"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
grim104 schafft in seiner Musik Bilder wie kaum jemand sonst. Das beweist er bereits 2013 auf seiner ersten, nach sich selbst benannten Solo-EP. Dort rappt die vampirhafte Hälfte von Zugezogen Maskulin über das Heranwachsen, Endzeitfantasien und die rastlose Phase zwischen 20 und 30, in der ich selbst gerade stecke.
Wie gut der Rapper Bilder kreiert, hört man schon ab den ersten Zeilen der EP, wenn grim104 auf "Frosch" das Aufwachsen im Dorf buchstäblich aus der Froschperspektive beschreibt: "Als Kind lebte ich an einem Teich, jede Nacht riefen die Frösche mich durchs Fenster heim in ihr Reich." Dörfliches Leben wird auch im anschließenden "Crystal Meth in Brandenburg" geschildert, wo Grimmie eine Geschichte von Perspektivlosigkeit und Drogen-Produktion erzählt. Ein weiteres musikalisches Highlight stellt für mich der Song "Der kommende Aufstand" dar, welcher die Hörer:innen in die Ereignisse nach einem Bevölkerungsaufstand hineinversetzt: "Sirenen der Streifen, Junkies, die streiten, das Splittern der Scheiben." Das Ganze flowt der Rapper über eine geniale Bassline in einem Tempo, von dem ich jedes Mal aufs Neue beeindruckt bin. Mein persönlicher Lieblingstrack befindet sich allerdings am Ende der Veröffentlichung: In "Sternstunden der Bedeutungslosigkeit" geht es um den anfangs genannten Lebensabschnitt. So möchte grim104 seine Zeit mit durchzechten Nächten verschwenden, statt sich der in der Ferne drohenden Spießigkeit hinzugeben. Dabei ist er bereits glücklich, wenn ihm am nächsten Morgen der Kater erspart bleibt. Und die Freude in der Zeile "Mein neues Lieblingsshirt hat kein neues Brandloch" fühle ich sogar als Nicht-Raucher.
Auch wenn ich großer Fan der gemeinsamen Musik von Zugezogen Maskulin bin, ziehen mich seit der ersten grim-EP vor allem dessen Solo-Platten in ihren Bann. Und abseits der erzeugten Bilder, treffenden Zeilen und atmosphärischen Produktionen stelle ich auf dem Debüt immer wieder fest: Niemand schreit mich beim Rappen so schön an wie grim104.
(Tim Herr)