Am 31. März 2020 befanden sich in Deutschland 46 054 Gefangene und Verwahrte in Justizvollzugsanstalten – der Großteil von ihnen im geschlossenen Vollzug. Diese Zahl übersteigt die Auslastungskapazität des Vollzugssystems seit Jahren. Wozu das führt, wird unter anderem in einem ZEIT-Interview mit Jörn Patzak, dem Leiter der JVA Wittlich, deutlich. Nachdem er seiner JVA schmeichelhaft attestiert, dass es bei ihnen nicht bedrückend sei, sondern eher wie im Krankenhaus, gibt er wenige Sätze später zu, dass sie Einzelhafträume doppelt belegen, wenn es zu Überbelegungssituationen kommt. Konkret bedeutet das: Zwei Erwachsene teilen sich eine Elf-Quadratmeter-Zelle – inklusive Toilette.
Die massive Überbelegung und die damit einhergehenden Umstände sorgen unter anderem für steigenden Drogenkonsum und erhöhte Gewaltbereitschaft in den Gefängnissen. Als Konsequenz folgen überdurchschnittlich hohe Suizidraten, welche auch im innereuropäischen Vergleich sehr hoch ausfallen. Eine Resozialisierung, wie sie nach § 2 des Strafgesetzbuchs angestrebt wird, ist – unter diesen Umständen – kaum möglich. Dafür sprechen vor allem die enorm hohen Rückfallquoten von etwa 45 Prozent, welche bei kleineren Straftaten wie Raub sogar höher ausfallen. Dass ein bedeutender Teil dieser Straftaten aus einer Suchterkrankung heraus begangen wird, wird von den Hauptverantwortlichen seit Jahrzehnten ignoriert. Zum Glück gibt es Personen, die sich für Betroffene einsetzen und den Kampf für eine bessere Resozialisierungskultur zu ihrem eigenen gemacht haben – unter ihnen $ick und Paul Lücke von Stigma e.V.
$ick rauchte mit 15 Jahren zum ersten Mal Heroin und landete ungewollt, unwissend und minderjährig in einer Sucht, die ihm fast das Leben nahm. Dieses bestand danach aus zwei Dingen: der Finanzierung und dem Ausleben seiner Abhängigkeit. In der Folge saß er in fünf verschiedenen Gefängnissen und nahm an zahlreichen freiwilligen, aber erfolglosen Entgiftungen teil. 2012 begann er gemeinsam mit Paul Lücke an seiner autobiografischen Serie "Shore, Stein, Papier" zu arbeiten, welche über einen Subchannel von 16BARS ausgestrahlt wurde. Drei Jahre später wurden sie für ihre Arbeit mit dem mehr als verdienten Grimme Online Award ausgezeichnet. Die Serie und den mit ihr einhergehenden Meinungsaustausch in den Kommentarspalten nahmen sie als Anlass, um Stigma e.V. zu gründen. Gemeinsam wollen sie den Menschen hinter dem Stigma mit all seinen Emotionen, Motiven und Identitäten sichtbar machen, um Ängste zu nehmen und einen progressiveren Austausch zu ermöglichen. Mittlerweile ist er darüber hinaus auch Autor und Interviewer in der deutschen Rapszene. Wir sprachen mit $ick über seine besondere Lebensgeschichte, bevor wir die Aktualität von Freiheitsstrafen und die aus ihr gewachsenen Resozialisierungsmöglichkeiten gemeinsam mit Paul Lücke diskutiert und infrage gestellt haben. Anschließend haben wir festgestellt, dass gemeinnützige Vereine in diesem Prozess nicht nur wichtig, sondern unabdingbar sind.
MZEE.com: Erst mal zu deiner Geschichte. Wie alt warst du, als du das erste Mal ins Gefängnis gekommen bist? Weswegen wurdest du damals verurteilt?
$ick: Es war kurz vor meinem 19. Geburtstag. Laut Anklage waren es 16 Einbruchsdelikte, Schwarzfahren, Ladendiebstahl und so weiter … meine gesammelten Werke der vorherigen vier Jahre. Ein paar gemeinschaftliche Einbrüche und ein paar Einzeltaten. Es ist auch viel Kleinkram, der schon ein bisschen zurücklag, in die Anzeige miteingeflossen. Die Kleinigkeiten wie Schwarzfahren wurden in den Strafzusammenzügen ein bisschen komprimiert. (Anm. d. Red.: Wenn mehrere Straftaten begangen wurden, besteht nach § 53, 54 StGB die Möglichkeit, eine Gesamtstrafe zu bilden.) Für diese Paletten an Einzeltaten bin ich ins Gefängnis gegangen.
MZEE.com: Während meiner Recherche habe ich oft gelesen, dass der erste Gefängnisaufenthalt für viele Inhaftierte der Schlimmste gewesen sei, weil sie das erste Mal in ihrem Leben mit einem solchen Ausmaß an Gewalt und Unterdrückung konfrontiert wurden. Wie ist es dir ergangen? Du warst schließlich erst 18.
$ick: Der Jugendvollzug ist ein Ding für sich. Da ist alles ein bisschen stressiger. Der Titel sagt es schon: "Jugendliche" – jeder versucht, geiler zu sein als der andere. Man will sich nichts sagen lassen, schon gar nicht von Gleichaltrigen. Auch die Beamten nimmt man oft nicht ernst. Die Wahrscheinlichkeit, dass du da unterdrückt wirst, ist hoch. Dieses jugendliche Profilieren ist im Knast ganz extrem. Trotzdem muss ich sagen, dass ich das zwar mitbekommen habe und selbst an kleineren Schlägereien beteiligt war, das im Großen und Ganzen aber an mir vorbeiging. Man kriegt es trotzdem mit. Wir hatten einen in der Gruppe, der prädestiniert dafür war, unterdrückt zu werden. Im Knastjargon: der Dulli der Truppe. Ein Mithäftling hat ihn mit einem breiten Grinsen im Gesicht putzen lassen und stand hämisch daneben. Das wurde von einem anderen Häftling unterbunden, weil er noch stärker war. Er war nicht nur der Stärkste in der Gruppe, sondern im ganzen Vollzug. Wenn sein Name in Bezug auf Stress und so genannt wurde, kam sofort das Rollkommando. Der Kollege hat sich immer dafür starkgemacht, dass in seinem Beisein niemand unterdrückt wird. So hat sich das innerhalb der Gruppe eigentlich von selbst geregelt. Im Erwachsenenvollzug ist es eher so, dass die Leute ihre Ruhe haben wollen. Draußen ist genug Stress. An der Knast-Tür endet das. Solange man drin ist, ist man verbündet, hilft sich und arbeitet zusammen. Das ist vor allem unter den richtig alten Knackis, den "Ehrenmännern", so. Das heißt nicht, dass die Probleme von draußen vergessen sind. Ist man wieder draußen, sind sie wieder da, wenn du dein Leben nicht völlig umgekrempelt hast und nach der Entlassung sofort abhaust. So kommst du drum herum. Aber im Normalfall ist das nicht so. Trotzdem ist unter den erwachsenen Knackis weniger Stress als im Jugendvollzug.
MZEE.com: Nach deiner Entlassung wurdest du schnell wieder verhaftet und hast in der Folge über insgesamt sieben Jahre in fünf verschiedenen Gefängnissen gesessen. Wie hast du den ständigen Wechsel zwischen Freiheit und Gefängnis in einer so wichtigen Entwicklungsphase empfunden?
$ick: Das ist, wie wir beim Erstellen der Serie festgestellt haben, ein Prozess. Während ich vier Jahre lang Scheiße gebaut habe, war schon klar, dass ich irgendwann in den Knast gehe. Man redet sich ein, dass einen niemand erwischt, weil man ja sowieso der Geilste ist. Irgendwann kommt dann der erste Knast. Aus Hameln bin ich ja sogar mit ein paar anderen Häftlingen geflohen. Ich hab' mich in dem Moment gefühlt wie ein richtiger Gangster und auf den Knast geschissen. So bin ich wieder rausgekommen und habe mich dementsprechend verhalten. Der Weg zum nächsten Knast wird so natürlich kürzer, aber an der Stelle hab' ich schon akzeptiert, dass das dazugehört. So läuft es, ob bei Männern oder Frauen, gerade bei denen, die in einer Sucht stecken. Die werden auch Straftäter und Straftäterinnen und zwar dauerhaft. Der Tag beginnt und endet mit einer Straftat – ganz normal. Bei so einem Lebensstil oder Verhalten ist es nur logisch, dass der Vollzug dazugehört. In Hameln hab' ich gemerkt, dass der Knast gar nicht so schlimm ist, wie ich dachte. Die haben mir da nichts getan – endlich mal 'ne Pause. Mit dem Spruch bin ich bei der letzten Inhaftierung ausgestiegen. Ich hab' mich auf dem Knasthof gestreckt und zu den Wärtern gesagt: "Boah, endlich zu Hause." Natürlich hätte ich in dem Moment heulen können, aber ich wollte ihnen noch einen reindrücken. Aber es ist schon so, dass man vorm Reingehen weiß: "Ich kenn' da mindestens 15 Leute." Dann ist das schon eine Art Zuhause.
MZEE.com: Für mich klingt das nach einem Teufelskreis. Man kommt wegen einer Drogenerkrankung und der daraus resultierenden Beschaffungskriminalität ins Gefängnis. Dort hält man sich mit Medikamenten und Alkohol über Wasser, um die vorherrschende Gewalt zu ertragen. Nach der Entlassung kehrt man in alte Kreise zurück und greift wieder zur Droge.
$ick: Im Knast hat sich nichts geändert, denn das ist nicht die Aufgabe vom Knast. Die Aufgabe heißt: Verwahren bis zum Entlassungsdatum. Es kostet extrem viel Geld und Personal, dem einzelnen süchtigen Knacki eine Perspektive zu geben. Wie willst du das denn machen? Die meisten, die sitzen, mich eingeschlossen, wissen eh nicht, was sie mal machen wollen. Ich wusste das nicht mal im Ansatz. Für acht Euro bei EDEKA Regale einzuräumen, kommt nicht mehr in Betracht, wenn du jahrelang anders Geld besorgt hast. Zum Teil mit einer Tat mehr, als du da im ganzen Monat verdienst.
MZEE.com: Würdest du sagen, dass Süchtige einen besonders schwierigen Resozialisierungsprozess auf sich nehmen müssen?
$ick: Sie haben zusätzlich ihre innere Barriere zu überwinden. Das ist erst mal die Hauptaufgabe. Du musst mit dir und deiner Sucht umgehen können. Dann ändert sich automatisch alles – ist ja bei mir genauso gewesen. Du musst nur dranbleiben und versuchen, dich an einen Lichtblick zu klammern. Leider ist die Perspektive, die du hast, aber nur scheiße. Du erhältst 500 Euro Überbrückungsgeld und da hört die Hilfe dann auf. Landest dann vielleicht in einer Unterkunft, vielleicht im Obdachlosenauffanglager oder Ähnlichem – 'ne Wohnung gibt dir ja ohne Perspektive auch niemand. Dann sitzt du in deiner kleinen verwahrlosten Bude und denkst dir: "Im Knast war es besser." Natürlich ist man auch selbst verantwortlich, aber es wird einem extrem schwer gemacht. Nach dem Jugendvollzug habe ich befürchtet, dass ich unter Aufsicht oder sowas komme, aber es ist einfach gar nichts passiert. Ich kam damals aus einem Jugendvollzug, der sich "modernster Jugendvollzug Deutschlands oder sogar Europas" geschimpft hat. Und für die Gefangenen ist einfach gar nichts passiert. Nichts. Einfach nur Absitzen im Gruppenvollzug.
MZEE.com: Und das, obwohl die Resozialisierung und ein künftiges Leben ohne Straftaten nach § 2 des Strafvollzugsgesetzes das oberste Ziel des Strafvollzugs darstellt.
$ick: Ja, das Gesetz sagt das. (lacht) Und dann gibt es einen einzigen Sozialarbeiter und du und alle brauchen theoretisch von ihm ein ganzes Paket von Hilfestellungen. Sei es die Vorbereitung auf die Entlassung oder einfach, jemanden an der Seite zu haben. Oder Unterstützung bei Telefonaten, die man aus dem Knast heraus führen muss, um schon vor der Entlassung einen Job zu finden, um ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Aber wie willst du dich zu so etwas im Knast motivieren? Sicher gibt es korrekte Sozialarbeiter, die dir gerne wirklich helfen würden, aber um so einen zu bekommen, musst du drei Formulare ausfüllen und vier Wochen warten. Und dann sitzt er in einem System mit einem aberwitzigen Personalschlüssel. Die Motivation ist dann schon lange verflogen. Also musst du total hinterher sein und am besten Hilfe von draußen haben. Der Vollzug kümmert sich nicht. Das Ding ist, dass die wenigsten Wiederkehrer, die regelmäßig rein- und rausgehen, überhaupt so etwas wie Familie haben. Wirklich die Allerwenigsten. Eine Frage, die wir uns auch in Seminaren immer wieder stellen, ist: "Wie kann die Gesellschaft das überhaupt leisten – die Wiedereingliederung von Straffälligen?" Sei es erst mal nur von den süchtigen Straftätern, bei denen man die Erkrankung als Anrecht auf eine Sonderbehandlung nehmen würde. Da muss man beachten, dass in vielen Vollzügen mindestens 90 Prozent der Leute süchtig sind. Das muss man auch mal dazu sagen. Da würde fast jeder diese Sonderbehandlung bekommen und der Aufwand ist immens. Und noch kurz zum Strafgesetzbuch: Da steht unter anderem auch drin, dass die Gefangenen mit einem guten Hungergefühl zu Bett gehen sollen … Da weißt du schon Bescheid. (lacht)
MZEE.com: Immer mehr Expert:innen fordern daher eine Entkriminalisierung von und kontrollierte Abgabestellen für Drogen. Würdet ihr, auch in Anbetracht von $icks Geschichte, sagen, dass das Gefängnis eine zeitgemäße Bestrafung darstellt?
Paul: Die Abhängigkeit selbst kann im Gefängnis gar nicht bekämpft werden. Auch wenn es Programme gibt, die man durchlaufen kann, ist man immer noch im Gefängnis. Man ist in der Bestrafungssituation. Das Verhältnis zum Staat und der Gesellschaft ändert sich dadurch nicht. Im Gegenteil: Es bestärkt den Abhängigen darin, sich immer weiter von der Gesellschaft zu entfernen. Sobald er wieder rauskommt, ist er zumeist von den Strukturen vollkommen überfordert, weil er vorher im geschützten Rahmen war. Es ist einfach notwendig, dass eine Durchlässigkeit in die Gesellschaft etabliert wird. Für suchterkrankte Menschen muss es andere Institutionen geben, die wesentlich stärker an die Gesellschaft angebunden sind, sonst kommt zum Stigma des Süchtigen auch noch das des Kriminellen hinzu. So wird das Paket für das Individuum immer schwerer. Gleichzeitig liefert das Gefängnis zu wenig Hilfe, um denjenigen auf das Leben draußen vorzubereiten. Man sollte zum Beispiel viel mehr über gemeinnützige Arbeit als Strafform nachdenken und dafür Strukturen schaffen.
$ick: Die Gesellschaft müsste auch ein bisschen mehr aufmachen. Wir haben in Deutschland so viele Suchtbetroffene. Und es gibt so viele, die selbst abhängig sind und so tun, als wäre das nicht so. Die nehmen abends Tabletten zum Einschlafen und morgens welche zum Aufwachen. Oder sei es einfach Kaffee, Tabak und Schnaps – egal was, von mir aus auch Schokolade. Wenn jeder ein bisschen vor seiner eigenen Tür kehren und die Erkrankung Sucht verstehen würde, statt sie zu verurteilen, wäre schon einiges getan. Die Gesetzgebung ist aber so, dass sie alles, was mit Drogendelikten zu tun hat, verurteilt. Selbst wenn du nur der beschissene Konsument bist und aus einer Sucht heraus handelst. Aber das interessiert halt keinen und niemand will sich selbst irgendwas eingestehen, weil das eigene Leben ja funktioniert.
MZEE.com: Das erste europäische Land, das diesen Weg eingeschlagen hat, war Portugal. 2001 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den Besitz sowie Konsum von Drogen in bestimmten Mengen entkriminalisiert. Sollte eine Person mit einer ordnungswidrigen Dosis erwischt werden, wird sie zum "Ausschuss zur Bekämpfung der Drogensucht" vorgeladen. Dort entscheiden Jurist:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, wie problematisch der Drogenkonsum der betroffenen Person ist. Sie klären über Gefahren auf und bieten Therapien an. Würdest du dir eine solche Vorgehensweise von staatlicher Seite auch in Deutschland wünschen?
Paul: Ich würde noch mal zurück zur Frage gehen, wie Andre (Anm. der Red.: $icks bürgerlicher Name) den Knast erlebt hat, denn das spielt da ja mit rein. Ein Abhängiger kommt das erste Mal ins Gefängnis, aber was macht das eigentlich mit ihm? Man muss dazu sagen, dass Andre ein spezieller Fall ist. Er hat ein großes soziales Talent und ist ein absoluter Lebenskünstler. Egal, in welcher Kloake er aufwacht – er schafft es, dort Blumen zu pflanzen. Er kommt einfach in sozialen Strukturen zurecht. Sogar im Gefängnis. Deswegen klingt das bei ihm alles entspannter. Aber das ist natürlich nicht bei jedem so. Man muss sich nur einen Abhängigen vorstellen, der weniger robust und kreativ ist. Der vielleicht auch psychisch angeschlagen und mit den Strukturen überfordert ist. Der wird niemals in der Lage sein, in dieser Situation an sich selbst zu arbeiten, weil zur Sucht eine Traumatisierung hinzukommt. Es ist naheliegend, dass das Gefängnis für einen Menschen kein Ort ist, um gesund zu werden. Denn es muss beim Abhängigen um die Gesundung gehen. Sucht ist eine Krankheit und genau deswegen ist das Portugal-Modell richtig und wichtig. Es gibt dazu ein großartiges Buch von Thomas Galli, einem ehemaligen Gefängnisdirektor – unbedingte Leseempfehlung. Er sagt im Endeffekt, dass Gefängnisse für viele Inhaftierte abgeschafft werden sollten, weil es die meisten von der Resozialisierung wegführt und eine mögliche Schuld nicht direkt dort abgegolten wird, wo sie verursacht wird. Man muss überlegen, wie sie der Gesellschaft wieder etwas geben können. Man muss sie wieder in die Gesellschaft aufnehmen und integrieren. Da sind wir dann beim Resozialisieren. Im Gesetzestext ist das nur eine Floskel. Was faktisch passiert, ist, dass diejenigen, die ins Gefängnis kommen, traumatisiert und kaputt wieder rauskommen und zumeist noch krimineller werden als vorher. Andere werden erst im Gefängnis abhängig, weil man dort fast leichter an Drogen kommt als draußen. Die Gesellschaft muss sich mit alldem weitaus facettenreicher auseinandersetzen. Mit Fachwissen, Psychologen, Sozialarbeitern, Juristen und vor allem individuell. Genauso, wie es in Portugal passiert. Bei uns werden sehr unterschiedliche Individuen in Strukturzwänge gepresst und am Ende soll eine Resozialisierung stattfinden. Das kann ja gar nicht funktionieren, alleine weil jeder unterschiedliche Hintergründe und mentale Kapazitäten hat. Gefängnis ist weder der Weg zur Gesundung des abhängigen Menschen noch zur Abgeltung von Schuld an der Gesellschaft. Die bekommst du nur, wenn du langfristig mit den Individuen zusammen an ihrer Gesundung und Resozialisierung arbeitest.
MZEE.com: In den letzten Jahren haben sich immer mehr gemeinnützige Vereine die Resozialisierung zur Aufgabe gemacht, um bessere Wege anbieten zu können als der Staat derzeit. Ihr engagiert euch diesbezüglich mit Stigma e.V. Könnt ihr das Projekt und eure Ziele kurz beschreiben?
Paul: Wir haben zusammen "Shore, Stein Papier" gestartet. Schon damals war es unser Ziel, aufzuklären und zu zeigen, dass hinter der Abhängigkeit ein Mensch wie du und ich steckt – mit Sehnsüchten, Träumen, Freunden und Familie. Alles, was einen Menschen auszeichnet eben. Abhängige sind keine defizitären Wesen, sondern Menschen wie wir alle. Sie sind einer Krankheitsdynamik unterlegen und diese Dynamik darzustellen, war der Ansatz von "Shore, Stein, Papier". Am Anfang wussten wir nicht, wie das angenommen wird, aber wir haben schnell gemerkt, dass es genau so etwas braucht. Die Leute haben sich unter den Videos über ihre eigenen Geschichten ausgetauscht und das als Anlass genommen, den Weg der Gesundung einzuschlagen. Wir hatten ein Aufklärungsmoment und wurden als Vorbild wahrgenommen – das hat uns deutlich gemacht, dass es einen Riesenbedarf an Aufklärung gibt. Und diese wollten wir auf institutionelle Beine stellen. Dabei geht es nicht nur um das Phänomen Drogenabhängigkeit, sondern den gesamten Prozess der Stigmatisierung und der Aufgabe, als Gesellschaft anders miteinander umzugehen. Deswegen heißen wir auch Stigma e.V. Wir haben mit "Komm lieber Tod" eine zweite Biografie-Serie gemacht, in der es um Depressionen und einen Suizidversuch geht. Diese psychischen Probleme werden allesamt stigmatisiert, was uns als Gesellschaft daran hindert, progressive Wege einzuschlagen. Zum Beispiel anders über das Gefängnis oder den Umgang mit psychischen Erkrankungen im Gesundheitssystem nachzudenken. Die Säulen, auf denen unser Projekt steht, sind die mediale Aufklärung in Form von Filmproduktionen und Dokumentationen und die Bildungsarbeit an Schulen, Universitäten, bei FSJ-Seminaren oder in der Kinder- und Jugendhilfe. Dort wollen wir ermöglichen, dass aus Geschichten aus dem Leben, also aus den Lebenserfahrungen anderer, gelernt werden kann. Dieses pädagogische Konzept haben wir schon mit "Shore, Stein, Papier" versucht, anzustoßen. Wir wollen Werkzeuge an die Hand geben, um sich gegenseitig zu unterstützen, die Chance der sozialen Gruppe zu nutzen und sozial-, bildungs- und gesundheitspolitisch als Gesellschaft etwas zu verändern. Daran arbeiten wir täglich und entwickeln weitere Unterrichtsmodelle für Schulen oder Doku-Formate für unseren geplanten YouTube-Channel.
$ick: Genau. In den Schulen kamen selbst von den größten Idioten irgendwann Fragen. Also von denjenigen, die die erste halbe Stunde Kaugummi schmatzend in der letzten Reihe sitzen und die Füße hochlegen. Am Ende sitzen sie ganz vorne, stellen die meisten Fragen und melden sich sogar, statt einfach dazwischen zu quatschen. Ich weiß noch, dass ein Rektor mal meinte: "Unglaublich. Die zehn größten Pflegefälle unserer Schule sitzen in der ersten Reihe, melden sich und machen keinen Scheiß." (lacht) So kriegt man auch die Jungs und Mädels, die schon auf dem falschen Weg sind. Man holt sie einfach ab, weil ich einer von ihnen bin und wir mit ihnen und nicht über sie reden.
MZEE.com: Eure Biografie-Serie "Shore, Stein, Papier", mit der ihr 2015 den Grimme Online Award gewinnen konntet, spielte bei der Entstehung also eine große Rolle. $ick, inwieweit hat dir das Reflektieren der Vergangenheit vor laufender Kamera geholfen, Stigmata gegenüber deiner eigenen Person abzubauen?
$ick: Ich hatte diese Rolle eigentlich komplett angenommen und keinen Ausweg gefunden. Im Grunde kann ich es so auf den Punkt bringen, dass die dreieinhalb Jahre mit Paul und das Erzählen meiner Geschichte die erste ehrliche Auseinandersetzung in meinem Leben war. Das chronologische Aufarbeiten gepaart mit dem ständigen Hinterfragen von Paul bezüglich meiner Emotionen war heftig. Vorher war es mir scheißegal. Es war mir auch egal, dass alle Leute wussten, dass ich süchtig bin. Man hat es mir ja extrem angesehen. Das war für mich normal, aber dieser Damm ist beim Erzählen der dritten Staffel gebrochen. In der hab' ich von meiner Koks-Phase, über die ich vorher nie gesprochen habe, erzählt. Trotzdem würde ich sagen, dass ich zu dieser Zeit, während der ersten drei, vier Jahre von "Shore, Stein, Papier", am liebsten jeden Tag rückfällig geworden wäre. Ich war zu dem Zeitpunkt emotional noch auf der anderen Seite und habe mich nur daran festgehalten, dass es sich von Tag zu Tag leichter angefühlt hat. Danach ist durch das Nüchtern-Sein eine schwere Depression ausgebrochen, von der ich vorher auch nie erzählt habe. Die kam, als ich für vier Wochen im Urlaub in Griechenland war. Das war ein Turning Point. Es war Nebensaison und außer mir, ein paar Hunden und dem Meer war niemand da. Ich war wirklich einsam und hatte plötzlich Platz für diese Depression. An der Stelle ist mir klar geworden, dass ich das Projekt weiterführen muss. Ich wollte es unbedingt zu Ende bringen, weil ich gemerkt habe, dass ein Prozess in Gang gesetzt wurde. Endlich habe ich mich meinen Problemen gestellt.
MZEE.com: Zum Abschluss: Was würdest du dem 18-jährigen Andre Welter und allen, die sich in einer ähnlichen Lebenslage befinden, aus heutiger Sicht raten? Denn was auch klar ist: Weder der Staat noch gemeinnützige Vereine können die Resozialisierung einer Person alleine auffangen. Man muss auch selbst mitziehen wollen.
$ick: Das Letzte, was du genannt hast, ist das Allerwichtigste. Du musst es selbst machen und dafür musst du dich verdammt noch mal bewegen und vor allem aushalten. Das ist wichtig. Im Grunde ist das genau das, was man nicht konnte, deswegen hat man sich ja betäubt. Um das Gefühl in sich auszuhalten, muss man sich selbst finden. Das ist, glaube ich, die Hauptaufgabe. Heute stelle ich mir immer die Frage: "Tut es mir gut oder nicht?" Und wenn nicht, dann kommt es nicht in mein Leben. Man sollte alles bewusst machen und sich selbst hinterfragen. Wenn die Emotionen so stark werden, dass man sich am liebsten abdichten will, sollte man sich jemanden zur Seite holen. Aus Lebenserfahrungen lernen und sich Hilfe holen. Das ist keine Schande, obwohl ich das früher so empfunden habe. Heute frag' ich bestimmt viel zu oft nach Hilfe. (lacht) Ich versichere mich andauernd, ob man mich gerne hat. Einfach, um nichts falsch zu machen.
(Jonas Jansen)