Kategorien
Interview

$ick und Stigma e.V. – ein Gespräch über Resozialisierung

"Dann sitzt du in dei­ner klei­nen ver­wahr­los­ten Bude und denkst dir: 'Im Knast war es bes­ser.'" ‒ $ick und Stig­ma e.V. im Inter­view über feh­len­de Optio­nen nach der Ent­las­sung und das aktu­el­le Sys­tem, das für vie­le zum Teu­fels­kreis wird.

Am 31. März 2020 befan­den sich in Deutsch­land 46 054 Gefan­ge­ne und Ver­wahr­te in Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten – der Groß­teil von ihnen im geschlos­se­nen Voll­zug. Die­se Zahl über­steigt die Aus­las­tungs­ka­pa­zi­tät des Voll­zugs­sys­tems seit Jah­ren. Wozu das führt, wird unter ande­rem in einem ZEIT-​Interview mit Jörn Patzak, dem Lei­ter der JVA Witt­lich, deut­lich. Nach­dem er sei­ner JVA schmei­chel­haft attes­tiert, dass es bei ihnen nicht bedrü­ckend sei, son­dern eher wie im Kran­ken­haus, gibt er weni­ge Sät­ze spä­ter zu, dass sie Ein­zel­haft­räu­me dop­pelt bele­gen, wenn es zu Über­be­le­gungs­si­tua­tio­nen kommt. Kon­kret bedeu­tet das: Zwei Erwach­se­ne tei­len sich eine Elf-​Quadratmeter-​Zelle – inklu­si­ve Toilette.

Die mas­si­ve Über­be­le­gung und die damit ein­her­ge­hen­den Umstän­de sor­gen unter ande­rem für stei­gen­den Dro­gen­kon­sum und erhöh­te Gewalt­be­reit­schaft in den Gefäng­nis­sen. Als Kon­se­quenz fol­gen über­durch­schnitt­lich hohe Sui­zid­ra­ten, wel­che auch im inner­eu­ro­päi­schen Ver­gleich sehr hoch aus­fal­len. Eine Reso­zia­li­sie­rung, wie sie nach § 2 des Straf­ge­setz­buchs ange­strebt wird, ist – unter die­sen Umstän­den – kaum mög­lich. Dafür spre­chen vor allem die enorm hohen Rück­fall­quo­ten von etwa 45 Pro­zent, wel­che bei klei­ne­ren Straf­ta­ten wie Raub sogar höher aus­fal­len. Dass ein bedeu­ten­der Teil die­ser Straf­ta­ten aus einer Sucht­er­kran­kung her­aus began­gen wird, wird von den Haupt­ver­ant­wort­li­chen seit Jahr­zehn­ten igno­riert. Zum Glück gibt es Per­so­nen, die sich für Betrof­fe­ne ein­set­zen und den Kampf für eine bes­se­re Reso­zia­li­sie­rungs­kul­tur zu ihrem eige­nen gemacht haben – unter ihnen $ick und Paul Lücke von Stig­ma e.V.

$ick rauch­te mit 15 Jah­ren zum ers­ten Mal Hero­in und lan­de­te unge­wollt, unwis­send und min­der­jäh­rig in einer Sucht, die ihm fast das Leben nahm. Die­ses bestand danach aus zwei Din­gen: der Finan­zie­rung und dem Aus­le­ben sei­ner Abhän­gig­keit. In der Fol­ge saß er in fünf ver­schie­de­nen Gefäng­nis­sen und nahm an zahl­rei­chen frei­wil­li­gen, aber erfolg­lo­sen Ent­gif­tun­gen teil. 2012 begann er gemein­sam mit Paul Lücke an sei­ner auto­bio­gra­fi­schen Serie "Shore, Stein, Papier" zu arbei­ten, wel­che über einen Sub­chan­nel von 16BARS aus­ge­strahlt wur­de. Drei Jah­re spä­ter wur­den sie für ihre Arbeit mit dem mehr als ver­dien­ten Grim­me Online Award aus­ge­zeich­net. Die Serie und den mit ihr ein­her­ge­hen­den Mei­nungs­aus­tausch in den Kom­men­tar­spal­ten nah­men sie als Anlass, um Stig­ma e.V. zu grün­den. Gemein­sam wol­len sie den Men­schen hin­ter dem Stig­ma mit all sei­nen Emo­tio­nen, Moti­ven und Iden­ti­tä­ten sicht­bar machen, um Ängs­te zu neh­men und einen pro­gres­si­ve­ren Aus­tausch zu ermög­li­chen. Mitt­ler­wei­le ist er dar­über hin­aus auch Autor und Inter­view­er in der deut­schen Rap­sze­ne. Wir spra­chen mit $ick über sei­ne beson­de­re Lebens­ge­schich­te, bevor wir die Aktua­li­tät von Frei­heits­stra­fen und die aus ihr gewach­se­nen Reso­zia­li­sie­rungs­mög­lich­kei­ten gemein­sam mit Paul Lücke dis­ku­tiert und infra­ge gestellt haben. Anschlie­ßend haben wir fest­ge­stellt, dass gemein­nüt­zi­ge Ver­ei­ne in die­sem Pro­zess nicht nur wich­tig, son­dern unab­ding­bar sind.

MZEE​.com: Erst mal zu dei­ner Geschich­te. Wie alt warst du, als du das ers­te Mal ins Gefäng­nis gekom­men bist? Wes­we­gen wur­dest du damals verurteilt? 

$ick: Es war kurz vor mei­nem 19. Geburts­tag. Laut Ankla­ge waren es 16 Ein­bruchs­de­lik­te, Schwarz­fah­ren, Laden­dieb­stahl und so wei­ter … mei­ne gesam­mel­ten Wer­ke der vor­he­ri­gen vier Jah­re. Ein paar gemein­schaft­li­che Ein­brü­che und ein paar Ein­zel­ta­ten. Es ist auch viel Klein­kram, der schon ein biss­chen zurück­lag, in die Anzei­ge mit­ein­ge­flos­sen. Die Klei­nig­kei­ten wie Schwarz­fah­ren wur­den in den Straf­zu­sam­men­zü­gen ein biss­chen kom­pri­miert. (Anm. d. Red.: Wenn meh­re­re Straf­ta­ten began­gen wur­den, besteht nach § 53, 54 StGB die Mög­lich­keit, eine Gesamt­stra­fe zu bil­den.) Für die­se Palet­ten an Ein­zel­ta­ten bin ich ins Gefäng­nis gegangen.

MZEE​.com: Wäh­rend mei­ner Recher­che habe ich oft gele­sen, dass der ers­te Gefäng­nis­auf­ent­halt für vie­le Inhaf­tier­te der Schlimms­te gewe­sen sei, weil sie das ers­te Mal in ihrem Leben mit einem sol­chen Aus­maß an Gewalt und Unter­drü­ckung kon­fron­tiert wur­den. Wie ist es dir ergan­gen? Du warst schließ­lich erst 18. 

$ick: Der Jugend­voll­zug ist ein Ding für sich. Da ist alles ein biss­chen stres­si­ger. Der Titel sagt es schon: "Jugend­li­che" – jeder ver­sucht, gei­ler zu sein als der ande­re. Man will sich nichts sagen las­sen, schon gar nicht von Gleich­alt­ri­gen. Auch die Beam­ten nimmt man oft nicht ernst. Die Wahr­schein­lich­keit, dass du da unter­drückt wirst, ist hoch. Die­ses jugend­li­che Pro­fi­lie­ren ist im Knast ganz extrem. Trotz­dem muss ich sagen, dass ich das zwar mit­be­kom­men habe und selbst an klei­ne­ren Schlä­ge­rei­en betei­ligt war, das im Gro­ßen und Gan­zen aber an mir vor­bei­ging. Man kriegt es trotz­dem mit. Wir hat­ten einen in der Grup­pe, der prä­de­sti­niert dafür war, unter­drückt zu wer­den. Im Knast­jar­gon: der Dul­li der Trup­pe. Ein Mit­häft­ling hat ihn mit einem brei­ten Grin­sen im Gesicht put­zen las­sen und stand hämisch dane­ben. Das wur­de von einem ande­ren Häft­ling unter­bun­den, weil er noch stär­ker war. Er war nicht nur der Stärks­te in der Grup­pe, son­dern im gan­zen Voll­zug. Wenn sein Name in Bezug auf Stress und so genannt wur­de, kam sofort das Roll­kom­man­do. Der Kol­le­ge hat sich immer dafür stark­ge­macht, dass in sei­nem Bei­sein nie­mand unter­drückt wird. So hat sich das inner­halb der Grup­pe eigent­lich von selbst gere­gelt. Im Erwach­se­nen­voll­zug ist es eher so, dass die Leu­te ihre Ruhe haben wol­len. Drau­ßen ist genug Stress. An der Knast-​Tür endet das. Solan­ge man drin ist, ist man ver­bün­det, hilft sich und arbei­tet zusam­men. Das ist vor allem unter den rich­tig alten Kna­ckis, den "Ehren­män­nern", so. Das heißt nicht, dass die Pro­ble­me von drau­ßen ver­ges­sen sind. Ist man wie­der drau­ßen, sind sie wie­der da, wenn du dein Leben nicht völ­lig umge­krem­pelt hast und nach der Ent­las­sung sofort abhaust. So kommst du drum her­um. Aber im Nor­mal­fall ist das nicht so. Trotz­dem ist unter den erwach­se­nen Kna­ckis weni­ger Stress als im Jugendvollzug.

MZEE​.com: Nach dei­ner Ent­las­sung wur­dest du schnell wie­der ver­haf­tet und hast in der Fol­ge über ins­ge­samt sie­ben Jah­re in fünf ver­schie­de­nen Gefäng­nis­sen geses­sen. Wie hast du den stän­di­gen Wech­sel zwi­schen Frei­heit und Gefäng­nis in einer so wich­ti­gen Ent­wick­lungs­pha­se empfunden? 

$ick: Das ist, wie wir beim Erstel­len der Serie fest­ge­stellt haben, ein Pro­zess. Wäh­rend ich vier Jah­re lang Schei­ße gebaut habe, war schon klar, dass ich irgend­wann in den Knast gehe. Man redet sich ein, dass einen nie­mand erwischt, weil man ja sowie­so der Geils­te ist. Irgend­wann kommt dann der ers­te Knast. Aus Hameln bin ich ja sogar mit ein paar ande­ren Häft­lin­gen geflo­hen. Ich hab' mich in dem Moment gefühlt wie ein rich­ti­ger Gangs­ter und auf den Knast geschis­sen. So bin ich wie­der raus­ge­kom­men und habe mich dem­entspre­chend ver­hal­ten. Der Weg zum nächs­ten Knast wird so natür­lich kür­zer, aber an der Stel­le hab' ich schon akzep­tiert, dass das dazu­ge­hört. So läuft es, ob bei Män­nern oder Frau­en, gera­de bei denen, die in einer Sucht ste­cken. Die wer­den auch Straf­tä­ter und Straf­tä­te­rin­nen und zwar dau­er­haft. Der Tag beginnt und endet mit einer Straf­tat – ganz nor­mal. Bei so einem Lebens­stil oder Ver­hal­ten ist es nur logisch, dass der Voll­zug dazu­ge­hört. In Hameln hab' ich gemerkt, dass der Knast gar nicht so schlimm ist, wie ich dach­te. Die haben mir da nichts getan – end­lich mal 'ne Pau­se. Mit dem Spruch bin ich bei der letz­ten Inhaf­tie­rung aus­ge­stie­gen. Ich hab' mich auf dem Knast­hof gestreckt und zu den Wär­tern gesagt: "Boah, end­lich zu Hau­se." Natür­lich hät­te ich in dem Moment heu­len kön­nen, aber ich woll­te ihnen noch einen rein­drü­cken. Aber es ist schon so, dass man vorm Rein­ge­hen weiß: "Ich kenn' da min­des­tens 15 Leu­te." Dann ist das schon eine Art Zuhause.

MZEE​.com: Für mich klingt das nach einem Teu­fels­kreis. Man kommt wegen einer Dro­gen­er­kran­kung und der dar­aus resul­tie­ren­den Beschaf­fungs­kri­mi­na­li­tät ins Gefäng­nis. Dort hält man sich mit Medi­ka­men­ten und Alko­hol über Was­ser, um die vor­herr­schen­de Gewalt zu ertra­gen. Nach der Ent­las­sung kehrt man in alte Krei­se zurück und greift wie­der zur Droge. 

$ick: Im Knast hat sich nichts geän­dert, denn das ist nicht die Auf­ga­be vom Knast. Die Auf­ga­be heißt: Ver­wah­ren bis zum Ent­las­sungs­da­tum. Es kos­tet extrem viel Geld und Per­so­nal, dem ein­zel­nen süch­ti­gen Kna­cki eine Per­spek­ti­ve zu geben. Wie willst du das denn machen? Die meis­ten, die sit­zen, mich ein­ge­schlos­sen, wis­sen eh nicht, was sie mal machen wol­len. Ich wuss­te das nicht mal im Ansatz. Für acht Euro bei EDEKA Rega­le ein­zu­räu­men, kommt nicht mehr in Betracht, wenn du jah­re­lang anders Geld besorgt hast. Zum Teil mit einer Tat mehr, als du da im gan­zen Monat verdienst.

MZEE​.com: Wür­dest du sagen, dass Süch­ti­ge einen beson­ders schwie­ri­gen Reso­zia­li­sie­rungs­pro­zess auf sich neh­men müssen? 

$ick: Sie haben zusätz­lich ihre inne­re Bar­rie­re zu über­win­den. Das ist erst mal die Haupt­auf­ga­be. Du musst mit dir und dei­ner Sucht umge­hen kön­nen. Dann ändert sich auto­ma­tisch alles – ist ja bei mir genau­so gewe­sen. Du musst nur dran­blei­ben und ver­su­chen, dich an einen Licht­blick zu klam­mern. Lei­der ist die Per­spek­ti­ve, die du hast, aber nur schei­ße. Du erhältst 500 Euro Über­brü­ckungs­geld und da hört die Hil­fe dann auf. Lan­dest dann viel­leicht in einer Unter­kunft, viel­leicht im Obdach­lo­sen­auf­fang­la­ger oder Ähn­li­chem – 'ne Woh­nung gibt dir ja ohne Per­spek­ti­ve auch nie­mand. Dann sitzt du in dei­ner klei­nen ver­wahr­los­ten Bude und denkst dir: "Im Knast war es bes­ser." Natür­lich ist man auch selbst ver­ant­wort­lich, aber es wird einem extrem schwer gemacht. Nach dem Jugend­voll­zug habe ich befürch­tet, dass ich unter Auf­sicht oder sowas kom­me, aber es ist ein­fach gar nichts pas­siert. Ich kam damals aus einem Jugend­voll­zug, der sich "moderns­ter Jugend­voll­zug Deutsch­lands oder sogar Euro­pas" geschimpft hat. Und für die Gefan­ge­nen ist ein­fach gar nichts pas­siert. Nichts. Ein­fach nur Absit­zen im Gruppenvollzug.

MZEE​.com: Und das, obwohl die Reso­zia­li­sie­rung und ein künf­ti­ges Leben ohne Straf­ta­ten nach § 2 des Straf­voll­zugs­ge­set­zes das obers­te Ziel des Straf­voll­zugs darstellt. 

$ick: Ja, das Gesetz sagt das. (lacht) Und dann gibt es einen ein­zi­gen Sozi­al­ar­bei­ter und du und alle brau­chen theo­re­tisch von ihm ein gan­zes Paket von Hil­fe­stel­lun­gen. Sei es die Vor­be­rei­tung auf die Ent­las­sung oder ein­fach, jeman­den an der Sei­te zu haben. Oder Unter­stüt­zung bei Tele­fo­na­ten, die man aus dem Knast her­aus füh­ren muss, um schon vor der Ent­las­sung einen Job zu fin­den, um ein Gefühl von Sicher­heit zu bekom­men. Aber wie willst du dich zu so etwas im Knast moti­vie­ren? Sicher gibt es kor­rek­te Sozi­al­ar­bei­ter, die dir ger­ne wirk­lich hel­fen wür­den, aber um so einen zu bekom­men, musst du drei For­mu­la­re aus­fül­len und vier Wochen war­ten. Und dann sitzt er in einem Sys­tem mit einem aber­wit­zi­gen Per­so­nal­schlüs­sel. Die Moti­va­ti­on ist dann schon lan­ge ver­flo­gen. Also musst du total hin­ter­her sein und am bes­ten Hil­fe von drau­ßen haben. Der Voll­zug küm­mert sich nicht. Das Ding ist, dass die wenigs­ten Wie­der­keh­rer, die regel­mä­ßig rein- und raus­ge­hen, über­haupt so etwas wie Fami­lie haben. Wirk­lich die Aller­we­nigs­ten. Eine Fra­ge, die wir uns auch in Semi­na­ren immer wie­der stel­len, ist: "Wie kann die Gesell­schaft das über­haupt leis­ten – die Wie­der­ein­glie­de­rung von Straf­fäl­li­gen?" Sei es erst mal nur von den süch­ti­gen Straf­tä­tern, bei denen man die Erkran­kung als Anrecht auf eine Son­der­be­hand­lung neh­men wür­de. Da muss man beach­ten, dass in vie­len Voll­zü­gen min­des­tens 90 Pro­zent der Leu­te süch­tig sind. Das muss man auch mal dazu sagen. Da wür­de fast jeder die­se Son­der­be­hand­lung bekom­men und der Auf­wand ist immens. Und noch kurz zum Straf­ge­setz­buch: Da steht unter ande­rem auch drin, dass die Gefan­ge­nen mit einem guten Hun­ger­ge­fühl zu Bett gehen sol­len … Da weißt du schon Bescheid. (lacht)

MZEE​.com: Immer mehr Expert:innen for­dern daher eine Ent­kri­mi­na­li­sie­rung von und kon­trol­lier­te Abga­be­stel­len für Dro­gen. Wür­det ihr, auch in Anbe­tracht von $icks Geschich­te, sagen, dass das Gefäng­nis eine zeit­ge­mä­ße Bestra­fung darstellt? 

Paul: Die Abhän­gig­keit selbst kann im Gefäng­nis gar nicht bekämpft wer­den. Auch wenn es Pro­gram­me gibt, die man durch­lau­fen kann, ist man immer noch im Gefäng­nis. Man ist in der Bestra­fungs­si­tua­ti­on. Das Ver­hält­nis zum Staat und der Gesell­schaft ändert sich dadurch nicht. Im Gegen­teil: Es bestärkt den Abhän­gi­gen dar­in, sich immer wei­ter von der Gesell­schaft zu ent­fer­nen. Sobald er wie­der raus­kommt, ist er zumeist von den Struk­tu­ren voll­kom­men über­for­dert, weil er vor­her im geschütz­ten Rah­men war. Es ist ein­fach not­wen­dig, dass eine Durch­läs­sig­keit in die Gesell­schaft eta­bliert wird. Für such­ter­krank­te Men­schen muss es ande­re Insti­tu­tio­nen geben, die wesent­lich stär­ker an die Gesell­schaft ange­bun­den sind, sonst kommt zum Stig­ma des Süch­ti­gen auch noch das des Kri­mi­nel­len hin­zu. So wird das Paket für das Indi­vi­du­um immer schwe­rer. Gleich­zei­tig lie­fert das Gefäng­nis zu wenig Hil­fe, um den­je­ni­gen auf das Leben drau­ßen vor­zu­be­rei­ten. Man soll­te zum Bei­spiel viel mehr über gemein­nüt­zi­ge Arbeit als Straf­form nach­den­ken und dafür Struk­tu­ren schaffen.

$ick: Die Gesell­schaft müss­te auch ein biss­chen mehr auf­ma­chen. Wir haben in Deutsch­land so vie­le Sucht­be­trof­fe­ne. Und es gibt so vie­le, die selbst abhän­gig sind und so tun, als wäre das nicht so. Die neh­men abends Tablet­ten zum Ein­schla­fen und mor­gens wel­che zum Auf­wa­chen. Oder sei es ein­fach Kaf­fee, Tabak und Schnaps – egal was, von mir aus auch Scho­ko­la­de. Wenn jeder ein biss­chen vor sei­ner eige­nen Tür keh­ren und die Erkran­kung Sucht ver­ste­hen wür­de, statt sie zu ver­ur­tei­len, wäre schon eini­ges getan. Die Gesetz­ge­bung ist aber so, dass sie alles, was mit Dro­gen­de­lik­ten zu tun hat, ver­ur­teilt. Selbst wenn du nur der beschis­se­ne Kon­su­ment bist und aus einer Sucht her­aus han­delst. Aber das inter­es­siert halt kei­nen und nie­mand will sich selbst irgend­was ein­ge­ste­hen, weil das eige­ne Leben ja funktioniert.

MZEE​.com: Das ers­te euro­päi­sche Land, das die­sen Weg ein­ge­schla­gen hat, war Por­tu­gal. 2001 ver­ab­schie­de­te die Regie­rung ein Gesetz, das den Besitz sowie Kon­sum von Dro­gen in bestimm­ten Men­gen ent­kri­mi­na­li­siert. Soll­te eine Per­son mit einer ord­nungs­wid­ri­gen Dosis erwischt wer­den, wird sie zum "Aus­schuss zur Bekämp­fung der Dro­gen­sucht" vor­ge­la­den. Dort ent­schei­den Jurist:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, wie pro­ble­ma­tisch der Dro­gen­kon­sum der betrof­fe­nen Per­son ist. Sie klä­ren über Gefah­ren auf und bie­ten The­ra­pien an. Wür­dest du dir eine sol­che Vor­ge­hens­wei­se von staat­li­cher Sei­te auch in Deutsch­land wünschen?

Paul: Ich wür­de noch mal zurück zur Fra­ge gehen, wie And­re (Anm. der Red.: $icks bür­ger­li­cher Name) den Knast erlebt hat, denn das spielt da ja mit rein. Ein Abhän­gi­ger kommt das ers­te Mal ins Gefäng­nis, aber was macht das eigent­lich mit ihm? Man muss dazu sagen, dass And­re ein spe­zi­el­ler Fall ist. Er hat ein gro­ßes sozia­les Talent und ist ein abso­lu­ter Lebens­künst­ler. Egal, in wel­cher Kloa­ke er auf­wacht – er schafft es, dort Blu­men zu pflan­zen. Er kommt ein­fach in sozia­len Struk­tu­ren zurecht. Sogar im Gefäng­nis. Des­we­gen klingt das bei ihm alles ent­spann­ter. Aber das ist natür­lich nicht bei jedem so. Man muss sich nur einen Abhän­gi­gen vor­stel­len, der weni­ger robust und krea­tiv ist. Der viel­leicht auch psy­chisch ange­schla­gen und mit den Struk­tu­ren über­for­dert ist. Der wird nie­mals in der Lage sein, in die­ser Situa­ti­on an sich selbst zu arbei­ten, weil zur Sucht eine Trau­ma­ti­sie­rung hin­zu­kommt. Es ist nahe­lie­gend, dass das Gefäng­nis für einen Men­schen kein Ort ist, um gesund zu wer­den. Denn es muss beim Abhän­gi­gen um die Gesun­dung gehen. Sucht ist eine Krank­heit und genau des­we­gen ist das Portugal-​Modell rich­tig und wich­tig. Es gibt dazu ein groß­ar­ti­ges Buch von Tho­mas Gal­li, einem ehe­ma­li­gen Gefäng­nis­di­rek­tor – unbe­ding­te Lese­emp­feh­lung. Er sagt im End­ef­fekt, dass Gefäng­nis­se für vie­le Inhaf­tier­te abge­schafft wer­den soll­ten, weil es die meis­ten von der Reso­zia­li­sie­rung weg­führt und eine mög­li­che Schuld nicht direkt dort abge­gol­ten wird, wo sie ver­ur­sacht wird. Man muss über­le­gen, wie sie der Gesell­schaft wie­der etwas geben kön­nen. Man muss sie wie­der in die Gesell­schaft auf­neh­men und inte­grie­ren. Da sind wir dann beim Reso­zia­li­sie­ren. Im Geset­zes­text ist das nur eine Flos­kel. Was fak­tisch pas­siert, ist, dass die­je­ni­gen, die ins Gefäng­nis kom­men, trau­ma­ti­siert und kaputt wie­der raus­kom­men und zumeist noch kri­mi­nel­ler wer­den als vor­her. Ande­re wer­den erst im Gefäng­nis abhän­gig, weil man dort fast leich­ter an Dro­gen kommt als drau­ßen. Die Gesell­schaft muss sich mit all­dem weit­aus facet­ten­rei­cher aus­ein­an­der­set­zen. Mit Fach­wis­sen, Psy­cho­lo­gen, Sozi­al­ar­bei­tern, Juris­ten und vor allem indi­vi­du­ell. Genau­so, wie es in Por­tu­gal pas­siert. Bei uns wer­den sehr unter­schied­li­che Indi­vi­du­en in Struk­turzwän­ge gepresst und am Ende soll eine Reso­zia­li­sie­rung statt­fin­den. Das kann ja gar nicht funk­tio­nie­ren, allei­ne weil jeder unter­schied­li­che Hin­ter­grün­de und men­ta­le Kapa­zi­tä­ten hat. Gefäng­nis ist weder der Weg zur Gesun­dung des abhän­gi­gen Men­schen noch zur Abgel­tung von Schuld an der Gesell­schaft. Die bekommst du nur, wenn du lang­fris­tig mit den Indi­vi­du­en zusam­men an ihrer Gesun­dung und Reso­zia­li­sie­rung arbeitest.

MZEE​.com: In den letz­ten Jah­ren haben sich immer mehr gemein­nüt­zi­ge Ver­ei­ne die Reso­zia­li­sie­rung zur Auf­ga­be gemacht, um bes­se­re Wege anbie­ten zu kön­nen als der Staat der­zeit. Ihr enga­giert euch dies­be­züg­lich mit Stig­ma e.V. Könnt ihr das Pro­jekt und eure Zie­le kurz beschreiben? 

Paul: Wir haben zusam­men "Shore, Stein Papier" gestar­tet. Schon damals war es unser Ziel, auf­zu­klä­ren und zu zei­gen, dass hin­ter der Abhän­gig­keit ein Mensch wie du und ich steckt – mit Sehn­süch­ten, Träu­men, Freun­den und Fami­lie. Alles, was einen Men­schen aus­zeich­net eben. Abhän­gi­ge sind kei­ne defi­zi­tä­ren Wesen, son­dern Men­schen wie wir alle. Sie sind einer Krank­heits­dy­na­mik unter­le­gen und die­se Dyna­mik dar­zu­stel­len, war der Ansatz von "Shore, Stein, Papier". Am Anfang wuss­ten wir nicht, wie das ange­nom­men wird, aber wir haben schnell gemerkt, dass es genau so etwas braucht. Die Leu­te haben sich unter den Vide­os über ihre eige­nen Geschich­ten aus­ge­tauscht und das als Anlass genom­men, den Weg der Gesun­dung ein­zu­schla­gen. Wir hat­ten ein Auf­klä­rungs­mo­ment und wur­den als Vor­bild wahr­ge­nom­men – das hat uns deut­lich gemacht, dass es einen Rie­sen­be­darf an Auf­klä­rung gibt. Und die­se woll­ten wir auf insti­tu­tio­nel­le Bei­ne stel­len. Dabei geht es nicht nur um das Phä­no­men Dro­gen­ab­hän­gig­keit, son­dern den gesam­ten Pro­zess der Stig­ma­ti­sie­rung und der Auf­ga­be, als Gesell­schaft anders mit­ein­an­der umzu­ge­hen. Des­we­gen hei­ßen wir auch Stig­ma e.V. Wir haben mit "Komm lie­ber Tod" eine zwei­te Biografie-​Serie gemacht, in der es um Depres­sio­nen und einen Sui­zid­ver­such geht. Die­se psy­chi­schen Pro­ble­me wer­den alle­samt stig­ma­ti­siert, was uns als Gesell­schaft dar­an hin­dert, pro­gres­si­ve Wege ein­zu­schla­gen. Zum Bei­spiel anders über das Gefäng­nis oder den Umgang mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen im Gesund­heits­sys­tem nach­zu­den­ken. Die Säu­len, auf denen unser Pro­jekt steht, sind die media­le Auf­klä­rung in Form von Film­pro­duk­tio­nen und Doku­men­ta­tio­nen und die Bil­dungs­ar­beit an Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, bei FSJ-​Seminaren oder in der Kinder- und Jugend­hil­fe. Dort wol­len wir ermög­li­chen, dass aus Geschich­ten aus dem Leben, also aus den Lebens­er­fah­run­gen ande­rer, gelernt wer­den kann. Die­ses päd­ago­gi­sche Kon­zept haben wir schon mit "Shore, Stein, Papier" ver­sucht, anzu­sto­ßen. Wir wol­len Werk­zeu­ge an die Hand geben, um sich gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen, die Chan­ce der sozia­len Grup­pe zu nut­zen und sozial-, bildungs- und gesund­heits­po­li­tisch als Gesell­schaft etwas zu ver­än­dern. Dar­an arbei­ten wir täg­lich und ent­wi­ckeln wei­te­re Unter­richts­mo­del­le für Schu­len oder Doku-​Formate für unse­ren geplan­ten YouTube-Channel.

$ick: Genau. In den Schu­len kamen selbst von den größ­ten Idio­ten irgend­wann Fra­gen. Also von den­je­ni­gen, die die ers­te hal­be Stun­de Kau­gum­mi schmat­zend in der letz­ten Rei­he sit­zen und die Füße hoch­le­gen. Am Ende sit­zen sie ganz vor­ne, stel­len die meis­ten Fra­gen und mel­den sich sogar, statt ein­fach dazwi­schen zu quat­schen. Ich weiß noch, dass ein Rek­tor mal mein­te: "Unglaub­lich. Die zehn größ­ten Pfle­ge­fäl­le unse­rer Schu­le sit­zen in der ers­ten Rei­he, mel­den sich und machen kei­nen Scheiß." (lacht) So kriegt man auch die Jungs und Mädels, die schon auf dem fal­schen Weg sind. Man holt sie ein­fach ab, weil ich einer von ihnen bin und wir mit ihnen und nicht über sie reden.

MZEE​.com: Eure Biografie-​Serie "Shore, Stein, Papier", mit der ihr 2015 den Grim­me Online Award gewin­nen konn­tet, spiel­te bei der Ent­ste­hung also eine gro­ße Rol­le. $ick, inwie­weit hat dir das Reflek­tie­ren der Ver­gan­gen­heit vor lau­fen­der Kame­ra gehol­fen, Stig­ma­ta gegen­über dei­ner eige­nen Per­son abzubauen? 

$ick: Ich hat­te die­se Rol­le eigent­lich kom­plett ange­nom­men und kei­nen Aus­weg gefun­den. Im Grun­de kann ich es so auf den Punkt brin­gen, dass die drei­ein­halb Jah­re mit Paul und das Erzäh­len mei­ner Geschich­te die ers­te ehr­li­che Aus­ein­an­der­set­zung in mei­nem Leben war. Das chro­no­lo­gi­sche Auf­ar­bei­ten gepaart mit dem stän­di­gen Hin­ter­fra­gen von Paul bezüg­lich mei­ner Emo­tio­nen war hef­tig. Vor­her war es mir scheiß­egal. Es war mir auch egal, dass alle Leu­te wuss­ten, dass ich süch­tig bin. Man hat es mir ja extrem ange­se­hen. Das war für mich nor­mal, aber die­ser Damm ist beim Erzäh­len der drit­ten Staf­fel gebro­chen. In der hab' ich von mei­ner Koks-​Phase, über die ich vor­her nie gespro­chen habe, erzählt. Trotz­dem wür­de ich sagen, dass ich zu die­ser Zeit, wäh­rend der ers­ten drei, vier Jah­re von "Shore, Stein, Papier", am liebs­ten jeden Tag rück­fäl­lig gewor­den wäre. Ich war zu dem Zeit­punkt emo­tio­nal noch auf der ande­ren Sei­te und habe mich nur dar­an fest­ge­hal­ten, dass es sich von Tag zu Tag leich­ter ange­fühlt hat. Danach ist durch das Nüchtern-​Sein eine schwe­re Depres­si­on aus­ge­bro­chen, von der ich vor­her auch nie erzählt habe. Die kam, als ich für vier Wochen im Urlaub in Grie­chen­land war. Das war ein Tur­ning Point. Es war Neben­sai­son und außer mir, ein paar Hun­den und dem Meer war nie­mand da. Ich war wirk­lich ein­sam und hat­te plötz­lich Platz für die­se Depres­si­on. An der Stel­le ist mir klar gewor­den, dass ich das Pro­jekt wei­ter­füh­ren muss. Ich woll­te es unbe­dingt zu Ende brin­gen, weil ich gemerkt habe, dass ein Pro­zess in Gang gesetzt wur­de. End­lich habe ich mich mei­nen Pro­ble­men gestellt.

MZEE​.com: Zum Abschluss: Was wür­dest du dem 18-​jährigen And­re Welter und allen, die sich in einer ähn­li­chen Lebens­la­ge befin­den, aus heu­ti­ger Sicht raten? Denn was auch klar ist: Weder der Staat noch gemein­nüt­zi­ge Ver­ei­ne kön­nen die Reso­zia­li­sie­rung einer Per­son allei­ne auf­fan­gen. Man muss auch selbst mit­zie­hen wollen. 

$ick: Das Letz­te, was du genannt hast, ist das Aller­wich­tigs­te. Du musst es selbst machen und dafür musst du dich ver­dammt noch mal bewe­gen und vor allem aus­hal­ten. Das ist wich­tig. Im Grun­de ist das genau das, was man nicht konn­te, des­we­gen hat man sich ja betäubt. Um das Gefühl in sich aus­zu­hal­ten, muss man sich selbst fin­den. Das ist, glau­be ich, die Haupt­auf­ga­be. Heu­te stel­le ich mir immer die Fra­ge: "Tut es mir gut oder nicht?" Und wenn nicht, dann kommt es nicht in mein Leben. Man soll­te alles bewusst machen und sich selbst hin­ter­fra­gen. Wenn die Emo­tio­nen so stark wer­den, dass man sich am liebs­ten abdich­ten will, soll­te man sich jeman­den zur Sei­te holen. Aus Lebens­er­fah­run­gen ler­nen und sich Hil­fe holen. Das ist kei­ne Schan­de, obwohl ich das frü­her so emp­fun­den habe. Heu­te frag' ich bestimmt viel zu oft nach Hil­fe. (lacht) Ich ver­si­che­re mich andau­ernd, ob man mich ger­ne hat. Ein­fach, um nichts falsch zu machen.

(Jonas Jansen)