"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Wenige Rapper:innen konnten mich mit einem Comeback so sehr aus der Reserve locken wie Le Nerd. Ehemals vom Publikum als recht brav abgestempelter, aber dennoch sehr talentierter Rapper aus den goldenen Zeiten von Rap am Mittwoch verschwand er vier Jahre lang von der Bildfläche. Bis 2019 "Durchblick" auf dem YouTube-Channel von Toptier Takeover veröffentlicht wurde. Die Single war alles außer das, was ich von Le Nerd erwartet hatte.
"Durchblick" widerspricht in allen Aspekten dem Bild, das ich vom eher passiven oder zurückhaltenden Battlerapper Le Nerd hatte. Es gibt auf die Fresse – von Sekunde eins an. Allein das Sample aus extrem verzerrten und nicht mehr klar identifizierbaren Synthie- und E-Gitarrensounds macht klar, dass es nur eine Richtung gibt: nach vorne. Mit starrem Psychoblick und enorm aggressiver Delivery geht es Le Nerd zunächst ums Glorifizieren von Biersaufen und Nichtstun, wie man es von vielen Künstler:innen vor ihm schon gehört hat. Aber der Schein trügt. Denn nur ein paar Zeilen später entwickelt sich "Durchblick" zu einem astreinen ACAB- beziehungsweise Anti-Polizeisong und es fallen Statements wie "Man wird nur Bulle, wenn man Fascho oder dumm ist". Trotz der stumpfen und brutalen Delivery und den damit verbundenen versimpelten Zeilen schafft es Le Nerd, auf den zwei Minuten des Songs zu fesseln. Sein Hass auf die Exekutive hat einen Grund und der wird ungeachtet der Aggressionen nachvollziehbar erzählt.
Auch wenn die Message von "Durchblick" lang und breit diskutiert werden könnte, ist es am Ende nicht der Inhalt, der mich den Song immer wieder in Dauerschleife hören lässt. Stattdessen begeistert mich Le Nerd eher mit der unfassbaren Energie und dem einzigartigen Sound, die brutal nach vorne gehen und mich damit regelmäßig aus sämtlichen Motivationstiefs prügeln. Das Comeback hat sich also gelohnt.
(Jakob Zimmermann)