, Jiyan, Azadi." Dann hat sie noch den Mut gehabt, darüber öffentlich auf Facebook zu schreiben und ist daraufhin wieder drangsaliert worden. Wer sind wir, es zu lassen? Und das können wir ja dutzendfach wiederholen. Wenn wir an die Frauen in Afghanistan denken … Sie gehen immer noch auf die Straße, obwohl sie de facto zerstört worden sind. Einfach nur, weil sie Frauen sind, wird ihnen jedwedes Leben genommen, die Hoffnung, die Zukunft. Sie müssen heimlich zum Schulunterricht gehen. Noch mal: Was gibt es bei uns für einen Grund, sitzen zu bleiben? Es gibt keinen einzigen. Und da, glaube ich, können wir uns auch was bei den Marktschreiern abgucken – dass wir das genauso gut können. Aber eben für das Richtige, für das Gute. Das heißt nicht, dass wir uns als bessere Menschen sehen und moralisch einwandfrei sind. Darum geht es nicht. Ich glaube aber schon, dass ein Ruck durch die Gesellschaft gehen muss und wir begreifen müssen, dass all diese Errungenschaften uns verpflichten, die unsere Vormütter und Vorväter erkämpft haben. Auch auf der Basis, auf der unser Grundgesetz entstanden ist – natürlich auch mit dem größten dunklen Kapitel unserer Geschichte. Sie verpflichten uns zu einer Verantwortung. Und die gilt es jetzt, greifbar zu machen. Das ist natürlich alles andere als einfach in Zeiten von Digitalisierung und Interessenvertretung unterschiedlicher Natur und der Tatsache, dass Angst und Gewalt klickt, aber wir müssen da etwas gegensetzen.
MZEE.com: Um für Veränderungen in der Gesellschaft zu sorgen, müssten in meinen Augen deutlich mehr Menschen, die anders denken als man selbst, mit einigen politischen Themen erreicht werden. Dabei habe ich das Gefühl, in der Arbeit, dem Freundeskreis und auch auf Demonstrationen sehr in einer Blase mit Gleichgesinnten zu sein. Wie können wir generell Menschen erreichen, die uns in unseren Ansichten eben nicht besonders ähnlich sind?
Düzen Tekkal: Ich glaube, wir müssen dafür auch das Internet verlassen. Es geht um diese persönliche Macht und Kraft der Begegnung. Mit unseren German Dream-Bussen machen wir ja beispielsweise sehr viel in den neuen Bundesländern. Es geht dabei darum, in den Austausch und Dialog zu gehen, sich etwas zuzumuten. Die schönsten und anstrengendsten Begegnungen sind immer die mit Menschen, die ganz anderer Meinung sind. Denn die Debatte, den Streit, der in unserer Gesellschaft eigentlich immer selbstverständlich war, zuzulassen und da keine Harmonie-Soße draufzupacken oder die Schweigespirale zu füttern, indem wir uns nur noch unter unseresgleichen bewegen – daran wachsen wir ja. Mich interessiert gerade bei Themen, bei denen ich ganz anderer Meinung bin: Warum sieht jemand das anders? Und das einfach auch mit diesem Anspruch an Menschenwürde. Ohne, dass wir anfangen, zu dämonisieren. Ohne, dass wir mit dem Finger auf andere zeigen und sagen: "Die haben es nicht verstanden, die sind dumm!" Denn wir gehen ganz schnell in eine abwertende Haltung, wenn wir uns nicht verstanden fühlen. Ich will diesem ersten Gefühl aber nicht erliegen, sondern trotzdem sagen: "Ok, da geht es um eine andere Form von Identität. Ich will das verstehen, worum geht's da genau?" Meistens steckt ja sehr viel mehr dahinter. Am Ende hat es auch was damit zu tun, dass wir die Probleme nicht lösen. Und es gibt genug Probleme. Denken wir an den Bildungssektor, an das Thema Wohnraum, die soziale Ungerechtigkeit, das Thema Erwerbstätigkeit. Das spielt alles mit hinein. Und ich glaube, die Menschen sind am Ende des Tages gar nicht so schwer zu lesen. Es geht ihnen um Hoffnung, Sicherheit, Perspektiven, Gemeinschaft. Wir sind aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und müssen uns noch konkreter um die Probleme kümmern. Dann kann man dem Populismus auch etwas entgegensetzen. Und ich glaube auch, in unserer Kommunikationsfähigkeit, unserem Agendasetting, dürfen wir ruhig noch radikaler und mutiger werden.
MZEE.com: Mit eurer Bildungsinitiative German Dream werden Wertedialoge an Schulen initiiert. Kurz nach dem 07. Oktober fand ein Schulbesuch statt, bei dem du im Angesicht des Kriegs im Nahen Osten mit palästinensischen und jüdischen Schüler:innen gesprochen hast, um "ihrer Wut Raum zu geben". Wie muss man sich das Ganze vorstellen? Was führt zu einem konstruktiven Dialog, wenn solch unterschiedliche Meinungen und Emotionen aufeinandertreffen?
Düzen Tekkal: Es geht darum, Vertrauen zu schaffen. Das war in einer Phase, in der sehr viele Menschen in Schmerz waren – vor allem die Betroffenen. Es waren junge Menschen, deren Angehörige zeitgleich getötet wurden. Wo der Antisemitismus an Oberhand gewonnen hat, genauso wie parallel die Muslimfeindlichkeit. Es ging darum, mit dieser Würde reinzugehen. Ich kann mich daran erinnern, dass eine palästinensische Schülerin gesagt hat, dass sie vor dem Wertedialog Angst hatte. Weil sie selbst das Gefühl und Vorurteil hatte: Es geht wieder nur um Israel, wir interessieren die Leute nicht und wir werden ja eh alle über einen Kamm geschert. Das hat sie ganz offen und ehrlich gesagt, doch in dem Dialog ist eigentlich das Gegenteil passiert: Es ist für sie und ihren Schmerz sehr viel Raum entstanden. Da sind auch Tränen geflossen. Auch kurdische und iranische Mädchen waren da. Es gab sehr viele selbstkritische Fragen. Und unsere Aufgabe war es, diesen Raum des Vertrauens ohne Bewertung zuzulassen. Dann hat sich der Rest eigentlich von allein entwickelt. Damit haben wir nicht den Nahost-Konflikt gelöst. Aber ich bin mir sicher, dass es bei einigen Schülerinnen und Schülern – genauso wie bei uns – nachgewirkt hat. Und dass auch eine Art Vertrauensraum entstanden ist und ein Gefühl von: "Ich sehe deinen Schmerz." Das ist das, was uns interessiert: dass nicht übereinander, sondern miteinander geredet wird. Und das ist das, was uns bei den Wertedialogen von der Feind-Freund-Bildung im Internet unterscheidet. Deshalb haben wir gerade eine große Nachfrage. Es ist ein Gegennarrativ, das wichtig ist. Es geht um Orientierung, Identitätsstiftung, Heimat. Es geht um Sicherheit. Es geht auch um das Gefühl, ob man gewollt ist oder nicht. Ich glaube, dass bei sehr vielen Menschen gerade ganz viel zusammenbricht – Wut entsteht ja auch durch Angst. Wir arbeiten bei unseren Dialogen mit sehr erfahrenen Pädagogen zusammen und gerade bei jungen Männern sehe ich oft, dass da etwas verwandelt wird.
MZEE.com: Der German Dream wurde heute oft erwähnt – Eko Fresh hat den Begriff mit seinem gleichnamigen Label innerhalb der deutschen HipHop-Szene geprägt. Wir haben mitbekommen, dass du auch einen HipHop-Bezug hast – einerseits hörst du Rap, andererseits hast du Rapper interviewt, die einen ähnlichen Background haben wie du. Und du hast zu Beginn des Interviews schon die Parallelen zwischen der HipHop-Kultur und deiner Arbeit als Aktivistin erwähnt. Kannst Du sie noch ein wenig mehr ausführen?
Düzen Tekkal: Auf jeden Fall. Die HipHop-Kultur ist ja auch eine Antwort auf Missstände. Auf Zustände, die man nicht mehr akzeptiert hat. HipHop ist ja Politik. Eigentlich eine der wichtigsten Währungen gegen Rassismus. "Eigentlich", weil ich manchmal das Gefühl habe, dass es vergessen worden ist. Und das große Denken und Träumen … Ich denke schon, dass es Parallelen gibt. Die Idee vom German Dream, die damals durch Eko Fresh ins Leben gerufen wurde, ist auch die Idee hinter dieser Bildungsbewegung. Dass wir ein kollektiver German Dream sind und gemeinsam die German Angst überwinden müssen. Und dass das auch oft Gruppen sind, die aus marginalisierten Verhältnissen kommen, aber was aus ihrem Schicksal gemacht haben. Die mit ihrer eigenen Kraftanstrengung da rausgekommen sind. Was die Gesellschaft nicht von einer grundsätzlichen Verantwortung entbindet. Was uns verbindet, ist vielleicht die Wut über die Missstände. Aber es geht darum, wie wir Wut in Mut und Kraft kanalisieren. Keine destruktive Wut, sondern: Wie kann ich dieses Energiefeld aufmachen, um damit etwas zu verändern? Deswegen sehe ich da wahnsinnig viele Parallelen. Und mein Tag beginnt morgens immer mit HipHop-Musik. (lächelt) Das pusht mich auch. Das ist etwas, was ich brauche und mir abgeguckt habe. Wenn man nach Amerika guckt, kann man vieles kritisieren und ich möchte es auch nicht verklären. Aber ein Bild mag ich: das "Groß-Denken" und das Schicksal in die Hand zu nehmen. Und was zu versuchen, nicht zu warten. Das gefällt mir und ich finde, wir brauchen mehr von diesem German Dream-Spirit.
MZEE.com: Wir haben nun viel darüber gesprochen, was du aus deinem Leben gemacht hast und geworden bist. Zum Abschluss würden wir gerne noch einen Blick in deine Vergangenheit werfen: Was war dein größter Traum als Kind und was wolltest du werden?
Düzen Tekkal: (lächelt) Ich weiß, es klingt wie ein German Dream, aber ich wollte genau das werden, was ich heute bin. Ich wollte gesehen und gehört werden. Und ich hab' nie Grenzen akzeptiert. "Das geht nicht" war der Satz, der mich immer getriggert hat. Ich will der Welt zeigen, dass es geht. Es geht alles. Und dafür muss man auf jeden Fall viel kämpfen, viel riskieren und viel Zeit investieren. Aber das ist genau das richtige Leben. Als ich klein war, hab' ich von genau diesem Leben geträumt, das ich jetzt führen darf – gemeinsam mit meinen Schwestern. Das heißt: Wir teilen unsere Kindheit, aber auch unsere Träume und hoffentlich auch unsere Zukunft. Und versuchen, auch vorzuleben, was es bedeutet, an großen Träumen festzuhalten. Das ist nämlich nichts für Feiglinge und darf sich nie um sich selbst drehen. Was ich beschreibe, ist wirklich egolos. Es geht auch um Kraft und Macht, die wir erlangt haben, die dienend ist und die wir zur Verfügung stellen, damit alle anderen sich auch ihren German Dream erfüllen können. Und da eine Möglichkeitsinsel zu sein. Ich bin sehr stolz darauf und dankbar, dass wir bei HÁWAR mit so tollen Persönlichkeiten zusammenarbeiten und vielleicht einen kleinen Beitrag dazu leisten dürfen, dass andere auch ihren individuellen German Dream erreichen können.
(Florence Bader & Sven Aumiller)
(Fotos der Reihe nach von Johannes Arlt, Jesco Denzel & Paul Küster)