Neromun hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Entwicklung vollzogen: Musikalisch wurde er vom Untergrundrapper, der Punchlines auf Beats rappt, zu einem Künstler, der auf modernen Produktionen verzerrte Melodien präsentiert. Persönlich erscheint er als Mensch, mit dem man in einem Gespräch vermutlich so tief in ein Thema einsteigen kann, dass es den Rahmen eines Interviews deutlich sprengen würde. Diese Vielschichtigkeit zeigt der Mainzer auch auf seinem neuen Album "Blass". Besonders ins Auge sticht hierbei der Intro-Track "Siblings", der wie eine moderne Empowerment-Hymne daherkommt. Ausgehend davon, welche Rolle Empowerment im Leben des Rappers persönlich spielt und wie er auf die großen Strukturen blickt, die das Korsett unserer Gesellschaft schnüren, landeten wir im Gespräch schnell bei Neromuns allgemeiner Sicht auf die Welt und die Menschen, die er mehr als "Vielheit" denn als einzelne Individuen betrachtet. Außerdem sprachen wir über die Wichtigkeit von Communitys, Allyship und das Verändern des eigenen Körpers.
MZEE.com: Der Begriff "Empowerment" ist sehr vielschichtig und ihm liegen verschiedene Bedeutungen zugrunde. Wie würdest du ihn für dich allgemein definieren?
Neromun: Ich hab' ein weirdes Verhältnis zu dem Begriff, weil ich damit nicht viben kann und ihn mir rational erschließen musste. Erst vor einem halben Jahr habe ich wirklich gerafft, dass der deutsche Begriff "Selbstermächtigung" ist. Das klingt nach einem Krieg mit sich selbst. Dadurch, dass der Begriff "Empowerment" so viel genutzt wird, ist er für mich immer etwas leer gewesen. Für mich geht es darum, zu raffen, dass es seit Jahrtausenden weirde Machtstrukturen gibt, die uns formen und in Konstrukte drücken. Bei Empowerment geht es darum, zu verstehen, dass ich dadurch zwar unterdrückt werde, aber mich das nicht abwertet. Im Gegenteil habe ich Qualitäten, die in diesen Strukturen nicht so anerkannt und durch meinen Kontostand nicht abgebildet werden. Trotzdem sind sie ungemein wichtig, sogar für dieselben Strukturen. Ein weiterer großer Teil sind Communitys. Dort kann man aus diesem Konstrukt ausbrechen, gemeinsam Kultur schaffen, sich confident machen und sich zeigen, dass man etwas wert ist.
MZEE.com: Du bist schon in jungen Jahren als Rapper auf der Bühne gestanden. Inwieweit hat das dein Selbstbild gestärkt?
Neromun: Rap hat mich auf jeden Fall gerettet, so cheesy das auch klingt. (lacht) Ich hätte ansonsten einfach nichts gemacht. Brent Faiyaz hat die Line: "I'd probably be dead if I was basic." Ich hab' mit zwölf, dreizehn Jahren die Fußballschuhe gegen das Mic getauscht. Vorher war ich 24/7 auf dem Fußballplatz und hab' mir dort auf ähnliche Weise Bestätigung geholt. Dann fing das Rap-Ding an und ich habe sehr schnell gemerkt, dass es für mich nichts anderes auf der Welt gibt, als Kunst-Quatsch mit Worten zu machen. Als es dann mit 16 bis 17 Jahren recht schnell mit Sichtexot und der Bühne geklappt hat, war das unfassbar empowernd. Offensichtlich war man wirklich relativ dope und Leute sahen das auch, selbst wenn ich textlich und musikalisch so weird war, wie ich es immer noch bin. Ich mache bis heute nichts lieber, als live zu performen. Dort entsteht ein ganz anderer Vibe. Als Master of Ceremony leitest du ein Ritual an und das ist auf einer metaphysischen Ebene crazy empowernd. Die Effizienz davon ist nicht messbar, aber ich glaube, dass es für alle Menschen unfassbar wichtig ist, diese Riten zu haben und Vibes zu catchen. Das gilt sowohl für mich als auch für die Zuschauenden.
MZEE.com: Viele Menschen ziehen aus Konzerten viel Energie. Da kann ein Abend Kraft für die nächste Woche geben.
Neromun: Ich finde, Partys haben das sogar noch mehr, weil es nicht diesen klaren Master Of Ceremony gibt. Es geht noch mehr um die Selbstauflösung.
MZEE.com: HipHop in seinem Ursprung ist ja ein Sprachrohr für weniger privilegierte Menschen sowie eine Kultur, in der Menschen ihre Stärken entdecken und weiterentwickeln können. Hast du die Kultur in Deutschland als empowernd wahrgenommen?
Neromun: Teils, teils. Ich bin in einer sehr weißen, deutschen Vorstadt und vor allem im Internet groß geworden. Das war natürlich nicht der HipHop, der auf Blockpartys an der Ecke gelaufen ist, wo sich gegenseitig empowert wurde. Gleichzeitig habe ich Musik mit Nepumuk gemacht, der auch mixed ist. Wir haben das Musik-Ding lange zu zweit durchgezogen, weil es in Mainz niemand anderen gab. Die Szene in Deutschland ist eh sehr pluralistisch. Von daher gibt es vermutlich unterschiedliche Antworten auf diese Frage von Leuten, die verschiedene Erfahrungen gemacht haben. Dadurch, dass es hier nicht die gleiche Schwarze Minderheit gibt wie in den Staaten und nicht die gleiche Reflexion der postkolonialen Problematik, ist HipHop hier eher ein durchgesiebtes Ding. Sehr lange gab es hier nicht das gleiche kulturelle Empowerment. Die Azzlackz organisieren sich diesbezüglich seit gut zehn Jahren. Die haben ähnliche Vibes, sind aber gleichzeitig ganz anders patriarchal als Schwarze in den Staaten. Da konnte ich mich nie wirklich anschließen. Im Internet stand zwar alles offen, aber es gab nicht wirklich Räume, in denen man zusammensteht, um Räume zu schaffen. Schwarze Menschen sind komplett entwurzelt und in der Diaspora. In den Staaten und in Jamaika hat man begonnen, quasi aus dem Nichts neue Mythen und Riten zu schaffen. Das ist ein crazy Empowerment, das hier natürlich nicht so easy übersetzt werden konnte.
MZEE.com: Ist Empowerment für dich etwas, das du mittlerweile mehr aus dir selbst oder anderen ziehst?
Neromun: Beides. Ich bin schon immer ein ziemlicher Einzelgänger und brauche viel Zeit alleine, um nichts zu tun, nachzudenken und zu kiffen. (lacht) Ich empowere mich selbst schon ziemlich, indem ich den ganzen Tag Kunst machen kann. Darin bin ich dem, was meiner Natur am nächsten kommt, sehr nah. Gleichzeitig geben Menschen wie JuJu Rogers und Slave L, der viel auf dem neuen Album produziert hat, und Räume, in denen man sich austauscht, sehr viel dazu. Jeder ist in manchen Denkweisen verkrustet und glaubt, alles schon zu Ende gedacht zu haben. Es ist wichtig, offen zu sein und Vibes von anderen zu catchen. Dann merkt man auch, dass sauviele Leute ganz ähnliche Probleme haben. Auf der Black History Month-Tour mit JuJu waren wir viel mit nicht-Weißen Menschen im Austausch. Diese Diaspora-Geschichten sind überall so hart. Du merkst, dass du mit diesen Abfucks nicht alleine bist. Und wenn du zusammensitzt und dich darüber austauschen kannst, befreit sich die Brust, man kann Jokes miteinander machen und Kultur schaffen. Von daher ist Community um einiges wichtiger, als kauzig und eigenbrötlerisch zu Hause zu sitzen. Ich lerne das gerade und versuche, das mehr zu machen. Aber Vereinzelung ist ein White Capitalism Thing. Sie führt dazu, dass du mehr konsumierst, mehr Angst hast, dich besser verkaufen und besser in die Strukturen passen willst.
MZEE.com: Welche Rolle sollten deiner Meinung nach Menschen einnehmen, die in diesem Kontext keiner marginalisierten Gruppe zugehören?
Neromun: Es geht ja nicht nur um Schwarze Menschen. Empowerment ist für alle Menschen wichtig, die nicht am Kern der Macht sitzen. Also eigentlich für alle Menschen, die nicht weiße Hetero-Männer sind, so schlimm das auch immer klingt. Aber es ist schon das Ding. Wobei, selbst weiße Hetero-Männer müssen sich gegenseitig empowern und lernen, zu unlearnen. Diese Scheiße, die man jahrtausendelang eingetrichtert bekommen hat, zu verlernen. Im Kontext von Allyship, beispielsweise bei Feminismus, ist für mich das Game, offen zu sein und betroffenen Menschen zuzuhören. Und nicht den Raum übernehmen zu wollen. Man sollte nicht glauben, dass die selbst erlernte Art, zu diskutieren, der einzige Weg sei, zur Wahrheit zu kommen. Stattdessen sollte man sich ein bisschen zurücknehmen, lernen wollen und nicht nur eigene Normative in den Raum stellen. Man kann auch for real einfach Dinge lernen: Vielleicht geht es an einem Abend mit Freund:innen nicht darum, den Nahost-Konflikt zu lösen. Vielleicht kann man einfach zusammen tanzen und singen. Das erfahre ich in Räumen, die mainly nicht weiß sind, sehr viel mehr. In hauptsächlich weißen Räumen geht es oft darum, über Diskussionen und Ratio irgendwelche Sachen zu lösen. Das sind häufig Therapie-Sessions, die nur so funktionieren. In mainly Black Räumen geht es oft viel mehr um Vibes. Davon kann man schon etwas lernen. Ich war vor drei Jahren zum ersten Mal in einem Raum, in dem nur Schwarze und Mixed Menschen waren. Also Fremde, nicht aus meiner Family. Das war eine Session mit JuJu. Ich hab' gemerkt, dass ich viel entspannter war, und zum ersten Mal einen Part mehr oder weniger gefreestylet. Selbst JuJu hat noch geschrieben, als ich schon fertig war, weil der Vibe für mich so anders war. (lacht)
MZEE.com: Du hast im Interview mit der BACKSPIN von der "Vielheit, die man ist" gesprochen. Kannst du diese individuelle Vielheit für dich beschreiben?
Neromun: Ich glaub', alles ist eine Vielheit. Dieses Denken in Einheiten ist ein Machtding, das bezweckt, Dinge entscheiden und eindeutig machen zu können. Ich denke, dass es nur Vielheiten gibt, die sich zu komplexen Vielheiten verbinden. Das gilt auch für die eigene Identität und den Körper. Der Körper ist schlecht konstruiert. (lacht) Man wächst mit dem Denken auf, dass man eine Einheit mit seinem Körper sei und da nicht raus könne. Das stimmt aber nicht. Alle Kulturen haben in allen Zeitaltern Methoden entwickelt, um da rauszukommen. Tattoos, Piercings, Brandings, Vernarbungen und so weiter. Freud würde das den Todestrieb nennen, aber eigentlich zeigt es, dass es eine Bewegung gegen die Konstruktion des Körpers gibt. Man will ein bisschen was kaputtmachen oder zumindest ändern. Genauso bekommt man im geistigen Sinne eingetrichtert, dass man eine Einheit sei. Und dass man selbst der Urheber der vielen Wünsche und Begehren sei, die existieren. Das ist aber Bullshit, weil das Unbewusste in jedem Moment arbeitet und teilweise in ein und demselben Moment Gegenteiliges will. Das Problem ist, dass das Neurosen schafft und verengt. Eigentlich sehr produktive Vielheiten werden in neurotische Identitätskonzepte gepackt – am Ende, um zu herrschen. Denn wenn man sich selbst nicht als Einheit anerkennt, erkennt man nichts als Einheit an. Und dann erkennst du auch nichts als Autorität an. Das ist ein riesiges Problem für Herrschaft. Darüber wird viel zu wenig gesprochen. Wir leben in einer sehr ödipalen Gesellschaft. Du kommst aus der Natur und fühlst dich als Baby als Teil von allem. Du erkennst dich zunächst nicht im Spiegel und siehst von oben alles als Vielheit. Nach zwölf, dreizehn Monaten spiegelst du, dass die Leute um dich herum dich erkennen. Das fällt mit dem Zeitpunkt zusammen, in dem man sich selbst im Spiegel als Einheit erkennt. Das ist der Bruch mit der Welt und das härteste Trauma. Man rafft, dass man nicht Teil von allem ist, sondern alle Menschen davon getrennt sind. Die erste Reaktion von Babys ist die ödipale Phase, in der man zurück in die Mutter will. Und dann kommt die nächste große Autorität, der Vater, der sagt, dass das nicht geht. Der erste große Wunsch, von dem man das Gefühl hat, er käme aus diesem "Ich", wird verweigert. Ab diesem Punkt haben wir ein richtiges Problem mit der Welt, weil wir unser Verlangen primär als defizitär wahrnehmen. Wir denken, wir werden verneint. Und da fängt die Neurose an. Ich glaube, dass es ein wimmelndes, horizontales Feld der Welt aus Verlangen, Wünschen und Willen gibt, die sich verbinden oder auch nicht. Shit kann passieren, aber muss nicht passieren. Und wenn etwas verneint wird, werde nicht ich verneint. Ich bin jetzt echt tief philosophisch drin und das führt sicher etwas zu weit. (lacht)
MZEE.com: Das ist auf jeden Fall eine sehr interessante Ansicht. Aber das wird sich ja vermutlich so schnell nicht ändern, oder? Die Menschen werden kaum aufhören, sich als Individuen zu betrachten.
Neromun: Oh, doch, ich glaube schon. Es gibt viele Kulturen, in denen die Individualität historisch nicht über Jahrtausende so etabliert wurde. Man merkt das schon an der Sprache. Im Deutschen steht zum Beispiel das Subjekt meist am Anfang des Satzes. Dadurch entstehen so verrückte Sätze wie "Ich liebe dich". So einen Satz mit "Ich" anzufangen … (lacht) In anderen Kulturen ist das schon etwas aufgebrochener. In asiatischen Kulturen gibt es viel mehr Kollektivismus. Auch im Buddhismus ist es ein riesiges Thema, dass das Ego eine Illusion sei und man sich davon lösen müsse. Allerdings muss man im Buddhismus seine Verlangen verneinen, weil sie böse sind. Das ist also auch etwas lebensverneinend. Ich glaube, es gibt seit dem zwanzigsten Jahrhundert sogar in Europa Bewegungen, die das Ganze verstehen und viel damit experimentieren. Auch das Trans-Ding zum Beispiel. Menschen, die sich nicht mit ihrem Geschlecht identifizieren, können ihren Körper verändern. Dass diese Leute dafür so lange kämpfen mussten, zeigt, wie patriarchal und schlimm unser ganzes medizinisches System ist. Du kommst auf die Welt und wenn dein Penis groß genug ist, wirst du für immer als Mann klassifiziert. Wo hört ein Mikropenis auf und wo fängt eine größere Klitoris an? Dieser Kampf von queeren Menschen korreliert auch mit anderen Kulturen, die nie diese binären Geschlechter kannten, sondern fünf oder sechs Geschlechter hatten, bis die Colonizer kamen und das nicht akzeptierten. Es gibt in der Welt schon immer etwas, das dagegen stand. Seit hundert Jahren diggen es auch Menschen in Europa.
MZEE.com: War es für dich als junger Mensch ein Problem, dem Bild eines Mannes entsprechen zu müssen?
Neromun: Ich hab' damit richtig Glück gehabt. Ich war immer relativ confident und musste es wahrscheinlich auch sein. Als ich sehr jung war und angefangen habe, zu verstehen, dass ich braun bin, war meine Reaktion, dass das ganze Identitätsding für mich eine Farce ist. Die Fragen kamen immer nur von außen. Von daher bin ich da relativ gut rausgekommen. Ansonsten bin ich schon immer superskinny und absolut kein männlicher Junge gewesen. Bin ich immer noch nicht, ich tue weiterhin alles dafür, keinen Bart zu bekommen, außer meinen Moustache. (lacht) Als Homies angefangen haben, mich zu dissen, weil ich skinny und ein bisschen femininer war, hab' ich die einfach brutal auflaufen lassen und sie damit konfrontiert, dass sie offensichtlich ein Problem mit ihrer Männlichkeit haben. So war ich als Dreizehnjähriger drauf.
MZEE.com: Zum Abschluss würde ich gerne noch Folgendes von dir wissen: Würdest du dich als autonomen beziehungsweise unabhängigen Menschen bezeichnen?
Neromun: (überlegt) Nee, ganz und gar nicht. Tatsächlich denke ich nicht so in diesen Begriffen darüber nach. Aber ich bin von vielem abhängig, das wir eben besprochen haben. Machtstrukturen und der Versuch, diese zu dekonstruieren und umzuändern … Ich habe schon immer das Gefühl, davon abhängig zu sein. Gleichzeitig bin ich viel direkter abhängig von anderen Menschen. Ich bin zwar relativ eigenbrötlerisch, aber habe schon immer meine zwei, drei Menschen und bin auch ein totaler Beziehungsmensch. Ich habe zwei langjährige Beziehungen hinter mir und weiß gar nicht, wie es ist, single zu sein. Ich fühle mich richtig schwach. (grinst) Dadurch merke ich, wie abhängig ich von anderen Menschen und Vibes bin. Ich bin auch sehr abhängig vom Staat. Ich weiß, wie sehr man seine eigene Unterdrückung auf eine Weise wünscht. Alles, was ich eben erzählt habe: Man konstruiert seinen Körper und ist seit tausenden von Jahren darauf sozialisiert, dass diese Konstruktion die richtige ist … Gleichzeitig spüre ich genau deswegen, dass ein großer Teil von mir in diese Form gepresst sein will, weil es sich so am einfachsten leben lässt.
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Pauline Schey)