An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Adrian mit der problematischen Streitkultur im deutschen HipHop auseinander.
Brisante Themen sind ein gefundenes Fressen für die Medienwelt. Sie steigern die Aufmerksamkeit, erzielen hohe Klick- und Kommentarzahlen und natürlich hat jede:r eine ganz bestimmte Meinung zu seinen:ihren Lieblingsschlagzeilen. Leider sinkt meist das Niveau, je emotionaler die Diskussion geführt wird. Auch deutscher Rap wird davon nicht verschont. Es wird gehetzt und eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben. Dafür muss man nur einen Blick in die Kommentarspalten werfen: Jede:r scheint sich berufen zu fühlen, die eigene Meinung bis auf den Tod verteidigen zu müssen. Problematisch wird es, wenn durch diese Streitkultur gesellschaftlich relevante Themen untergehen, die Community gespalten oder jemandem zu Unrecht geschadet wird.
Die Liste der Anlässe ist lang und vielfältig. Einige Beispiele sind der Bushido-Arafat-Prozess, Sinan Gs Videochat-Eskapaden, Kollegah und Farid Bangs Echo-Skandal, krude Verschwörungstheorien der üblichen Verdächtigen oder Oliver Pochers Ohrfeige. Nachdem das kuriose Ereignis passiert ist, läuft der Streit meist nach Schema F ab: Zu Beginn bilden sich zwei Lager, die entweder verurteilen oder verteidigen. Anschließend beansprucht jede Partei die Wahrheitshoheit für sich und die Gegenposition wird diffamiert. Hierbei findet oft ein Schwarz-Weiß-Denken statt. Das kennt man schon von Corona-Diskussionen oder aufgeheizten Streitgesprächen über Fleischkonsum am Essenstisch beim Familienbesuch. Niemand möchte die andere Position verstehen, geschweige denn einen Konsens bilden. Es wirkt so, als würden Kindergartenkinder streiten. Dabei hat natürlich jede:r das Recht, dem Gegenüber zu widersprechen. Nur sollte Widerspruch kein Grund sein, den Streit auf eine persönliche Ebene zu bringen. Das führt zu verhärteten Fronten und die Spaltung beginnt.
Die Lagerbildung lässt sich sowohl bei "banalen" als auch bei wichtigen Themen beobachten. Mit "banal" ist in diesem Kontext gemeint, ob beispielsweise Autotune zu HipHop gehört oder wessen Flow der beste ist. Darüber schlagen sich so manche Fans gerne den Kopf ein. Das spaltet zwar im Zweifelsfall die Streitenden, aber nur sie und niemand anderes sind davon betroffen.
Anders sieht es aus, wenn es um ein gesellschaftlich relevantes Thema geht. Hier kann sogar eine drastischere Spaltung stattfinden, da mit moralischen Inhalten argumentiert wird. Wer selbstgerecht bestimmt, was gut oder schlecht ist, wird der anderen Person wahrscheinlich nicht mehr zuhören. Das Weltbild im Kopf ist bereits gefestigt und man lässt nicht mehr mit sich reden. Diese Engstirnigkeit macht aber jede Diskussion zunichte und gleicht eher einer Missionierung als einer Aufklärung. Das Denkmuster kennt man beispielsweise von Verschwörungsgläubigen. Worin der Streit gipfeln kann, sieht man bei diversen Sexismus-Debatten. Die einen halten sexistische Vorwürfe für Propaganda, um Künstler:innen zu canceln, die anderen gehen den:die mutmaßliche:n Täter:in an. Beide haben gemein, dass sie sich mit Vorwürfen bombardieren, statt miteinander zu reden. Die einen seien also sexistisch und die anderen fühlen sich missverstanden. Wer dabei im Unrecht ist, ist hierbei sogar egal, denn das eigentliche Thema wird gar nicht mehr diskutiert. Und das ist das Hauptproblem. Es wird nicht mehr über Sexismus und Grenzverletzungen debattiert, stattdessen werden Schuldzuweisungen ausgetauscht. Die andere Meinung nur ins Lächerliche zu ziehen oder mit Wut darauf zu reagieren, löst im schlimmsten Fall eine Trotzreaktion und Defensivhaltung beim Gegenüber aus. Dieses wird anschließend wahrscheinlich nicht mehr zuhören oder von seinem Standpunkt abweichen.
Schwerwiegender wird es, wenn eine Person beschuldigt wird, eine bestimmte Grenzüberschreitung begangen zu haben. Da wird sich nicht nur angefeindet und ein wichtiges Thema unter den Teppich gekehrt. Zusätzlich fügt die Öffentlichkeit jemandem aktiv Schaden zu. Der wütende Mob nimmt das nicht nur in Kauf, sondern befeuert es. Dabei ist unerheblich, ob der:die Angeklagte schuldig ist. Die Vorverurteilung nimmt dabei so große Ausmaße an, dass die beschuldigte Person mit ernsthafter Rufschädigung rechnen muss. Sollte jemand nachweislich Fehltritte begangen haben, müssen Konsequenzen folgen – aber erst dann. Wenn die Beschuldigung sich nämlich als falsch herausstellt, ist der Schaden bereits angerichtet und kann nicht rückgängig gemacht werden. Für den:die Konsument:in ist das Thema meist nach einer Woche gegessen, Betroffene leiden darunter aber jahrelang.
Diese problematische Streitkultur ist bis zu einem gewissen Grad sogar menschlich und verständlich. Zum einen haben bestimmte Aktionen Reality-TV-Charakter, die zum Lästern und Lachen einladen. Zum anderen gehört es zur Natur von Skandalen, moralische Grenzen zu überschreiten. Sie rufen dementsprechend eine große emotionale Reaktion hervor. Da wird erst gepöbelt und dann nachgedacht. Auch Algorithmen verstärken das. Sie sorgen dafür, dass jede:r in seiner Bubble bleibt. Fremde Meinungen werden blockiert oder ignoriert, die eigene Ansicht wird verstärkt. Trotzdem sollte immer reflektiert und über die Konsequenzen nachgedacht werden. Jede:r darf eine Position einnehmen, wenn er:sie das als wichtig erachtet. Es ist aber niemandem geholfen, wenn er:sie diese Meinung in einer hochemotionalen Stimmung in die Weiten des Internets posaunt und nicht mit sich reden lässt. Und auch, wenn das viele nicht glauben möchten: Es ist völlig okay, keine Meinung zu einem Thema zu haben. Vor allem dann, wenn man sich nicht mit der Thematik auskennt. Lasst uns die wichtigen Themen nicht mehr aus den Augen verlieren und einmal tief einatmen, sollte unser Gegenüber unsere Meinung nicht teilen. Und damit sind alle gemeint.
(Adrian Macrea)
(Grafik von Daniel Fersch)