Quo Vadis, Hafti Abi?
An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Schwache Alben, merkwürdige Auftritte in der Öffentlichkeit: Haftbefehl scheint sein goldenes Händchen der vergangenen Jahre verloren zu haben. Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Simon mit dem Bild auseinander, das man in letzter Zeit von Haftbefehl bekommen könnte.
Kürzlich hat die Berliner CDU mit ihrer Wahlwerbung für Aufmerksamkeit gesorgt. Die bisherige Oppositionspartei plakatierte die Hauptstadt großflächig mit dem Slogan: "Was Kriminelle bald häufiger hören: Haftbefehl." Soweit, so klassisch reaktionär. Spannend wird die Werbung erst durch die Haftbefehl-Referenz. Im offensichtlichen Versuch, jünger und aktueller zu wirken, biedert sich die Partei bei der größten Jugendkultur unserer Zeit an. Mit einem Humor, der schon 2010 nicht lustig war. Noch merkwürdiger wird das Szenario, wenn der erwähnte Rapper selbst die Gratiswerbung mitnimmt und auf Social Media positiv-neutral mit Repostings und Likes reagiert. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Haftbefehl, der Interpret von Songs wie "CopKKKilla", feiert Werbung für mehr Polizei und eine härtere Justiz. Im Kontext der medialen und politischen Aufarbeitung der Berliner Silvesternacht, bei der vor allem männliche, migrantisierte Jugendliche ins Fadenkreuz gerückt sind, wird das Ganze noch absurder. Wie sehr kann man eigentlich seine eigenen Inhalte und Fans missachten? Auch andere Eskapaden und musikalische Ausfälle lassen vermuten: Der Offenbacher Rapper scheint nicht nur promotechnisch ein Stück weit den Boden unter den Füßen verloren zu haben.
Um die Entwicklung zu verstehen, lohnt es sich, den Weg des Rappers im Schnelldurchlauf Revue passieren zu lassen. 2009 gibt es das erste größere öffentliche Lebenszeichen. Auf dem Song "Unter Tatverdacht" stiehlt er dem eigentlichen Protagonist Criz die Show und droppt mit "Gestern Döner, heute argentinisches Steak" mal ganz nebenbei die inoffizielle Zeile des Jahres. 2010 folgt mit "Azzlack Stereotyp" ein unglaublich starkes Debüt, das andeutet, wie mannigfaltig Haftbefehl Sprachen und Dialekte verbinden, fusionieren und neu verknüpfen kann. "Kanakiş" setzt diese Entwicklung konsequent fort und mit dem Song "Chabos wissen wer der Babo ist" auf dem Album "Blockplatin" ist die Entwicklung zum Superstar abgeschlossen. Im Kontext von "Russisch Roulette" schließlich erreichen positive mediale Rezensionen, musikalische Kunstfertigkeit und Hype auf den Pausenhöfen in Unis und Schulen ihren Höhepunkt zum größten Deutschrap-Album der vergangenen Dekade. Außerdem: Ein Album mit Xatar, die Entdeckung beziehungsweise Wiedererweckung von Rappern wie Celo & Abdi, Hanybal, Chaker und Soufian, Liebling des Feuilletons, Frankfurts subkultureller Repräsentant. Die Geschichte von Haftbefehl ist die ersten sieben bis acht Jahre nur von Erfolgen bestimmt. Der Rapper setzt musikalische Maßstäbe, alles ist innovativ, Ausrutscher werden im Zweifel irgendwie als große Kunst gerebrandet. Im Prinzip kann Haftbefehl nichts falsch machen.
Meine Vermutung ist, dass seit 2016 drei Dinge passiert sind. Zum einen ereilt Haftbefehl der "Detox"-Fluch. "Russisch Roulette" ist ein derartiger Meilenstein, dass die Erwartungen an das nächste Soloalbum mit jedem Monat ohne Release weiter in den Himmel wachsen konnten. Eine Messlatte, an der man eigentlich nur scheitern kann. "Das weiße Album" hört sich auch dementsprechend an. Die Musik ist an sich so stark wie eh und je, aber bei jedem zweiten Song ahnt man, dass hier versucht wird, das "Russisch Roulette"-Erfolgsrezept zu kopieren. Musikalisch hat sich Haftbefehls Kunst scheinbar auserzählt. Man kennt die Geschichten, die Sprüche und sogar Reime inzwischen schon. "Das schwarze Album" und "Mainpark Baby" stellen das unter Beweis. Der jahrelange Erfolg und die durchaus berechtigten Lobeshymnen scheinen zudem dafür gesorgt zu haben, dass sich der Rapper im persönlichen Kreis nicht mehr kritisieren lässt. Nicht mal unbedingt, weil der Offenbacher keine Kritik verträgt. Aber wenn zehn Leute um dich herum sind, die du mehr oder weniger groß gemacht hast, die deinen musikalischen Pfaden folgen, wie sollen dir die Personen auf Augenhöhe begegnen, wenn es mal um unangenehme Themen geht? Der abgebrochene Auftritt im Sommer aufgrund von zu viel Lachgas stützt diese These. Auch die mediale Rezeption der Kunstfigur Haftbefehl dürfte da nicht geholfen haben. Der Artist wurde vom vielversprechenden Newcomer zum Sprachgenie zum Sprachrohr für die Unterdrückten verklärt. Die Kunstfigur wurde überhäuft mit Erwartungen und damit einhergehender Verantwortung, sich zu politischen und gesellschaftlichen Themen den Erwartungen entsprechend zu verhalten. Diese lassen sich aber nie erfüllen, erst recht nicht, wenn man gar nicht der nächste Schlingensief, sondern "nur" ein sehr guter Rapper ist.
Dieses Konglomerat aus musikalischer Stagnation, Kritikunfähigkeit aus dem eigenen Camp und eine medial über alle Maßen überfrachtete Kunstfigur sorgt für das merkwürdige Bild, das der Künstler Haftbefehl aktuell abgibt. Auf der einen Seite ist mir alles egal, weil: Ich bin eh der Krasseste. Auf der anderen Seite wird die Aufmerksamkeit aber auch um jeden Preis eingefordert. Dass hinter der Marke "Haftbefehl" mutmaßlich inzwischen eine ganze Armada an PR- und sonstigen Berater:innen steht, kommt wahrscheinlich noch erschwerend hinzu. Haftbefehl ist zurück von seinem jahrelangen Höhenflug und dass er noch mal so ein Momentum wie 2015 erwischt, ist mehr als unwahrscheinlich. Die immer langweiligere Musik und das teilweise bizarre Verhalten in digitaler und analoger Öffentlichkeit bieten da wenig Anlass zur Hoffnung. Und Dinge wie die immer plumper und ekelhafter sexistisch werdenden Texte sind dabei noch gar nicht angesprochen worden. Privat bleibt dem vielleicht letzten Rockstar im Deutschrap nur das Beste zu wünschen. Musikalisch und als Kunstfigur hingegen ist erst mal nichts Großes mehr von Haftbefehl zu erwarten.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)