Nacktheit fasziniert, erregt und provoziert. Sie nimmt verschiedenste Formen an und polarisiert. Sie ist der Ursprung des Lebens, die normalste Sache der Welt – und doch für viele Menschen Tabuthema Nummer eins. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich der individuelle Umgang von Menschen mit dem Nacktsein so stark voneinander unterscheidet wie bei kaum einem anderen Thema. Die einen besuchen Fetisch-Partys, auf denen sie ihre verschwitzten Körper tagelang aneinander reiben, und empfinden es als Freiheit. Auf andere wiederum kann genau diese Nacktheit so beklemmend wie ein Korsett wirken. Sie tragen sogar am Strand ein Shirt, weil das Unwohlsein, mit dem sie in der eigenen Haut stecken, einfach zu belastend ist. Die wenigsten werden mit diesem Gefühl geboren, stattdessen tritt es bei vielen Betroffenen zu Beginn oder während der Pubertät auf. Via Social Media wird mit unrealistischen Schönheitsidealen konfrontiert, die die Akzeptanz gegenüber dem eigenen Körper tagtäglich schwinden lassen. Äußere Zwänge und irrelevante Meinungen im Internet sind Gift für das eigene Körpergefühl sowie die Wertschätzung gegenüber dem eigenen Körper. Als Konsequenz müssten wir uns alle mehr von ihnen freimachen, um freier und selbstbestimmter leben zu können – und "leben" meint hier: den selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper. Das Freimachen von äußeren Zwängen und die Akzeptanz seinerselbst sind bei dem Künstler Drangsal wiederkehrende Themen. Auch er hatte Probleme, sich mit seinem Körper und sich selbst auseinanderzusetzen. Auf der Bühne durchlebte er lange Zeit das genaue Gegenteil: So war es auf Drangsal-Konzerten keine Seltenheit, sein zerissenes Unterhemd zu fangen und mit viel nackter Haut konfrontiert zu werden. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was ihn daran gereizt hat und warum er sich diesbezüglich heute eher zurückhält. Wir sprachen außerdem über Normalität und Provokation und darüber, wie schwammig deren Grenzen oft sind. Über emotionale Nacktheit und über den Struggle mit sich selbst.
MZEE.com: Wie bist du als Kind und Jugendlicher mit dem Thema Nacktheit aufgewachsen? Wenn ich mich zurückerinnere, muss ich sofort an Scham denken.
Drangsal: Wir waren keine FKK-Familie, aber es war auch nicht mit ultraviel Scham behaftet. Am ehesten würde ich das mit "ganz normal halt" beantworten, was auch immer das bedeuten soll. Es war nicht ultraprüde, aber auch nicht FKK. In meiner Jugend war ich kräftiger als jetzt, wollte aber immer rank und schlank sein wie die Sänger:innen, die ich bewundert habe. Ich war allerdings nicht bereit, keine Chips zum Frühstück zu essen – das eine und das andere zu haben, war nicht leicht. Es war auf jeden Fall einfacher, eine Packung Chips zu frühstücken, als Sport zu machen. Deswegen war ich persönlich nicht immer der größte Fan meines Körpers. Man könnte jetzt einen Deep dive machen und schauen, woher das kommt. In seinem Körper sollte man sich ja wohlfühlen. Das hätte ich auch gerne, aber so einfach ist das nicht. Es ist alles andere als leicht, zu sagen: "Ich nehm' mich, wie ich bin." (lacht) Und um alle deine Fragen vorwegzugreifen: Das ist auch der Grund, warum ich auf Fotos und in Videos oft nackt bin. Einfach, um dieses Gefühl zu erzwingen – Konfrontationstherapie. Es gibt immer noch ein bestimmtes Go-to-Bild, welches beispielsweise männliche Models haben. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber ich würde sagen, dass der Großteil schlank und rank ist. Es gibt aber auch Rapper, die keine Bodybuilder sind, und trotzdem oft topless zu sehen sind. Irgendwie finde ich das gut. Bei Indie-Bands denke ich automatisch an Måneskin – die sehen alle aus wie ausm Katalog. Aber ich finde, jede:r sollte sich ausziehen dürfen, wenn sie:er Lust dazu hat – unabhängig von der Körperform, sondern, um sich selbst zu lieben. Wenn ich Musikvideos drehe, gibt es trotzdem Szenen, bei denen ich sage: "Können wir das rausnehmen?" Weil ich denke, dass ich unvorteilhaft aussehe. Ich glaube, von diesen Zweifeln können sich die wenigsten Menschen freisprechen.
MZEE.com: Und heute? Hat Nacktsein für dich zwingend etwas mit Sexualität zu tun?
Drangsal: Nein, überhaupt nicht, aber ich bin deutlich entspannter geworden, was das angeht. Trotzdem, wie Jochen Distelmeyer gesungen hat: "Lass uns nicht von Sex reden." Ich glaube, dass das immer egaler wird, je älter man wird … hoffentlich. Wahrscheinlich gibt es aus diesem Grund so wenig junge Swinger:innen. Das sind meistens Leute, die ein gewisses Alter haben, weil sie einfach drauf scheißen und das ist ganz richtig so!
MZEE.com: Im SINUS-Podcast hast du unter anderem erzählt, dass du privat nicht gerne nackt bist.
Drangsal: Ich bin einfach superselten privat nackt. Wann ist man das denn überhaupt? Läufst du nackt durch deine Wohnung? (lacht) Ich frag' mich immer, wer das macht.
MZEE.com: Da gibt es sicher einige. Ich habe in der Vorbereitung sogar gelesen, dass ein Typ es für superwichtig hält, nackt vor dem Spiegel zu posieren, um ein Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen.
Drangsal: Ich glaube, dass es andere Wege gibt, wie man seine Zeit effektiv nutzen kann. (lacht) Ich finde nackte Körper genauso schön wie angezogene. Ich mag zum Beispiel das Gefühl, einen Kapuzenpulli zu tragen. Dann fühle ich mich einfach wohl. Früher war ich oft oberkörperfrei auf der Stage, weil es so heiß war und weil es einfach geil aussieht, sich das Unterhemd zu zerreißen. Das hat diese kitschige Dramaturgie und eine gewisse Theatralik, die ich total gerne mag. Heute mache ich das nicht mehr, weil sich nicht alle Menschen oberkörperfrei hinstellen können, ohne direkt zum Sexobjekt degradiert zu werden. Als männlich gelesene Personen können wir das viel eher – "Free the nipple", wenn du weißt, was ich meine. Deswegen war ich dieses Jahr nicht einmal oberkörperfrei on stage. Bei Musikvideos bin ich nicht so streng. Klar ist das auch öffentlicher Raum, aber irgendwie ist es ein anderes Medium, ähnlich zum Film.
MZEE.com: Könntest du dir vor diesem Hintergrund zum Beispiel vorstellen, in einem Porno mitzuspielen oder alternativ im Stripclub aufzutreten?
Drangsal: Ich passe, was die Frage angeht. (lacht)
MZEE.com: Kommen wir zu deinem neuen Album, welches ungeschönt ehrliche und persönliche Einblicke in dein Inneres liefert. Es handelt von Selbstzweifeln, Identitätssuche und Selbstermächtigung. Wie leicht oder schwer fiel dir dieser öffentliche Seelenstriptease?
Drangsal: Für mich geht es nicht anders. Ich hab' nichts anderes anzubieten als mich selbst. Das ist doch auf eine Art auch Musik, oder? Über was soll ich denn sonst singen, über meine Häuser und meine Autos? Ich hab' nicht mal 'nen Führerschein. Ein Großteil meiner Persönlichkeitsentwicklung hat unter dem Auge der Öffentlichkeit stattgefunden. Für mich heißt das, dass ich sehr gut nachvollziehen kann, wer ich wann war und was ich zu bestimmten Zeiten für richtig oder falsch gehalten hab'. Und natürlich ekelt mich die Person, die ich mal war, auch an. Das ist mein täglicher Grind, mein Therapiethema und meine Paranoia. Wir leben in einer Gesellschaft, die Leute nicht anhand ihres Wachstums oder des Istzustands bewertet, sondern immer anhand von dem, was war. Ich habe mir früher so viele Türen zugenagelt, so viele Brücken abgebrannt und so viele Rettungsseile abgeschnitten … Mittlerweile ist das kein Problem, weil: I will own up to it und das ist ok. Ich will aber auch zeigen, dass man nicht immer dieselbe Person ist. Das fände ich superlangweilig. Andere mussten nicht erst knapp dreißig werden, bis sie diese Erkenntnisse hatten. Die waren nie so messed up wie ich. Ich war heute mit einem meiner besten Freunde aus der Heimat spazieren. Es ging um den Umgangston in unserer Clique und auf unserer Schule: Der war einfach viel, viel schroffer und gnadenloser, als es sich gehört. Dazu kommen dann noch Einflüsse wie das Internet oder South Park. Mit 15 kannst du nicht abstrahieren, was ein schlauer ironischer Kommentar und was blanke Provokation ist. Zusätzlich hab' ich mir Punk, Kunst und sonst was reingezogen – da kann es passieren, dass man schwierig wird. Irgendwann merkt man, dass das nicht der schönste Weg ist. Ich glaube aber auch, dass es zum Leben dazugehört, Scheiße zu bauen und auf die Schnauze zu fallen. Danach gibt es keine andere Wahl, als sich nackt zu machen. Über was soll ich also sonst singen?
MZEE.com: In der Dokumentation zu "Exit Strategy" erzählst du, dass du das Gefühl hast, niemandem mehr etwas beweisen zu müssen. Das, was du gerade gesagt hast, vermittelt einen ähnlichen Eindruck.
Drangsal: Es ging mir dabei vor allem darum, dass ich nicht mehr das Gefühl habe, dass ich mich künstlerisch und musikalisch in eine Form reindrücken muss, die ich nicht sehe. Die meisten Leute hätten sich gewünscht, dass "Allan Align II" oder so etwas kommt, aber I can't. Ich habe neulich ein sehr langes Gespräch mit Markus Ganter geführt, dem Produzenten meines ersten Albums. Da ging es auch genau darum. Mit dem Projekt "Drangsal" habe ich schon so viel erreicht, dass alles, was noch passiert, Zubrot ist. Ich merke momentan, dass ich keinen Grund habe, noch mal dahinzugehen, wo ich schon war. Leute können mir heute von mir aus auch Klüngelei mit dem Schlager vorwerfen – I'm over it. Bei der zweiten Platte wäre ich bei so etwas total außer mir gewesen. Das einzige Stilmittel, das ich habe, ist Übertreibung, also viel zu viel Aufstrich auf dem Brötchen. Nicht ein oder zwei Chöre, sondern ein "Oh, oh, oh" in jedem gottverdammten Song – am Ende des Tages ist das auch wieder Provokation.
MZEE.com: Deine Videoauskopplungen unterstreichen den Eindruck, dass es dein bisher intimstes Projekt ist. Ich finde, dass sie weniger provokant sind als früher. Damals wirkte der Aspekt des Nacktseins gepaart mit den BDSM-Elementen wie eine klare Provokation. Heute scheint es, als würdest du die Normalität des Nacktseins zelebrieren. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Drangsal: Tolle Frage! Es gibt ein Musikvideo zum Song "Sirenen" von "Zores", welches nicht veröffentlicht wurde. Das habe ich zusammen mit einem Künstlerkollektiv gedreht, das sich Frankfurter Hauptschule nennt. Darin ist alles gegipfelt, was du über meine alten Videos sagst, also Nacktheit im Sinne der Provokation. Da waren nackte Frauen und nackte Männer, wirklich alles Mögliche. Um zurückzukommen: Ich hatte keine Lust, ein Klischee zu sein. "Provokante Videos", die es gar nicht sind, weil Nacktheit an sich nichts Provokatives ist. Und weil das Video die falschen Signale gesendet hat, haben wir es verworfen. Im Video zu "Exit Strategy" war Nacktheit dann eher Mittel zum Zweck, um darzustellen, dass ich immer mehr mit den Krisen der Welt verschmelze und dahinter verschwinde. Bei "Mädchen sind die schönsten Jungs" war es dem Styling geschuldet, dass ich halb nackt zu sehen war. Ich bin in meine Musikvideos mittlerweile so wenig involviert, das ist crazy.
MZEE.com: Ich höre da heraus, dass du dich, obwohl du auf "Urlaub von mir" das Gegenteil behauptest, vielleicht doch ein bisschen an dich selbst gewöhnt hast?
Drangsal: Ja, nein, ja. Viel mehr ist es der Wunsch, fliehen zu können, gepaart mit dem Wissen, dass das nicht geht. Es ist also eher Resignation … (lacht) So ist das Leben, es geht auch schlimmer. Ich habe eh das Gefühl, dass die Zeiten, in denen es mir gut ging, eher trügerisch waren. Man sollte sich aber, vor allem was Körperlichkeit angeht, kein Beispiel an meinen Unsicherheiten nehmen und sich so akzeptieren, wie man ist, statt sich irgendwelchen blödsinnigen und altbackenen Vorstellungen zu unterwerfen. Bezüglich der emotionalen Nacktheit sollte das auch jeder selbst entscheiden. Da muss man sich überlegen, wie wichtig es einem ist, bestimmte Dinge nach außen zu tragen. Ich habe einfach nichts anderes, über das ich in meiner Musik sprechen möchte. Jeder Mensch zweifelt ja. Vielleicht nicht so herb wie ich, aber so ist das halt.
MZEE.com: Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Nacktheit unterscheidet sich stark von deiner. Woran, meinst du, liegt es, dass in modernisierten Ländern eine so große Ablehnung gegenüber dem Nacktsein besteht?
Drangsal: Das weiß ich nicht … Am Internet, am Fernsehen, an Magazinen, an den Zeitungen. Das wäre meine Vermutung, so ist es zumindest bei mir.
MZEE.com: Social Media spielt sicher eine entscheidende Rolle und die Probleme, die das mit sich bringt, äußern sich mitunter in zunehmenden Suizidversuchen und Suiziden unter Jugendlichen.
Drangsal: Ich weiß nicht, ob man da unbedingt die Brücke zu Körperlichkeit schlagen kann. Das ist sicher ein komplexes Faktorenbild und Körperlichkeit ist einer davon. Auf Social Media versucht sich ja jede:r, so gut es geht, darzustellen.
MZEE.com: Was müsste sich ändern, um dem entgegenzuwirken?
Drangsal: Da bin ich nicht der richtige Ansprechpartner. Ich finde es generell ziemlich lustig, dass ich in jedem Interview gefragt werde, was sich ändern muss. Dabei versuche ich mir auf Fotos ja auch immer selbst zu gefallen. Vielleicht müssten wir alle einfach mehr Mut zur Wahrheit haben.
MZEE.com: Ich finde aber, dass du eine weniger toxische Nacktheit reproduzierst, als es ein Cristiano Ronaldo tut.
Drangsal: An mir sollten sich die Leute auch kein Beispiel nehmen. Fuck it. Ob man jetzt groß, klein, dick, dünn oder was auch immer ist, das ist egal. Ich habe zum Beispiel dumme Tattoos. Ich kaue Fingernägel. Ich habe Geheimratsecken. Ich habe Neurodermitis. Und das alles ist egal – who cares? Der Song "Ich bin nicht so schön wie du" ist der, auf dem ich das alles geparkt habe. Mit solchen Dingen sollte man sich nicht aufhalten. Es gibt schlauere Arten und Weisen, seine Zeit zu investieren: Man kann Bücher lesen oder Serien schauen. Man kann sich politisch fortbilden oder lernen, wie man gut kocht. Einen Führerschein machen, Leuten helfen, die benachteiligt sind, aber nicht den ganzen Tag im Internet rumhängen und sich denken: "Warum bin ich hässlich?"
MZEE.com: Leichter gesagt als getan.
Drangsal: Ja, voll! Aber das ist zum Beispiel genauso, wie mit dem Rauchen aufzuhören. Man muss einfach durch den Cold Turkey. Man sollte nichts exzessiv machen. Man sollte nicht exzessiv trinken. Man sollte nicht exzessiv rauchen und man sollte nicht exzessiv auf Instagram hängen. Ich habe mir ein Zeitlimit von einer Stunde gestellt und das versuche ich einzuhalten. Natürlich gelingt mir das nicht immer, aber ich versuche, mich so gut es geht, daran zu halten. Eine Stunde ist schon viel und die hat man schnell zusammen. Du stehst auf und schaust sofort aufs Handy – that's not a good thing. Das muss man sich einfach abtrainieren. Wir leben in einer Welt voller Reizüberflutungen und merkwürdiger Sachen wie Serverfarmen, Informationsüberfluss und Nacktheit im gläsernen Sinne. Ich bin dafür, dass man sich da ein bisschen rausnimmt und die Apps auch mal löscht. Dann merkt man, dass Twitter, Instagram und so weiter nicht das echte Leben sind. Dann kommt man auch wieder besser bei sich selbst an. Ich glaube, das ist ganz gesund. Und ich weiß, dass das tendenziell schlauer ist, aber ich schaffe es natürlich auch nicht immer.
MZEE.com: Kommen wir langsam zum Ende. Ich bin während der Recherche auf ein Zitat von Josephine Baker gestoßen und musste sofort an dich denken. Sie sagte schon in den 1920er Jahren: "Ich war nie wirklich nackt. Ich hatte einfach keine Kleidung an." – Erkennst du dich selbst auch in dieser Aussage wieder?
Drangsal: Ich finde, das ist ein schöner Satz. Ob ich mich selbst darin erkenne, weiß ich nicht – da müsste ich länger drüber nachdenken. Meine Antwort lautet: Ja, nein, vielleicht.
MZEE.com: Eine bessere Antwort hättest du nicht geben können, um deine innere Zerrissenheit noch mal nach außen zu tragen.
Drangsal: Das möchte ich wohl hoffen. (lacht)
(Jonas Jansen)
(Fotos von Max vom Hofe)