Während einige Künstler:innen versuchen, ein und denselben Kunstansatz zu perfektionieren, hat Bluestaeb eine andere Methode gewählt, die sich unter anderem im Titel seines zweiten, 2018 erschienen Albums niederschlägt: "Everything Is Always A Process". Statt sich auf das Erstellen von HipHop-Beats zu beschränken, entwickelte sich Leon Giseke zu einem Produzenten, der in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstler:innen Songs kreiert, die Genregrenzen sprengen. Diesen Ansatz baute er auf seinem neuen Album "GISEKE" weiter aus. In Zusammenarbeit mit diversen Sänger:innen und Rapper:innen zeigt Bluestaeb auf der Platte, wie ein modernes Produzenten-Album 2021 klingen kann. Nicht nur musikalisch sondern auch privat wagte sich der gebürtige Berliner heraus aus der eigenen Komfortzone: Auf der Suche nach Veränderung und neuen Einflüssen verschlug es ihn von Berlin nach Paris. Im Interview sprachen wir mit Bluestaeb unter anderem darüber, inwiefern der Schritt in die französische Hauptstadt zu mehr Kreativität und Produktivität führte. Außerdem erzählte er uns, wieso er es in Berlin nicht mehr aushielt und inwiefern die neue Produzent:innen-Generation freier an Beats herangeht als er selbst vor einigen Jahren.
MZEE.com: Der Begriff "Komfortzone" beschreibt einen "Bereich des privaten oder gesellschaftlichen Lebens, der durch Bequemlichkeit und Risikofreiheit geprägt ist". Neigst du eher dazu, dich in deiner Komfortzone aufzuhalten oder aus ihr auszubrechen?
Bluestaeb: Ich würde da zwischen der Musik, Kunst und meiner Privatperson trennen. Zuhause tendiere ich dazu, etwas zu gemütlich zu sein, vielleicht auch wegen Corona. Ich denke, das geht vielen Menschen so. Aber ich versuche bei allem, mit dem ich mich kreativ auseinandersetze, dagegen anzukämpfen, zu stark in Komfortzonen zu verbleiben.
MZEE.com: Was meinst du, warum es vielen Menschen so schwerfällt, aus ihrer Komfortzone auszubrechen?
Bluestaeb: Meiner Meinung nach ist Instagram beziehungsweise sind soziale Medien allgemein unser größtes Problem. Ich glaube, dass der tägliche Informationsfluss uns überfordert und blockiert. Freunde sagen mir ein Treffen am Dienstag ab, weil sie Freitag und Samstag wahrscheinlich viel zu tun haben. Dass sie das antizipieren, reicht schon, um kein Bier trinken zu gehen. Das hat meiner Meinung nach miteinander zu tun, auch wenn das nur eine Hobby-Philosophen-Interpretation ist. Wir sind mittlerweile alle verhaltensgestört. (lacht)
MZEE.com: Das "Yerkes-Dodson-Gesetz" lässt sich auf Komfortzonen übertragen. Es sagt aus, dass man bei niedriger Anspannung weniger effektiv oder produktiv ist. Steigt dieses Erregungsniveau, so steigt nach dem Gesetz auch die Effektivität und Produktivität bis zu einem Maximalwert, danach nimmt sie wieder ab. Kannst du das bei dir so feststellen?
Bluestaeb: Ich glaube schon, dass das Ausbrechen aus der Komfortzone zu höherer Produktivität führt. Ob das immer effizient ist, ist eine andere Frage, die Kreativität steigert es aber auf jeden Fall. Gleichzeitig kann ich mir den Maximalpunkt, der erreicht wird, gut vorstellen. Wenn man sich in ein Terrain begibt, das weit außerhalb der eigenen Komfortzone oder schlicht Fähigkeiten liegt, wird es irgendwann sicher kontraproduktiv. Wenn man immer nur Techno gemacht hat und dann versucht, einen Jazz-Song zu schreiben, obwohl man die Instrumente nicht spielen kann … Dann wird man wohl nicht in der Lage sein, das zu tun. (grinst)
MZEE.com: Du bist vor über sechs Jahren von Berlin nach Paris gezogen und hast das laut eigener Aussage auch nicht bereut. Wieso bist du damals umgezogen?
Bluestaeb: Der Umzug war unglaublich befreiend und genau der richtige Schritt im richtigen Moment. Ich hatte damals ziemlich die Schnauze voll von Berlin. So fühle ich teilweise immer noch, wenn ich zurückkomme. Ich habe das Gefühl, dass es ein riesiges Missverhältnis gibt zwischen dem enormen kreativen Potenzial dieser Stadt und dem, was effektiv daraus entsteht. Damals war ich auf so vielen Hauspartys, auf denen mir jeder das Gleiche erzählt hat. Alle sind nach Berlin gezogen, um irgendetwas Kreatives zu machen. Aber wenn du nach einer Ausstellung, einem Buch oder anderen konkreten Resultaten gefragt hast, gab es nie etwas. Das Ziel war für alle damit erreicht, sagen zu können, dass sie in Berlin wohnen und etwas Kreatives machen. Damit bin ich nicht klargekommen, deswegen musste ich weg. Außerdem war ich auf einer französischen Schule. Ich habe bereits fließend Französisch gesprochen, als ich nach Paris gezogen bin. Sprachlich bin ich also nicht allzu weit aus meiner Komfortzone getreten. Ich glaube, jeder kennt das Gefühl, aus dem Ort rauszuwollen, an dem man aufgewachsen ist.
MZEE.com: Und du wolltest eine Stadt finden, in der mehr aus dem vorhandenen kreativen Potenzial gemacht wird?
Bluestaeb: Dazu würde ich ganz drastisch sagen: Berlin ist eine einzige Komfortzone für junge Künstler. Natürlich werden die Wohnungen und das Leben auch dort immer teurer, aber als sogenannter "Kreativer" kannst du im Vergleich immer noch recht einfach leben und günstig Studios oder Ateliers mieten. In Städten wie London ist der finanzielle Druck fünfmal so hoch. Ich habe das Gefühl, dass das zu mehr Drive führt, aktiv Dinge zu bewegen. Das passt zu dem Gesetz, das du vorhin angesprochen hast. Natürlich entstehen in Berlin auch coole Sachen, ich will das nicht pauschal abschreiben und ich spreche ja auch aus einer sehr privilegierten Situation heraus. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass in den vergangenen dreißig Jahren außer der Club-Kultur kein wertvoller popkultureller Moment in dieser Stadt entstanden ist. Und das ist totaler Wahnsinn, wenn du dir andere Städte wie London, Paris oder Los Angeles anschaust.
MZEE.com: Ist Paris mittlerweile eher deine Komfortzone als Berlin?
Bluestaeb: Gute Frage. Ich hab' mich neulich selbst gefragt, ob ich hier bereits den Punkt erreicht habe, an dem es zu sehr in diesen Bereich geht. Ich glaube, noch ist der Moment nicht da. Es ist eine ganz andere Komfortzone in dem Sinne, dass man hier extrem gut essen kann. (lacht)
MZEE.com: Man muss den Begriff nicht negativ verwenden. Paris kann ja zu deinem Zuhause geworden sein.
Bluestaeb: Tatsächlich genieße ich die französische Lebensart. Das ist ein Grund, warum ich hier bin.
MZEE.com: Ich finde, es ist eine krasse Veränderung, wenn eine neue Stadt zum neuen Zuhause wird.
Bluestaeb: Ja, das ist bei mir auf jeden Fall auch eingetreten. Irgendwann haben die Leute von zu Hause gemerkt, dass ich länger wegbleibe. (lacht) Dann hab' ich einfach weniger Besuch aus Deutschland bekommen. Im ersten Jahr haben sich alle gefreut, einen Schlafplatz in Paris zu haben. Und dann haben sie gemerkt, dass ich doch für längere Zeit hier wohnen werde.
MZEE.com: Denkst du, es ist schwieriger aus einer Komfortzone auszubrechen, je größer sie ist?
Bluestaeb: Wahrscheinlich, ja. Die Frage ist, ob man das aktiv so wahrnimmt. Bei mir hat es damals eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass ich mich in einer großen Komfortzone bewege. Und dann habe ich den Drang verspürt, auszubrechen.
MZEE.com: In deinem Beruf als Produzent musst du immer wieder kreativ werden und brauchst dafür natürlich Input. Ziehst du deshalb weiterhin in Erwägung, deinen Wohnort zu verändern?
Bluestaeb: Ja, auf jeden Fall. Generell gesprochen: Ich hab' Landschaftsarchitektur studiert und bin in diesen Sphären teilweise immer noch unterwegs. Das ist für mich das gleiche Thema. Ich habe eine Zeit lang überlegt, in Kopenhagen meinen Master zu machen, weil es dort eine sehr renommierte Uni dafür gibt. Wenn man Landschaftsarchitektur aber eher als etwas Infrastrukturelles begreift, das Lösungen für die Stadt des 21. Jahrhunderts finden will, ist es meiner Meinung nach Schwachsinn, das in einer absoluten architektonischen Komfortzone wie Kopenhagen zu lernen. Dort gibt es so wenige Spannungs- und Reibungsräume wie in kaum einer anderen europäischen Stadt. In Paris entstehen diese Räume an jeder Ecke. Das Spannungsfeld "arm – reich" wird einem hier jeden Tag vor Augen geführt. Es gibt viele Berufe oder Interessen, an denen man sich orientieren kann, wenn man umzieht. Man merkt dann auch, wenn man an einem Ort diesbezüglich ein Limit erreicht hat.
MZEE.com: Hast du dir schon mal einen konkreten Ort überlegt, an dem du aus diesen Gründen zukünftig gerne leben würdest?
Bluestaeb: Musikalisch würde es auf jeden Fall Sinn ergeben, nach L.A. oder so zu ziehen. Es gibt ein paar praktische Hürden – du kannst ja nicht einfach so in die USA ziehen. (lacht) Da war Paris natürlich einfacher. Ich hab' mir schon Gedanken darüber gemacht, aber momentan habe ich nicht das Gefühl, das hier schon komplett ausgereizt zu haben. In Paris gibt es einige Sphären, in denen man sich bewegen kann.
MZEE.com: Du hast dich in den vergangenen Jahren vom Beatmaker zum kompletten Produzenten entwickelt. Musstest du dafür eine Komfortzone verlassen?
Bluestaeb: Als ich angefangen habe, war die Herangehensweise nicht so Boom bap-fokussiert, wie sie dann zeitweise geworden ist. Meine allererste Inspiration waren Beatmaking-Videos von Ryan Leslie. (lacht) Der hat ein Album von Cassie produziert, so 2005er R 'n' B-Kram. Es gab ein YouTube-Video, in dem er im Studio rumrennt und den Beat von "Addiction" macht. Ich war 17 Jahre alt und fand das total inspirierend. Dann hab' ich auf dem Keyboard rumgehampelt und versucht, irgendwelche Beats zu produzieren. Ich wollte nicht "C.R.E.A.M." von Wu-Tang nachbauen. Rückblickend waren eher Pharrell und Timbaland die ersten Einflüsse. Dann kam in Berlin die ganze Boom bap-Geschichte dazu, in die ich reingerutscht bin. Ich hab' gemerkt, dass mir das gut liegt, aber auch in eine Sackgasse führt. Der Umzug nach Paris war die Befreiung davon. Im Jahr des Umzugs, 2015, ist auch mein Album "Rodalquilar" erschienen, das sich schon ein bisschen in zwei Welten bewegt. Dann ging es drastisch in eine andere Richtung …
MZEE.com: War es denn schwierig, aus gewohnten Produktionsgewohnheiten auszubrechen oder ging dir das locker von der Hand?
Bluestaeb: Produktionsgewohnheiten würde ich gar nicht sagen, es war eher eine schreckliche Kopfsache. Ich glaube, die deutsche Beatmaker-Szene war damals häufig viel zu verkopft. Wir haben bei jeder Snare überlegt, ob die jetzt real genug ist oder nicht. Das ist im Nachhinein so ein Schwachsinn. Realness lässt sich ja nicht daran messen, ob du an deinem 2.000-Euro-MacBook die richtige Soundauswahl getroffen hast. (grinst) Wenn du nur 'ne MPC hast, ist das vielleicht ein Argument, aber ob du in Ableton einen Boom bap-Beat baust oder 808-Snares benutzt … Das ist ja nur ein Kontinuum von dem, womit du schon angefangen hast. Wenn ich heute mit Produzenten wie K, Le Maestro zusammenarbeite, merke ich, dass das bei der Generation nach mir gar kein Thema mehr ist. Die machen einfach Songs. Mal ist es 'ne 808-Snare, mal ein R 'n' B-Ding und mal das, was wir früher Boom bap genannt haben. Wir haben damals so viel überlegt – ich glaube, das hat uns daran gehindert, viel geilere Musik zu machen. Ich will damit Boom bap gar nicht abschreiben, ich höre das ja auch selbst noch hier und da mal. Aber es gibt für mich aktuell wenige Genres, die so unausstehlich engstirnig und unkreativ sind. Das passt dann 2021 auch nicht mehr mit den progressiven Lyrics und Inhalten zusammen, die die meisten Songs ja eigentlich rüberbringen sollen.
MZEE.com: Du möchtest in deinen Produktionen Platz für die Künstler:innen zulassen, mit denen du arbeitest. Inwiefern versuchst du, sie aus ihrer Komfortzone zu locken, um etwas Einzigartiges schaffen?
Bluestaeb: Ziemlich drastisch, ehrlich gesagt. Zumindest, wenn ich die Möglichkeit dazu habe. Das kommt natürlich auch darauf an, wie groß der Artist ist, was Fans und Selbstbewusstsein angeht. (grinst) Bei manchen Leuten würde ich es mir nicht anmaßen, den halben Song über den Haufen zu werfen, weil ich eine crazy Idee habe. Aber ich glaube, dass viele Sänger:innen und Rapper:innen Lust auf Input von Producern haben. Man liest ja immer wieder Storys von Leuten, die irgendeinen bescheuerten Beat-Titel umgewandelt und zur Hook gemacht haben oder so … Da gibt es schon offene Ohren. Vor allem in richtigen Sessions versuche ich, die Leute aus ihren Komfortzonen zu drängen, um innovative Sachen zu schaffen. Gleichzeitig ist es aber so: Wenn du merkst, dass jemand irgendetwas total gut drauf hat, hast du dir die Person vielleicht gerade deswegen für diesen Beat vorgestellt. Insofern willst du dann nicht komplett abdriften, außer die Session entwickelt sich einfach wahnsinnig kreativ. Aber ein gut produzierter Song muss nicht bedeuten, die Komfortzone zu verlassen. Vielleicht ist das auch schon im Producing passiert und die Person, die darauf singt, ist die Konsequenz davon.
MZEE.com: Welche Mittel nutzt du, um Künstler:innen aus ihrer Komfortzone zu holen?
Bluestaeb: Ein anderes Tempo als das gewohnte ist auf jeden Fall ein Mittel. Das gilt auch für Produzenten. Wenn du das Tempo wechselst, passiert einfach oft etwas ganz anderes. Ansonsten geht viel über Arrangements. Wir sind zwar schon lange darüber hinaus, aber es gab auch mal eine Zeit, in der alle immer 16 Bars Verse und 8 Bars Hook machen wollten. Heute bekomme ich manchmal 24 Bars Verse zurück, es gibt keine Hook oder irgendjemand anderes macht die, dann gibt's da 'ne Bridge … es hat insgesamt eine gute Richtung eingeschlagen.
MZEE.com: Gibt es Projekte, für die du deine eigene musikalische Komfortzone verlassen musstest?
Bluestaeb: Ja und nein. Ich würde sagen, dass ich auf meinem neuen Album relativ kompromisslos gearbeitet habe. Wenn ein Song R 'n' B war, ist es auch ein echter R 'n' B-Song geworden und nicht so ein Wischiwaschi-Ding. Dann ist die Hook mit Autotune und viel lauter als der Rest. Das war ein bisschen das Verlassen meiner Komfortzone – kompromissloses Arbeiten.
MZEE.com: Lass uns zum Schluss noch einen kurzen Blick auf die deutsche Rapszene werfen. Gibt es eine Komfortzone, aus der unsere Szene deiner Meinung nach ausbrechen sollte?
Bluestaeb: Darüber könnte ich jetzt natürlich 30 Minuten reden. (lacht) Ich denke, man muss unterscheiden zwischen dem, was kommerziell erfolgreich ist, und dem, was sich eher "im Untergrund" abspielt. Ich glaube schon, dass es deutschen Rap gibt, der in angenehmer Weise die Komfortzone verlässt. Ob das immer so hörerfreundlich ist, ist noch mal eine andere Frage. Der Mainstream hätte es auf jeden Fall nötig, sich in andere Komfortzonen zu verschieben. Aber das ist wahrscheinlich einfach nur eine Geschmacksfrage. Wir wissen das zwar alle, aber wenn man in Frankreich lebt, hat man natürlich noch viel drastischer vor Augen, wie unkreativ und kopiert erfolgreiche Rapsongs in Deutschland sind. Das ist vor allem eine finanzielle Komfortzone, weil es im Moment einfach funktioniert. Wenn du nach einer bestimmten Formel einen Song machst und die passende Social Media-Strategie fährst, kannst du relativ sicher sein, dass es klappt. Das ist ein Problem, das es oft bei Mainstream-Musik gibt. Wobei es im Endeffekt ja auch ein Verlassen einer Komfortzone war, sich Afrobeat- und Dancehall-Rhythmen zu öffnen. Da hat sich der State of the Art verändert. Aber das ist eben die neue Komfortzone, die jetzt gar nicht mehr so neu ist.
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Robert Winter)