Die HipHop- und Reggae-Szene sind seit jeher von einer tiefen Verbundenheit geprägt. Es existieren unglaublich viele Kollaborationen, die beide Genres vereinen. In diesem Zusammenhang wird oft von gemeinsamen Wurzeln gesprochen – sowohl musikalisch als auch kulturell. Doch der Sound beider Genres ist auf den ersten Blick extrem unterschiedlich. Darüber hinaus entstanden die beiden Kulturen in gänzlich unterschiedlichen Umgebungen: Reggae auf der Karibikinsel Jamaika und HipHop in den Ghettos von New York. Wie viel DNA teilen sich die Reggae- und HipHop-Kultur also tatsächlich? Kreuzen sich ihre Wege nur flüchtig oder sind sie gar Verwandte?
Wo kommt Reggae eigentlich her?
Woher das Wort "Reggae" stammt, ist bis heute nicht genau geklärt. Laut Genre-Legende Bob Marley leitet es sich aber von "Rex" – dem lateinischen Wort für "König" – ab und soll in etwa "Musik des Königs" bedeuten. Andere Quellen sprechen hingegen davon, dass der Name des Genres aus dem jamaikanischen Sang-Ausdruck "Streggae" entstand, was so viel wie "Straßen-Prostituierte" heißt. Im musikalischen Kontext nutzt der Ska-Sänger Frederick "Toots" Hibbert das Wort als Erster – in seinem Song "Do the Reggay" aus dem Jahr 1968. Er selbst sagt dazu: "This one morning me and my two friends were playing and I said, 'OK man, let's do the reggay.' It was just something that came out of my mouth. So we just start singing 'Do the reggay, do the reggay' and created a beat. People tell me later that we had given the sound its name. Before that people had called it blue-beat and all kind of other things."
Reggae-Musik entsteht zum größten Teil aus verschiedenen afro-karibischen Musikstilen. Hauptsächlich lassen sich die Ursprünge der bekannten Rhythmik auf die jamaikanische folkloristische Tanzmusik "Mento" aus den 30er Jahren zurückführen. Aus dieser entwickeln sich mit "Ska" und "Rocksteady" zwei der populärsten Musikgenres in Jamaika, welche ebenfalls als Vorläufer des Reggae gelten. Gegen Ende der 60er Jahre kommen dann US-amerikanische Einflüsse wie Soul, R 'n' B oder Blues, die über das Radio ihren Weg auf die Insel finden, hinzu. Als erster echter Reggae-Song gilt "People Funny Boy" von Lee "Scratch" Perry aus dem Jahr 1968. Der neue Sound erfreut sich einer solch großen Beliebtheit, dass bereits ein Jahr später mit "The Israelites" von Desmond Dekker & The Aces der erste Reggae-Hit die Charts erstürmt. In Deutschland und Großbritannien erreicht der Song eine Nummer-eins-Platzierung und verkauft sich weltweit Millionen Mal. Zu Beginn ist Reggae zwar hauptsächlich Tanzmusik, dennoch kommen von Beginn an sozialkritische Inhalte hinzu. Mit ebendiesen wurde Bob Marley als größter Reggae-Künstler aller Zeiten bekannt. Er und seine Band The Wailers sind Mitte der 70er Jahre für den endgültigen, weltweiten Durchbruch von Reggae verantwortlich. Mit diesem Erfolg öffnet er die Tür für Weltstars wie Shaggy oder Sean Paul, deren Musik auf den ersten Blick weit von dem Machwerk Bob Marleys entfernt liegt, jedoch denselben Wurzeln entstammt.
Mit den internationalen Erfolgen verschiedener Reggae-Acts beginnt das Genre natürlich, auch außerhalb von Jamaika Wurzeln zu schlagen. Bereits zu Beginn der 80er entsteht auch in Deutschland eine eigenständige Reggae-Szene mit Bands wie Jamaika Papa Curvin, Vitamin X und Taugenixe. Letztere veröffentlichen im Jahr 1984 die erste deutschsprachige Reggae-LP mit dem Namen "Reggae Ron". Diese kann aber kaum kommerzielle Erfolge verbuchen. Dennoch findet seit ebendiesem Jahr das bekannte Summerjam Festival – damals noch unter dem Namen Jamaica Reggae Sunsplash – statt, auf dem sich bis heute regelmäßig internationale Größen der Reggae-Szene die Klinke in die Hand geben. In den 90ern und 00er Jahren gewinnt deutscher Reggae dann immer mehr an Reichweite. So rücken Acts wie Seeed, Jan Delay und Gentleman ins Rampenlicht und feiern teils riesige Erfolge.
Mehr als flüchtige Bekannte?
Dass Reggae die Entwicklung von Rap maßgeblich beeinflusst hat, liegt auf der Hand, wenn man sich die Wurzeln eines seiner Urväter anschaut. So wurde DJ Kool Herc – der als Erfinder von HipHop gilt – am 16. April 1955 in Kingston, Jamaika geboren und zog erst mit zwölf Jahren in die New Yorker Bronx. Zwar war er vor seinem Umzug noch zu jung, um die Soundsystem-Partys in seiner Heimatstadt – die sogenannten "Dancehalls" – wirklich zu besuchen, nichtsdestotrotz nahm er sie natürlich bereits als Kind wahr. Auch war eines der direkten Vorbilder von DJ Kool Herc der jamaikanische Musikproduzent "King Tubby", der als einer der Pioniere der Dub-Musik gilt. Diese fand sich zu dieser Zeit häufig auf den B-Seiten von Reggae-Platten und bestand aus Instrumentalversionen der A-Seiten-Songs, gekennzeichnet durch den exzessiven Einsatz von Studio-Effektgeräten. Ebendiese Dub-Versionen wurden häufig bei den Soundsystem-Partys gespielt und vom "Selector" mit verschiedenen DJ-Techniken versehen. So zum Beispiel das "rewinding", bei dem eine Platte auf dem Teller immer wieder an einen bestimmten Punkt zurückgezogen wird, um die abgespielte Sektion zu wiederholen. Hinzukamen dann Equalizer und Hall-Effekte. All das wurde dann vom "Selector" mit einer Art Sprechgesang versehen – dem sogenannten "Toasting". So entwickelte sich das Abspielen von Platten bereits in den 50er und 60er Jahren auf Jamaika vom einfachen Musik hören zu einem regelrechten Live-Event.
Inspiriert von diesen "Dancehalls" auf öffentlichen Plätzen begann DJ Kool Herc bereits früh, in seiner neuen Heimat Partys in der Nachbarschaft zu veranstalten. Als er jedoch zu Beginn seiner Karriere Dub-Platten in der Bronx auflegte, traf er auf wenig Begeisterung, denn Reggae war zu dieser Zeit dort nicht sonderlich beliebt: Die breite Masse war eher an den Sound von Funk- und Soul-Platten gewöhnt, von denen allerdings keine Dub-Versionen existierten. Darum mixte und wiederholte Herc die tanzbaren Instrumental- und Drumbreak-Sektionen von populären Platten immer wieder an seinen Turntables. Wie auch bei der weltberühmten "Back To School Jam" am 11. August 1973, die als Geburtsstunde des HipHop bekannt ist. So entwickelte sich aus den DJ-Techniken der jamaikanischen "Selectors" das "Beatjuggling" und damit einer der Grundsteine im HipHop. Auch wurde aus dem "Toasting" nach und nach "Emceeing", woraus wiederum Rap entstand. Darüber hinaus lässt sich der freigeistige Umgang mit den Werken anderer Künstler:innen ebenfalls auf die jamaikanischen Soundsysteme zurückführen. Denn auf der Karibikinsel herrschte bis in die späten 90er Jahre ein extrem lasches Urheberrecht. Das gab Musiker:innen die Freiheit, Songs zu covern, zu remixen, in jeglicher Form zu bearbeiten und für ihre eigenen Werke zu nutzen – so wie es dann später beim Sampling geschehen sollte.
In den 80er und 90er Jahren begannen dann immer mehr Reggae- und Rapartists, gemeinsam Musik zu produzieren. Beispiele hierfür sind KRS-One und Shabba Ranks oder Yellowman und Afrika Bambaataa. Im Jahr 1985 releasten Run-DMC den Song "Roots, Rap, Reggae", auf dem es heißt: "I know, we know that Reggae is sweet, Reggae music is rap to de beat" und zollten damit dem Genre Respekt. Diese Entwicklung setzte sich fort und griff international um sich, sodass sich die Verbindung zwischen den beiden Genres musikalisch weiter manifestierte. In den 90ern und frühen 2000ern folgen Kollaborationen wie "Deady Zone" von Bounty Killer und Mobb Deep oder Sean Paul und Busta Rhymes mit "Gimme The Light" aus dem Jahr 2002. Am 18. Mai 2010 erscheint dann mit "Distant Relatives" von Damian Marley und Nas der wohl engste musikalische Schulterschluss der beiden Kulturen. Der eine gilt als einer der respektiertesten Rapper aller Zeiten, der andere tritt gekonnt in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters. Das Album beschäftigt sich mit der afrikanischen Diaspora und vereint die fundamentalen Elemente aus beiden Genres.
Auch in Deutschland zeichnet sich eine immer enger werdende Verknüpfung von HipHop und Reggae beziehungsweise dem Subgenre Dancehall ab. So finden Acts wie Peter Fox und D-Flame oder auch DJs wie die Jugglerz zum Teil auch in der HipHop-Szene statt. Letztere sind sogar für eine Vielzahl von Gold- und Platin-Produktionen im Deutschrap-Bereich verantwortlich. Darüber hinaus finden sich auf dem bereits erwähnten Summerjam Festival, dem Ruhr Reggae Summer-Festival und weiteren Reggae-Festivals in Deutschland immer auch verschiedene Rapper:innen im Lineup. Musikalisch lassen sich Größen wie Megaloh oder Samy Deluxe von Reggae-Songs inspirieren. Als Paradebeispiel für den Spagat zwischen HipHop- und Reggae-Szene gilt der Chemnitzer Trettmann. Dieser startete seinen Werdegang zu Beginn der 2000er als reiner Reggae-Sänger unter dem Namen Ronny Trettmann. Dennoch pflegte er von Anfang an ein enges Verhältnis zur Rapszene. So konnte er bereits im Jahr 2007 einen exklusiven Song auf der CD-Beilage der Juice #74 platzieren und hat bis heute viele große Namen in der Deutschrapszene gefeaturet. Der Peak des jamaikanischen Einflusses auf die deutsche Rapszene wird aber im Jahr 2016 erreicht. So lassen sich auf "Palmen aus Plastik" von Bonez MC und RAF Camora – einem der erfolgreichsten deutschen Rapalben aller Zeiten – deutliche Dancehall- und Reggae-Einflüsse finden. Verständlich, wenn man bedenkt, dass ein Großteil des Albums auf Jamaika, der Wiege der Reggae-Musik, entstanden ist und mit Tommy Lee Sparta auch einen einheimischen Act featuret. Auf dieses Release folgt wiederum eine regelrechte Flut an Deutschrap-Dancehall-Hits. So ist die gesamte Afro-Trap-Welle in den späten 2010ern maßgeblich von der karibischen Partymusik mitgeprägt.
"Get Up, Stand Up" & "Fight The Power"
Bei all den musikalischen Zusammenhängen sind auch die inhaltlichen Ausrichtungen der beiden Genres in ihren Ursprüngen sehr ähnlich. Obwohl beide Musikstile und Kulturen ihren Ursprung auf Partys finden, sind sie von Beginn an hochpolitisch. So wurden in frühen Reggae-Songs oft die schrecklichen Folgen der britischen Kolonialisierung von Jamaika und die politische Gewalt nach der Unabhängigkeit thematisiert. Am 22. April 1978 bat Bob Marley während des "One Love Peace Concert" im National-Stadion in Kingston zwei verfeindete jamaikanische Politiker auf die Bühne: den jamaikanischen Ministerpräsidenten und Parteichef der sozialdemokratischen "People's Nation Party", Michael Manley, und den Spitzenmann der konservativen "Jamaica Labour Party", Edward Seagaw. Während der bekannte Song "Jammin'" performt wurde, gaben die beiden sich vor den Augen der Zuschauer:innen die Hand. Dr. Wilfried Raussert, Professor für interamerikanische Studien an der Universität Bielefeld, kommentierte diesen Moment mit den Worten: "Dieser ikonische Moment wendete einen potenziellen Bürgerkrieg in dem Karibikstaat ab." Die Anhänger:innen der jeweiligen Lager hatten sich in den Monaten zuvor bereits blutige Kämpfe geliefert.
Im HipHop hingegen werden häufig Polizeigewalt, soziale Ungerechtigkeit und der Rassismus gegen Schwarze thematisiert. So nennen sich Public Enemy selbst "Black CNN" und bewegten mit "Fight the Power" eine ganze Generation von People of Color zum politischen Aktivismus. Des Weiteren sind viele Schlüsselfiguren des HipHop eng mit politischen Bewegungen wie den Black Panthers verbunden. Beispielsweise Tupac Shakur, dessen Mutter zur Bewegung gehörte und deren Inhalte ihn und seine Musik maßgeblich prägten. Bis heute spielt Politik und vor allem der Kampf gegen Rassismus im HipHop eine große Rolle. So sind besonders die aktuellen Größen J. Cole und Kendrick Lamar für ihre politischen Inhalte und ihren Einsatz bekannt. Somit zeigt sich, dass sich beide Musikgenres und die damit entstehenden Subkulturen entschieden gegen soziale Oppression und strukturellen Rassismus stellen. Mehr noch entstanden beide aus ebendiesen widrigen Umständen heraus und bieten zeitgleich, durch ihren monetären Erfolg, einen selbst geschaffenen Ausweg.
Gemeinsame Wurzeln, gemeinsame Probleme?
Auch wenn sowohl HipHop als auch Reggae in ihren Ursprüngen für Freiheit und Gleichheit stehen, finden sich unter den Künstler:innen beider Genres mehr als fragwürdige Vertreter:innen. Eines der wohl besten Beispiele für einen solchen fragwürdigen Vertreter dürfte wohl Vybz Kartel sein. Dieser ist ein verurteilter Mörder und hat in der Vergangenheit mit Lyrics wie "Every man grab a gyal and every gyal grab a man. Man to man, gyal to gyal dats wrong, scorn dem" von sich reden gemacht. Auch die Dancehall- Legende Beenie Man ist bereits durch fürchterliche homophobe Lyrics aufgefallen. So singt er beispielsweise: "I'm thinking of a new Jamaica, come to execute all of the gays." Zwar nehmen Ausschweifungen dieser Art im Rap nicht ganz so oft solche extremen Ausmaße an, jedoch liegt auch hier innerhalb der Szene ein starker Hang zur Homophobie vor. Dies wird allein schon dadurch bewiesen, dass es in Teilen der Szene schon genügt, seinen Kontrahenten als homosexuell darzustellen, um diesen zu diskreditieren. Darüber hinaus herrscht sowohl in der Dancehall- als auch der HipHop-Szene ein längst überholtes Männlichkeits- und Frauenbild, welche sich in Lyrics wie "Gyal me serious me affi get yuh tonight, affi get yuh body even by gunpoint" von Dancehall-Act Buju Banton niederschlägt. Ähnliche Lyrics lassen sich leider ebenfalls in unzähligen Rapsongs finden.
Auch sind Reggae und HipHop zwei Kulturen, welche in einem extrem gewalttätigen Umfeld enstanden. Diese Gewalttätigkeit zieht sich traurigerweise durch beide Historien. Die prominentesten Beispiele im HipHop dafür sind wohl die Morde an 2Pac und Notorious B.I.G. Doch auch in der Reggae- und Dancehall-Szene kommt es immer wieder zu Gewalttaten. So wurde der Bruder von Beenie Man während seines Beefs mit Mavado erschossen. Dieser sang nur kurze Zeit später in einem Song: "Give him some fat teflon fi try on, mek him mother cry cause him die by my hand", was als Anspielung auf den Mord verstanden werden kann. Mavado behauptete später, die Aufnahme sei schon lange vor dem Zwischenfall entstanden. Insgesamt ist die jamaikanische Historie von Gewalt geprägt. Das Land hat bis heute eine der höchsten Mordraten der Welt.
Auch wenn die Aussagen und Ereignisse in sowohl der HipHop- als auch Reggae-Szene teils erschütternd sind, so kann man in den letzten Jahren doch ein Umdenken feststellen. Künstler:innen müssen sich immer öfter für ihre Lyrics verantworten und genießen insgesamt weniger Narrenfreiheit als noch vor ein paar Jahren. Auch wenn nach wie vor viele Probleme nicht aus der Welt geschafft sind, so ist es doch erfreulich, dass sie an beiden Stellen angegangen werden.
Auch wenn HipHop- und Reggae-Artists musikalisch auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Wege gehen, griffen beide vor allem in ihren Anfängen auf ähnliche Techniken zurück, um ihren Sound zu kreieren, und entdeckten früh, dass sie gut harmonieren. Darüber hinaus sind die jeweiligen Subkulturen politisch ähnlich ausgerichtet und stehen vor allem für Empowerment von People of Color. HipHop und Reggae sind also nicht nur entfernte Verwandte, sondern vielmehr Brüder im Geiste.
(Nico Maturo)
(Grafik von Daniel Fersch)