"Ich hasse deutschen Rap, echt, ich hör' nur noch Electro. Selbst jetzt, wo ich rappe, läuft im rechten Ohr Techno", textet Berliner Urgestein Mach One auf seinem 2012 erschienenen Track "Topfpflanze". Dabei schließt das eine das andere gar nicht aus: Mitte der 70er Jahre entstehen in New York HipHop und Rap, Anfang der 80er in selbiger Stadt sowie Chicago der Musikstil House. Noch ein paar Jahre später erblickt in Detroit das maschinellere Genre Techno das Licht der Welt. Neben den nahe beieinander liegenden Geburtsdaten sind Rap und die elektronischen Stile mit dem typischen 4-to-the-floor-Rhythmus aber auch durch gemeinsame musikalische Vorfahren wie die Disco-Musik verbunden.
In den folgenden Jahren gehen die beiden Genres immer wieder gemeinsame Wege: Künstler:innen verbinden sie in ihrer Musik und Stars der jeweiligen Szenen arbeiten in Songs zusammen und feiern damit Erfolge. So stürmt 1989 die Band Technotronic mit ihrem HipHop-House-Track "Pump Up the Jam" die Charts diverser Länder, zehn Jahre danach sind es Crews wie die Bomfunk MC's, die auf "Freestyler" über elektronische Breakbeats rappen. Aktuell ist diese Genre-Fusion besonders spürbar, auch in Deutschland: Hier rappen derzeit sowohl New Wave-Vertreter:innen wie 01099, BHZ und Layla als auch ein "alter Hase" wie Tarek K.I.Z des Öfteren über House- und technoide Beats. Und auch Weltstars wie Beyoncé und Drake veröffentlichen 2022 komplette House- und Dance-Alben. Begünstigt wird das Ganze wohl durch einen allgemeinen Techno-Trend, der gerade bemerkbar ist. International, aber auch hierzulande breit vertreten bietet das Geschehen spannende Künstler:innen, Szene-übergreifende Kollaborationen sowie ganze Langspieler, die Rap und elektronische Genres verbinden.
TikTok- und Mode-Trends
Die "Elektrifizierung" der Musik von so manchen Künstler:innen hat sicher auch mit dem Aufstieg einer Social Media-Plattform zu tun: Auf TikTok gehen Techno-Remixe oder schnellere Versionen bekannter Songs viral und Outfit-Inspirationen und Tanz-Anleitungen werden in die Feeds gespült. Der Raver:innen-Look ist Modetrend, insbesondere ein Accessoire: die schnelle Brille. Parallel zum Revival der 90er und 2000er Jahre entdeckt die junge Generation die trashigen Sonnenbrillen für sich – dabei können sie nicht extravagant genug sein. Die Brillen sind nicht nur auf Rave- und Techno-Veranstaltungen, sondern auch in einigen deutschen Rap-Videos zu sehen. Prominente Beispiele sind Ski Aggu und 01099. Erstgenannter macht sich seine riesige Skibrille zum Markenzeichen und die Rap-Crew aus Dresden widmet der Modeerscheinung dieses Jahr sogar ein eigenes Lied: "Schnelle Brillen und wir sind im Modus, Leute tanzen und ich gebe Turbo."
Deutscher Rap und elektronische Musik
01099 rappen auf genanntem Song über einen Trance-Beat, ein EDM-Genre, das Anfang der 90er Jahre entstand. Doch die Kombination von elektronischen Musikstilen und deutschem Rap ist nicht neu. Schon in der Vergangenheit bedienten sich Rapper:innen verschiedenster elektronischen Genres: Frauenarzt und Manny Marc landen als Die Atzen Ende der 2000er Jahre mit ihren Songs zwischen Partyschlager und EDM mehrere Hits. Diverse Künstler:innen bedienen sich Anfang der 2010er Jahre der Dubstep-Ästhetik, andere fahren die Drum 'n' Bass-Schiene, etwa Rapper Metrickz auf seinem 2013 erschienenen Debüt-Album. Auch Deichkind berappen im Lauf ihrer Karriere immer wieder Electro-Instrumentals. Und Ende des letzten Jahrzehnts probieren sich Künstler:innen wie ODMGDIA und TheDoDo in Psytrance und Goa aus, während zeitgleich FiNCH, damals noch mit dem Nachnamen ASOZiAL, auf Gabber- und Hardcore-Pfaden wandelt. Aktuell nutzen viele Künstler:innen vor allem aber "vibige" House-, Techno- und Trance-Instrumentals.
Statt sporadischer elektronischer Ausreißer gibt es in der deutschen Rap-Landschaft in den letzten zwei Jahren eine regelrechte Flut an Songs, die über solche Beats – weit weg vom klassischen Boom bap oder Trap – gerappt werden. Kein Wunder, hat doch die junge Generation nach der durch die Pandemie bedingten Party-Pause Bock auf Feiern, schnelles Tempo und tanzbare, gute Laune bereitende Beats. Diese Mentalität steckt auch in den Köpfen der – vor allem jungen – Künstler:innen selbst: "Ich war feiern und hab' darüber Texte geschrieben", sagt Ski Aggu in einem Backstage-Interview. Den inoffiziellen Startschuss für den Stil – die Mischung aus Rap und "vibigen" technoiden Beats – gibt wohl Pashanim mit seiner 2020 erschienenen Single "Airwaves". Songs, die einen ähnlichen Vibe entstehen lassen folgen: "Mucho Gusto" von viko63 und penglord, "INZIDANCE" von $OHO BANI und Longus Mongus oder "Nachts wach" von makko und Miksu/Macloud, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Neben New Wave-Künstler:innen berappen auch Musiker:innen, die schon schon lange in der Musiklandschaft etabliert sind, House-Beats – etwa Fatoni auf dem von Dexter produzierten "FEELING" oder Tarek K.I.Z auf "Hartz 4" über ein Instrumental der Drunken Masters.
Rückbezüge zu alten Klassikern dürfen analog zu 2000er-Trends auf TikTok natürlich auch nicht fehlen. Dennis Dies Das etwa geht zusammen mit Whitey en vogue und Robbensohn zurück in diese Zeit und samplet auf "Bass" Kylie Minogues Klassiker "Can't Get You Out of My Head", während der bereits genannte Ski Aggu sich auf "Party Sahne" Caesars' "Jerk It Out" vornimmt. Auch deutsche Klassiker werden dabei ausgegraben: Aus Hanna Noirs "Clubangst" lässt sich "Luftbahn" von Deichkind heraushören. Hier greift wohl auch die Tatsache, dass viele der genannten Musiker:innen in den 2000er Jahren aufgewachsen sind und sich gerade nostalgisch darauf zurückbesinnen.
Und die internationalen Stars?
Im Juni 2022 veröffentlicht Drake überraschend sein siebtes Studioalbum "Honestly, Nevermind". Der Langspieler besteht zum Großteil aus Dance-Tracks, worauf zunächst gemischte Reaktionen der Fans durch den neuen Sound des Rappers folgen. Doch besonders der Track "Massive" stellt sich nach und nach als Hörer:innen-Liebling heraus. Der Song regt nach seinem langen Intro mit einem Piano-Drop zum Tanzen an. Ende Juli erscheint dann das ebenfalls siebte Studioalbum von Sängerin Beyoncé und auch hier erwarten die Fangemeinschaft Tanzmusik und House-Klänge, etwa auf dem vor Release als Single ausgekoppelten Song "Break My Soul". Auch für Beyoncé gab die Pandemie Anlass zu ihrem neuen Sound. In einem Statement zum Album verrät sie: "Creating this album allowed me a place to dream and to find escape during a scary time for the world. It allowed me to feel free and adventurous in a time when little else was moving." Außerdem widmet sie die Platte den nicht ausreichend gewürdigten Pionier:innen der Schwarzen Tanzmusik. Auch Rap aus Großbritannien erhält den technoiden Anstrich. In diesem Bezug sticht der australische Produzent Skin On Skin hervor, der beispielsweise Skeptas und JMEs Hit "That's Not Me" remixt oder auf seiner Single "Burn Dem Bridges" dank eines Vocal-Samples der Rapper Sav'O und Horrid1 Techno und Drill fusioniert.
Mehr als Sommer
Dass das Verschwimmen von elektronischer Tanzmusik und Rap in der deutschen Musiklandschaft mehr als nur eine Reihe von Sommerhits werden könnte, merkt man an verschiedenen Aspekten. Beispielsweise, dass vermehrt Künstler:innen der beiden Szenen miteinander kollaborieren. So etwa Pashanim, der bereits mehrfach mit dem Berliner Techno-Produzenten Kev Koko zusammenarbeitete. Oder Schnelle-Brillen-Träger Ski Aggu, der Beats von den Newcomern Southstar und DJ Schinkensuppe bekam. Apropos DJs: Cashmiri alias Miriam Davoudvandi oder Josi Miller, die sich viel in der HipHop-Welt bewegen, spielen in ihren Sets House-Remixes von Haftbefehl oder andere elektronische Songs mit schnellem Tempo: "Mir macht es mega Spaß, Sachen mit 150 BPM aufzulegen und alle ausrasten zu sehen", erzählt Josi Miller im MZEE Interview. Und Remixe von Rap-Songs kommen auch in der Techno-Szene gut an: Produzent DJ Yarak sampelt auf "In Meinem Block" Untergrund-Rapperin Sonya und landet damit einen kleinen Szene-Hit – andere DJs remixen Klassiker von Sido oder Das Bo. Daneben gibt es Rap-Künstler:innen wie Dennis Dies Das, viko63 oder die Gruppe Teuterekordz, die auf Albumlänge einen technoiden Stil fahren und damit die Stilrichtung festigen. Erstgenannter wurde durch einen Remix eines amerikanischen Rap-Klassikers inspiriert, erinnert er sich in einem Interview: "Da hatte ich einen Techno-Track gehört, der Mobb Deeps 'Shook Ones Pt. 2' gesamplet hat. Das hat mich so krass geflasht, dass ich darauf gerappt habe. Seitdem habe ich immer den Anspruch Hip Hop [sic!] und elektronische Musik miteinander zu vermischen." Sogar Marteria veröffentlichte 2021 mit "5. DIMENSION" eine elektronische Rap-Platte und damit eine Liebesbekundung an die Feierei, für die er unter anderem mit Techno-Urgestein DJ Koze zusammenarbeitete.
Schlussendlich wird sich zeigen, ob sich dieser Genre-übergreifende Stil dauerhaft im deutschen Rap etablieren und mehr als nur ein vorübergehender Trend bleiben wird. Doch es lässt sich nicht von der Hand weisen: Tanzbare, technoide Beats sind im Rap mehr als gefragt. Zusätzlich lässt sich beobachten, dass die behandelten Szenen vielerorts aufeinander zugehen. Und in der Musik diverser junger und jung gebliebener Rap-Künstler:innen steckt der Wunsch nach Feiern drin – und das am liebsten zu Techno.
(Tim Herr)
(Titelbild von Daniel Fersch)