An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden geht es um die Vorwürfe der sexualisierten Gewalt, die gegen einen bekannten Rapper erhoben werden.
Triggerwarnung: In diesem Kommentar wird unter anderem sexualisierte Gewalt thematisiert. Falls Euch das triggert, solltet Ihr hier vielleicht nicht weiterlesen.
Wer in der letzten Woche irgendwelche HipHop-Medien konsumiert hat, wird mit Sicherheit von den Vorwürfen der sexuellen Übergriffe gegen einen der erfolgreichsten Rapper der letzten Jahre und andere mitbekommen haben. An dieser Stelle nur eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Geschehnisse: Eine Frau veröffentlichte via Instagram sehr detaillierte und ausführliche Vorwürfe gegen den genannten Rapper. So soll er sie in einem Studio zu sexuellen Handlungen genötigt haben, obwohl sie mehrfach "Nein" gesagt hatte. Unterdessen melden sich immer mehr Frauen bei der Betroffenen mit ähnlichen Vorwürfen gegen den Rapper und einige seiner Kollegen. Label und Künstler schwiegen zunächst, aber haben inzwischen Statements veröffentlicht. Im Falle des beschuldigten Rappers, der sich in einer sehr emotionalen Story auf Instagram äußerte, lassen diese tief in das Selbstbild und den eigenen Umgang mit der Thematik blicken. Das Label hingegen distanziert sich zunächst und unter Vorbehalt vom Rapper, nachdem erst nur ein nichtssagendes Statement gegen Gewalt im Allgemeinen veröffentlicht worden war. Im Verlauf der ersten Tage der Vorwürfe wurde der Instagram-Account, auf dem die Anschuldigungen veröffentlicht wurden, wiederholt gelöscht, der aktuelle ist der mittlerweile dritte seit Bekanntmachung. Bereits veröffentlichte Artikel auf verschiedenen Plattformen wurden ebenfalls gelöscht. Es wird also alles getan, den Aufschrei möglichst kleinzuhalten, und versucht, die Vorwürfe auszusitzen.
Gleichzeitig reagiert ein viel zu großer Teil der Szene in den Kommentarspalten ebenso beschämend wie erwartbar. Mit Hinweis auf die Unschuldsvermutung werden die Vorwürfe pauschal abgewiesen und die Glaubwürdigkeit der betroffenen Frau aufgrund ihres Berufs oder ihrer Selbstdarstellung auf Social Media infrage gestellt. Anstatt sie zu unterstützen oder wenigstens zu ignorieren, wird sie aggressiv angegangen und als Lügnerin beleidigt. Dabei gibt es sowohl statistische als auch logische Gründe, die Vorwürfe ernst- und anzunehmen. So wird ein verschwindend geringer Anteil von sexuellen Übergriffen überhaupt zur Anzeige gebracht, auch weil es den Opfern häufig sehr wohl bewusst ist, wie schwierig es ist, eine Tat zu beweisen, bei der häufig nur Aussage gegen Aussage steht. Ganz zu schweigen von der zusätzlichen psychischen Belastung, die es mit sich bringen kann, mit solchen Vorwürfen zur Polizei oder an die Öffentlichkeit zu gehen. Noch mal deutlich geringer als die zur Anzeige gebrachten Übergriffe ist im Übrigen der Anteil der Falschanschuldigungen – dass sich also Vorwürfe ausgedacht werden, um einer anderen Person zu schaden. Es gibt genug psychische und legale Hürden, die Opfern sexueller Übergriffe im Weg stehen, was nicht zuletzt unserer patriarchisch strukturierten Gesellschaft geschuldet ist. Reagiert man also so, wie es Fans und YouTuber teilweise getan haben, verteidigt man nicht ehrenhaft das Grundgesetz, sondern betreibt klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Dass es inzwischen zu einer wahren Flut an Anschuldigungen gegen verschiedene Rapper gekommen ist, zeigt, wie tief Sexismus in der Szene verankert ist. In einer Szene, in der es vollkommen normal ist, Frauen zu Objekten zu degradieren, in der Sprüche über Vergewaltigungen als gelungene Punchline gelten können und sowieso alle Schlampen außer Mama sind, muss fast zwangsläufig eine Kultur der Täter- und Mittäterschaft entstehen. Sexismus ist kein Problem einzelner Akteure in der Rapszene, sondern ein strukturelles. Nur den einen Rapper, der gerade im Fokus steht, mal eben aufzufordern, Stellung zu beziehen, kann nicht ausreichen. Es kann ebenso nicht ausreichen, dass sich jetzt alle zwei Wochen lang einig sind, dass Frauen ja gleichgestellt sein sollten und man unbedingt etwas gegen Sexismus machen muss, nur um danach genauso weiterzumachen wie zuvor. Ein so tief verwurzeltes strukturelles Problem lässt sich nicht mit ein paar gut gemeinten Statements und temporärer Entrüstung lösen. Es muss darum gehen, öffentlich eine breite, bedingungslose Solidarität mit Opfern sexualisierter Gewalt zu erzeugen. Gleichzeitig müssen mögliche Täter fortlaufend daran erinnert werden, dass Vorwürfe im Raum stehen – zumindest, bis diese sich umfassend dazu äußern. Jemand, der meint, das Problem wegignorieren zu können, kann kein Teil einer Szene sein, die von Grund auf ein weltoffenes und solidarisches Selbstverständnis hat. Mittel- und langfristig muss eine Sensibilisierung unter den Kunstschaffenden in der Szene stattfinden, die sowohl sprachliche Aspekte als auch das Verhalten als Künstler, beispielsweise auf Konzerten, umfasst. Die aktuelle Kultur des Wegschauens, das ständige Augenzudrücken, solange sich irgendwo in sexistischen Aussagen noch ein Zwinkern erkennen lässt, gehört schlicht abgeschafft. Insbesondere Medien und Labels stehen hier in der Verantwortung, ihren Cashcows keinen Freifahrtschein zu verpassen.
Für die aktuelle Situation ist das alles vermutlich too little, too late. Aller Voraussicht nach werden nämlich genau zwei Dinge passieren: Rapper und Label halten jetzt ein paar Wochen die Füße still und in spätestens zwei Monaten gibt es die nächste Single mit riesigen Streamingzahlen, bei dem wahrscheinlich die aktuellen Geschehnisse noch weinerlich "aufgearbeitet" werden. Dass nicht mal eine Woche nach Bekanntwerden der Vorwürfe ein anderer Künstler über das gleiche Label einen absolut ekelerregenden Song veröffentlichen konnte, lässt erahnen, wie ernst die Thematik vom Label genommen wird. Auch wenn der Song nach öffentlichem Druck inzwischen wieder von allen offiziellen Kanälen entfernt wurde – dass hierzu keine Sensibilisierung bei einem so riesigen Label gegeben zu sein scheint, lässt wenig Gutes für die Zukunft erwarten. Gleichzeitig werden Rapper und Medien Sexismus im Allgemeinen aufs Schärfste verurteilen, aber ohne mit der Wimper zu zucken mit dem nächstbesten Rapper mit sexistischen Texten abkumpeln, ohne irgendwas zu hinterfragen. Kurz gesagt: Die Vorwürfe verlaufen im Sand, die Betroffene wird aus der Öffentlichkeit verschwinden und im Herbst gilt wieder business as usual.
Allerdings gibt es in der ganzen Situation auch Aspekte, die einen weniger verzweifeln lassen. Dass sich Rapper:innen wie Sylabill Spill und Shirin David öffentlich solidarisieren und Konsequenzen ziehen, ist ein ebenso gutes Zeichen wie das Vernetzen von Opfern sexualisierter Gewalt, das aktuell unter #deutschrapmetoo auf Social Media stattfindet. Auch haben einige HipHop-Seiten wie BACKSPIN und DIFFUS, aber auch YouTuber wie Mr. Rap durchaus starke und wichtige Analysen der Situation vorgenommen und Stellung bezogen. Es bleibt also zu hoffen, dass daraus vielleicht etwas entsteht, das der grassierenden und tief verwurzelten Frauenfeindlichkeit in der Szene Einhalt gebietet.
Aufgrund der Brisanz des Themas möchte der Autor in diesem Fall anonym bleiben.
(Grafik von Daniel Fersch)