Da Musik bekanntlich Geschmackssache ist, würde man auf die Frage nach prägenden HipHop-Alben wahrscheinlich sehr unterschiedliche und individuelle Antworten erhalten. Dennoch würden bestimmte Alben wohl häufiger genannt werden als andere. Manche Platten schaffen es schließlich, bei nahezu jedem einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie prägen ihr Genre nachhaltig und wirken sich direkt oder indirekt auf die Musik anderer Künstler:innen aus. Was aber macht diese Alben so besonders? Sicher ist es vor allem wichtig, alte Muster zu durchbrechen und einen neuen Weg vorzugeben. Dabei ist es essenziell, den ganz eigenen Sound zu finden. Eine standardisierte Antwort gibt es hierfür aber wohl nicht. Einfluss gilt es, stets individuell zu betrachten – und ein Blick in die Geschichte des einflussreichen Raps lohnt sich. Dieses Mal mit einem der ikonischsten Experimental HipHop-Alben: "The Money Store" von Death Grips.
Abseits des Weges
Experimental HipHop ist ein seltsames Genre. Wer in Plattenläden stöbert oder durch Musikforen scrollt, stolpert sicher öfter über diesen Begriff. Doch neben bekannten Kategorien wie Trap oder Boom bap wirkt Experimental HipHop etwas deplatziert. So richtig einordnen kann man das Genre nicht. Die meisten scheitern wohl schon an der Frage: Was ist Experimental HipHop eigentlich? Denn die Antwort ist gar nicht mal so einfach zu finden. Die simpelste Definition ist wohl die der Abgrenzung: Experimental HipHop ist alles, was sich den Konventionen von klassischen Rap-Tracks widersetzt. Daher wird das Sub-Genre oft auch einfach als Alternative HipHop bezeichnet.
Die Anfänge liegen in den späten 80er Jahren. Zu den ersten Releases zählen Klassiker wie "3 Feet and Rising" von De La Soul oder das Debütalbum von A Tribe Called Quest, "People's Instinctive Travels and the Paths of Rhythm". Zu dieser Zeit ist Rap zwar schon ein Begriff, aber kein wirklich definierter. Somit ist es leicht, neue Wege zu gehen und das Release eines Rap-Albums ist schon fast eine Besonderheit an sich. Doch 30 Jahre später hat sich einiges geändert: Im Jahr 2012 ist Rap eines der beliebtesten Genres und unerforschte Gebiete weichen Trampelpfaden. Wie man das Rad trotzdem neu erfindet – oder eher kaputt haut –, zeigen Death Grips mit ihrem Debütalbum "The Money Store" eindrucksvoll.
Die Bandgeschichte
Death Grips sind, damals wie heute, ein ziemliches Mysterium und erscheinen 2011 das erste Mal auf der Bildfläche. Über die drei Bandmitglieder ist wenig bekannt. Ein paar Anhaltspunkte gibt es aber trotzdem: Der treibende Kern der Band, Zach Hill, wird am 28. Dezember 1979 geboren. Über seine Kindheit weiß man kaum etwas, jedoch beginnt er ungefähr im Jahr 1995 mit dem Schlagzeugspielen, was er sich selbst beibringt. Vier Jahre später spielt er dann das erste Mal in einer Band, Legs on Earth, zusammen mit dem E-Gitarristen Spencer Reim. Als sich diese jedoch im April 2000 auflöst, beschließen Zach Hill und Spencer Reim, als Duo weiterzuspielen. Sie gründen die Math Rock-Band Hella. Dabei widmen sie sich weniger konventionellen Soundbildern und experimentieren von Release zu Release immer mehr. Es entstehen Projekte wie das Doppel-Solo-Album "Church Gone Wild/Chirpin Hard", bei welchem Zach Hill und Spencer Reim jeweils eine Disc des Albums befüllen. Dabei ist Zach Hills Anteil eine komplette Solo-Produktion, die primär auf Noise setzt. Klassische Instrumente wie Gitarren weichen Geräuschen und verzerrten Samples, denn Hill entwickelt sich immer mehr zum Multi-Instrumentalisten.
So spielt er unter anderem auch noch Bass, Keyboard, Trompete oder Sampler – am bekanntesten ist er allerdings als ein wilder und masochistischer Drummer. "I want it to be biting me, grating on me while I'm doing it", gesteht er in einem Interview für das Buch "The Drum Thing", im Hinblick auf seinen Spielstil. Auch bemerkenswert ist die gigantische Auswahl an Bands, in denen Zach Hill über die Jahre spielt. Bei einer dieser vielen Zusammenarbeiten lernt er den Producer und Soundengineer Andy Morin kennen, der viele von Zach Hills Projekten koproduziert. Diese Einflüsse sind maßgeblich bei der Entstehung der Band Death Grips.
Zwar bleiben viele Details über Death Grips unbekannt, allerdings verdichten sich die Spuren an einem Ort: Sacramento, Kalifornien. Dort wohnt Zach Hill Ende der 2000er und lernt seinen Nachbarn, Stefan Burnett, kennen. Die beiden verstehen sich gut, denn Stefan Burnett ist auch Musiker. Schon zehn Jahre zuvor rappte er unter dem Namen Mxlplx in der Gruppe Fyre. Den beiden wird schnell klar: Sie haben ein "mutual desire to do new things with rap music". Für diese Mission greift Stefan Burnett erneut zum Mikrofon und nimmt das Pseudonym MC Ride an. Neben MC Ride als Frontmann und Zach Hill als Producer und Drummer kommt noch Hills Freund Andy Morin hinzu, der die Produktion mitgestaltet. So entsteht der erste Song am 21. Dezember 2010, dem Gründungstag der Band.
Mission Statement Death Grips
Death Grips entstehen aus dem Verlangen, Rap in neue Richtungen zu lenken. Das Trio nimmt den ersten Song "Full Moon (Death Classic)" in Sacramento auf – ohne Studio. "Being that we were all broke, we started crafting our sound the only place we could … where we were at the time", erklärt Stefan Burnett in einem der seltenen Interviews. So ist der Song vor allem eins: rough. Es scheint, als wolle die Band ihr Publikum verjagen, bevor es überhaupt eins gibt. Auch Zeilen wie "Course I'm just fuckin' around, but nevermind the way it sound, everytime we make it pound, straight into the pavement now" geben Einblicke in den musikalischen Ansatz der Band. MC Ride schreit diese Zeilen in den chaotischen Mix aus Vocal-Glitches und Drum-Sounds, die wie heftige Schläge auf Schreibtische klingen. Das Ergebnis der Session überzeugt die Bandmitglieder und das Mission Statement der Band ist gesetzt. Sie veröffentlichen den Song zusammen mit ihrer nach sich selbst benannten EP am 8. März 2011. Allerdings ist die EP nur der Anfang. Direkt einen Monat später folgt das Mixtape "Exmilitary", das in Musikforen und Internet-Boards wie 4chan rasch an Beliebtheit gewinnt. Gerade die Lead-Single "Guillotine" und deren Musikvideo sorgen für Aufsehen. Es wächst eine Fanbase um die wütende, um sich schlagende Band.
Von einer Nischenband zu Major Artists
Den andauernden Lärm aus dem Musikuntergrund bemerken aber nicht nur Musikredaktionen und Nerds. Das Musikvideo zu "Guillotine" weckt auch das Interesse von Personen in hohen Positionen der Musikbranche. So kommt es zu einer unerwarteten Begegnung: Angelica Cob-Baehler, Vice-President of Marketing des Labels Epic Records, trifft sich mit der Band. Doch im Gegensatz zu ihrem rebellischen Image reagiert das Trio positiv auf die Vorschläge des Labels. In nur fünf Stunden wird ein Deal ausgearbeitet: Death Grips sind jetzt Major Artists; bei einem Label, das Künstler:innen wie Katy Perry oder Future unter Vertrag hat. Jedoch wird das Chaos dadurch nicht gebändigt, sondern nur unterstützt. "We're in control. […] [Epic] is here to help us with what we say we need help with. And that's how it's going down", kommentiert Zach Hill das Signing später. Die Fans bekommen davon erst mal nichts mit. Erst nach dem Release zweier Singles verkündigt die Band ihr Signing bei Epic Records sowie ihr Debüt-Album "The Money Store". Insgesamt sollen aber zwei Alben erscheinen, beide noch im Jahr 2012.
Nach der Ankündigung sind die Erwartungen groß: Was passiert, wenn eine Band wie Death Grips von einem Major Label Geld bekommt? Doch Angst vor einem angepassten Sound haben die Fans nicht. Death Grips bleiben sich treu, das beweisen die ersten beiden Singles "Blackjack" und "Get Got". Sie führen das aggressive und bizarre Wesen der Band weiter fort. Auch die Musikvideos bleiben weiterhin kryptisch und DIY.
Generell merkt man dem Rollout des Album nicht an, dass die Band von einem Major Label vertreten wird. Doch das braucht es auch nicht, denn die Singles überzeugen sowohl Fans als auch die Kritik. Die fünfte Singleauskopplung, "I've seen Footage", wird vom Szene-Magazin Pitchfork sogar als "Best New Music" bezeichnet. Insgesamt scheint für Death Grips alles perfekt zu laufen. Selbst ein Leak des kompletten Albums, zehn Tage vor dem geplanten Release, passt perfekt zum Image der Band. "The Money Store" schlägt in die HipHop-Szene ein.
Eine neue Art des Samplings
Trotz der fünf Singleauskopplungen überrascht das Album mit jedem seiner 13 Tracks. "The Money Store" beginnt mit der Single "Get Got" verhältnismäßig ruhig. Das Instrumental zeigt aber: Produktionstechnisch muss sich die Band vor niemandem verstecken. Gerade die verwendeten Samples machen den Song interessant. Das Main-Riff des Tracks samplet Papitos "Yereyira" von dem Album "Music from Saharan Cellphones". Der Titel des Albums ist dabei wörtlich zu nehmen: eine Kompilation aus Songs, die auf Handys in der Sahara-Wüste gefunden wurden. Es ist der erste Hinweis auf die vielen unorthodoxen Samples, die auf dem Album verwendet werden. Zum Beispiel sampelt das Trio auf dem Track "System Blower" die Schreie der Williams-Schwestern Venus und Serena bei einem Tennisspiel oder die Geräusche des Vancouver SkyTrain. Sogar Zach Hill selbst gibt zu, dass der Prozess dahinter verrückt ist: "We're sampling our day-to-day along with the filthiest things off of YouTube and trying to build powerful music out of all this stuff that's usually seen as trash." Aber auch Legenden wie Jimi Hendrix oder John Lennon werden verzerrt, gepitcht und in einen neuen Kontext gerückt. Diese neue, brachiale Art von Sampling gibt dem Album einen ganz speziellen Klang.
Die Produktion spiegelt aber vor allem die Umgebung der Band wider: die Stadt Sacramento. Die Heimatstadt der Band ist richtungsweisend für den Sound des Albums. MC Ride beschreibt Sacramento als eine "slow but watch your back kind of town stuck inside the downward spiral of a never ending Twin Peaks trip". In Interviews rund um das Jahr 2012 spricht die Band immer wieder von einem exemplarischen Vorfall: Eine Frau ließ sich köpfen, indem sie ihren Kopf auf die Bahngleise legte. Es ist eine von vielen düsteren Geschichten, welche die Band soundtechnisch zu verarbeiten scheint. Während der Produktion des Albums trägt jedes der Bandmitglieder einen Camcorder mit sich, um spontan Geräusche aufzunehmen. Dabei entstehen Instrumentals, die überladen, zusammengeworfen und verzerrt wirken. Doch hört man genauer hin, bemerkt man Strukturen im Chaos. "You hear our songs, it's not distorted at all, it's crystal clear. There's just a lot going on in there", erklärt Andy Morin, der Soundengineer der Gruppe. Unterstützt wird die samplelastige Produktion noch durch eine Mischung aus synthetischen und realen Percussion-Elementen. Eine Stil-Entscheidung, die Zach Hill nicht leicht fällt. Denn um das Album stärker wirken zu lassen, werden die Drums simpler – eine harte Übung für den notorisch wilden und technischen Drummer, der auf diesem Album mit seinem Schlagzeuger-Ego kämpft.
Geplantes Chaos
Die lauten und verzerrten Instrumentals lassen fast keinen Platz mehr für die Vocals des Frontmanns. Dabei hat es auf dem Album den Anschein, als rappe MC Ride um sein Leben. Das Album beginnt mit kaskadenartigen Flows auf "Get Got". Der Track beschreibt die mentale Gesundheit des Rappers: "Losin' myself, I get the stares, what I'm lookin' at, wasn't there." Die Lyrics springen skizzenhaft von Drogenmissbrauch zu bewaffneten Raubüberfällen und Autodiebstählen. Dabei ist nie geklärt, was Realität und was Imagination ist. "How'd you know? Cause I was there", beteuert Ride im zweiten Song "The Fever (Aye Aye)". Eine Sinnesflut an Eindrücken beginnt – stellvertretend für das gesamte Album. MC Ride schreit und kämpft mehr mit dem Instrumental, als darüber zu rappen. Doch trotz der manischen, Spoken Word-artigen Performance des Rappers fühlt sich das Album nicht orientierungslos an. Blickt man hinter die Fassade, so hat nahezu jeder Song gängige Songstrukturen und Hooks. Letztere haben zudem einen ungeahnten Ohrwurmfaktor.
Neben der Heimatstadt Sacramento spielt auch das Internet eine große Rolle auf dem Album. Der Track "I've seen Footage" beschreibt die Auswirkungen, die das Internet als Tor zu nahezu allem haben kann. Die titelgebende Zeile "I've seen Footage" stammt dabei von einem Obdachlosen in Sacramento namens Snake-Eye. Dieser behauptet, Videos von Strukturen und Bauten auf dem Mond gesehen zu haben. Die Aussage des Tracks: Ein Ort, an dem man TED Talks und ungefilterte Pornographie gleichzeitig konsumieren kann, macht Menschen "noided", also paranoid. "And people are doing both those things at once. We want our music to work the same way: all at once", erklärt Drummer Zach Hill. Das Wort "noided" wird schnell zum Erkennungszeichen der Fans, vor allem im Internet. Auch der letzte Song "Hacker" ist dem Internet gewidmet. Er ist das Ergebnis des rund 40-minütigen Gewaltrausches des Albums und steckt voller popkultureller Referenzen und überheblichen Zeilen über das Trio.
Nach dem Sturm
Dieser krönende Abschluss des Albums wird auch prompt ausgezeichnet. Pitchfork ernennt "Hacker" direkt nach Release des Albums zur "Best New Music", genauso wie auch das Album. Das Magazin beschreibt das Release als "about as intellectual an experience as a scraped knee. But it's just as good at reminding you that you're alive." Doch auch andere Musik-Outlets sind überzeugt. Anthony Fantano, der im Internet wohl mittlerweile beliebteste Musikkritiker, gibt dem Album auf seinem YouTube-Kanal seine erste 10 von 10. Es ist das erste Album, das eine perfekte Bewertung von ihm erhält. Währenddessen bildet sich um die Band eine treue Fanbase, ein regelrechter Kult. Darunter sind auch einige Prominente wie Robert Pattinson, Iggy Pop oder Tyler, the Creator. Death Grips erreichen einen ungeahnten Bekanntheitsgrad. Der Major Deal mit Epic Records scheint ein voller Erfolg zu sein – allerdings nicht für lange Zeit.
Denn eigentlich muss auf so ein erfolgreiches Album eine Tour folgen, doch diese wird abgesagt. Das Trio will sich nur auf ihr zweites Album, "No Love Deep Web", fokussieren. Immerhin hatten sie ihren Fans zwei Alben im Jahr 2012 versprochen. Als das Label jedoch das Release des Albums verschieben will, kommt es zu einem Streit. Wie "The Money Store" wird auch "No Love Deep Web" vor Release geleakt – dieses Mal jedoch von der Band selbst. Das Cover der LP zeigt den erigierten Penis des Drummers Zach Hill, auf welchem, mit Edding geschrieben, der Albumtitel steht. Daraufhin trennt sich Epic Records von der rebellierenden Gruppe. Death Grips agieren fortan independent.
"The Money Store" beeinflusst Experimental HipHop maßgeblich, denn es legt unter anderem den Grundstein für das Album "Yeezus" von Kanye West, das ein Jahr später erscheint. Aber auch generell bewegt sich Experimental HipHop mehr und mehr in die Industrial- und Noise-Richtung. Künstler:innen wie Danny Brown oder JPEGMafia wären ohne diese Vorarbeit undenkbar. Doch auch Künstler:innen fernab von Rap sind beeindruckt: David Bowies Kollaborateur und Saxophonist Donny McCaslin nennt Death Grips als eine der Inspirationen für Bowies letztes Album "Black Star". Ein Album, auf dem sich David Bowie exzessiv mit seinem eigenen Tod beschäftigt.
"The Money Store" steht für "the glorification of the gut". Genau das macht das Album so einzigartig und damit unersetzbar. Sei es die verrückte Sample-Arbeit oder der gewaltvolle Rapstil von MC Ride: "The Money Store" verwendet HipHop-Konventionen, um sich von HipHop abzugrenzen. Damit ist das Album die Definition von Experimental.
(Fejoso)
(Grafik von Daniel Fersch)