Deutscher HipHop ist so erfolgreich wie nie zuvor. Gefühlt jede Woche klettert ein:e andere:r Rapper:in an die Spitze der Charts. HipHop aus weit entfernten Ländern findet sich dort jedoch eher selten – mit Ausnahme natürlich von amerikanischem Rap. Auch innereuropäische Importe sind eine Rarität bis auf französische und britische Acts, die mit Afrotrap oder UK Drill sogar sehr direkte Vorbilder für deutsche Rapper:innen darstellen. So füllen Artists wie Booba oder Skepta hierzulande problemlos große Konzertsäle, jedoch ist der:die erfolgreichste Rapper:in Schwedens oder Portugals nur den wenigsten ein Begriff. Und das, obwohl es in diesen Ländern ebenfalls vielseitige und überraschend große HipHop-Szenen gibt.
Allerdings findet hier – durch das Internet und die voranschreitende Globalisierung – eine immer stärker werdende Vernetzung statt. So erschien Ende letzten Jahres beispielsweise "THE EXCHANGE", eine Kollaboration von fünf Rappern aus fünf verschiedenen Ländern. Auf dem Song geben sich Sevn Alias aus den Niederlanden, Miami Yacine aus Deutschland, Leto aus Frankreich, Morad aus Spanien und Vegas Jones aus Italien die Klinke in die Hand. Darüber hinaus finden sich auch im deutschen HipHop hier und dort Gäste aus raptechnisch eher unbekannten Ecken des europäischen Kontinents. Ufo361 releast etwa im Jahr 2019 das Album "Lights Out" zusammen mit dem türkischen Rapper Ezhel und Oxxxymiron aus Russland. Dieser dürfte den meisten Battlerap-Fans in Deutschland durch sein Hosting bei TopTier Takeover ein Begriff sein.
Mittlerweile existiert sogar ein "European HipHop Studies Network". Dieses wurde 2018 in Dortmund von Sina Nitzsche gegründet und zielt auf die Verknüpfung von Artists, Forschenden und Lehrenden über die europäischen Landesgrenzen ab. Dort werden wissenschaftliche Arbeiten zum Thema HipHop unter diversen gesellschaftlichen Gesichtspunkten veröffentlicht, um Aufklärungsarbeit zu leisten und die verschiedenen HipHop-Szenen miteinander zu verknüpfen.
Aber wie hat sich HipHop bei unseren europäischen Nachbarn entwickelt? Und wie hat er überhaupt seinen Weg über den Ozean gefunden? Betrachten wir also exemplarisch die Entstehungsgeschichte der jeweiligen HipHop-Szenen in Italien und Polen – zwei unserer europäischen Nachbarländer mit einer von grundauf unterschiedlichen Historie –, beleuchten die gesellschaftlichen Umstände, unter denen sich die Musik verbreitet hat und stellen die Frage, ob man vielleicht sogar von "europäischem" HipHop sprechen kann.
Die Geschichte von HipHop in Italien
HipHop schafft es vergleichsweise früh nach Italien. Zumindest das Malen von Graffiti wird recht schnell als eigene farbenfrohe Kunstform angesehen. Schon im Jahr 1979 findet in Rom die erste Graffiti-Ausstellung Europas statt. Initiiert wird diese vom Kunsthändler Carlo Bruni, dem Writer LEE und niemand Geringerem als Fab 5 Freddy – dem späteren Ideengeber zum Film "Wild Style" und Moderator von "YO! MTV Raps". Des Weiteren erhält Breakdance durch Filme wie "Beat Street", "Style Wars" und dem bereits erwähnten "Wild Style", vor allem aber durch eine kurze Szene aus "Flashdance" große Aufmerksamkeit in Italien. Selbstverständlich verbreitet sich damit auch die Musik weiter. Somit sind die vier Elemente des HipHop bereits in Italien angekommen, bleiben jedoch weitestgehend getrennt voneinander und bilden eigene kleine Nischen. Einer der ersten, der die verschiedenen HipHop-Elemente zusammenführt, ist Sandro Orru alias DJ Gruff. Er selbst ist als DJ und Rapper aktiv und gilt als ein Pionier des italienischen HipHop. Er verteilt seine in italienischen Dialekten berappten, mit Scratches versehenen Tapes an Breaker:innen, welche dazu tanzen und sie weiterverbreiten. Auch wenn die bekanntesten Tapes dieser Art vornehmlich humoristische Texte beinhalten, fließen landesweit eher politische Inhalte in die Songs ein, denn Rap findet zuerst abseits der breiten Öffentlichkeit in sogenannten "Centri Sociali" (Anm. d. Red.: zu Deutsch in etwa "Autonome Zentren") statt. Diese sind größtenteils linkspolitisch geprägt und musikalisch eher von der Punk- und Hardcoreszene der gegenwärtigen Zeit beeinflusst. Aus diesem Grund ist die noch sehr kleine HipHop-Szene in Italien von Beginn an stark politisiert. In dieser Zeit entstehen hauptsächlich italienisch- und englischsprachige Possecuts von losen Kollektiven, jedoch keine wirklich professionellen Aufnahmen.
Dennoch werden relativ schnell auch Künstler:innen aus dem Mainstream auf diese neue Art der Musik aufmerksam und adaptieren sie für sich. So releast der ehemalige Singer-Songwriter Jovanotti im Jahr 1988 die Sprechgesangs-Platte "Jovanotti for President", die inhaltlich eher Party als Revolution bietet. Ein Sakrileg für die HipHop-Szene, welche zu dieser Zeit noch hauptsächlich im Untergrund stattfindet. Er erntet heftige Kritik aus ebendieser. Nichtsdestotrotz schafft es das Album auf Platz drei der Charts und verkauft sich über 400 000 Mal. Ein sagenhafter Erfolg für einen italienischen Rapper dieser Zeit – auch wenn er auf Englisch performt. Aus diesem Grund gilt "Batti il tuo tempo" von Onda Rossa Posse aus dem Jahr 1990 als erste "echte" Rap-Platte auf Italienisch. Hier wird die Politisierung des gegenwärtigen italienischen HipHop wieder deutlich: Die Protagonisten nennen sich Militant A und Castro X und der Name der Gruppe bedeutet auf Deutsch "Rote Welle Posse".
An dieser Stelle zeigt sich auch die in Deutschland bis heute geführte "Sell-Out-Debatte". Dieser Konflikt wird in den 90ern besonders am Mailänder Duo Articolo 31 deutlich. Zu Beginn ihrer Karriere sind sie erfolgreich, angesehen und politisch. Der Name der Gruppe hat, anders als in Deutschland, nichts mit Kriminalität zu tun, sondern ist an einen Artikel im irischen Gesetzbuch angelehnt, der sich auf Pressefreiheit bezieht. Nach einem erfolgreichen Debütalbum werden J-Ax und DJ Jad allerdings vom Majorlabel BMG Ricordi unter Vertrag genommen und mischen ihren einst von der East Coast inspirierten Sound mit Einflüssen aus der Pop- und Indie-Rock-Musik. Als die Mailänder dann auch noch in einem Werbespot für den Autohersteller "Fiat" performen, ist ihre Reputation in der HipHop-Szene völlig zerstört. Dies gipfelt im Jahr 1996 darin, dass bei einem HipHop-Festival in Venedig alle anderen Rapper:innen zu Beginn der Performance des Duos Articolo 31 die Bühnen verlassen, um ihren Protest gegen die beiden auszudrücken.
Anfang der 2000er Jahre leidet auch die italienische Musikindustrie unter der riesigen Welle an Raubkopien aus dem Internet. Somit verschwindet Rap, der zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise winzig ist, fast völlig aus der italienischen Musiklandschaft. Nur wenige Rapper wie Mondo Marcio, Inoki, Fabri Fibra und Cor Veleno schaffen es, ihre Karrieren bei großen Labels fortzusetzen – was aktuell von viel größerer Relevanz ist, als es in Zukunft werden sollte. Dafür entwickeln sich aber immer mehr Freestyle- und Battle-Contests, welche nach und nach landesweite Beliebtheit erlangen. Später erscheint sogar das TV-Format "MTV Spit", in welchem Battles ausgetragen werden. In den Jahren 2006 und 2008 erscheinen dann mit der Straßenrap-Platte "Marracash" von Marracash und dem eher Politik- und Punchline-orientieren "Tradimento" von Fabri Fibra zwei Klassikeralben, die italienischem Rap wieder Aufmerksamkeit verschaffen. Zwei Jahre später kann Fabri Fibra mit der Hitsingle "Tranne Te" solch große Wellen schlagen, dass mit Redman sogar ein erfolgreicher amerikanischer Rapper einen Part für einen Remix beisteuert. Fibra wird der erste echte italienische Rap-Superstar und damit Vorbild für eine ganze Riege an Artists einer neueren Generation. Diese neueren Artists haben die ohnehin abflachende Politisierung aus frühen Tagen fast gänzlich abgelegt und orientieren sich eher an aggressivem Straßenrap. So beispielsweise Gangsterrapper Noyz Narcos, dessen gewaltvolle Texte teilweise in den Horrorcore-Bereich einzuordnen sind, oder Nitro, der ursprünglich aus der reinen Freestyle- und Battle-Szene stammt.
Als dann um 2015 herum die Trap- und Afrotrapwelle auch Italien erreicht, nimmt der kommerzielle Erfolg italienischer Rapper:innen exorbitante Ausmaße an. Sowohl elektronische Musik, deren Soundästhetik teils der von Trap ähnelt, als auch Reggeaton, welcher dem Afrotrap sehr nahe ist, sind bereits im Vorhinein sehr populäre Genres und so erfreuen sich die neuen Strömungen sofort großer Beliebtheit. Aus diesem Grund häufen sich für Vertreter:innen dieser Sounds wie Capo Plaza, Sfera Ebbasta oder Ghali die Gold- und Platinplatten. Alle drei können sogar auf internationaler Ebene auf sich aufmerksam machen. So tritt Ghali im Jahr 2016 beim Openair Frauenfeld auf, bei welchem sonst eher selten italienische Acts gebucht werden, während Capo Plaza ein Feature mit US-Newcomer Gunna und Sferra Ebbasta sogar eines mit Migos-Leader Quavo verzeichnen kann. Auch abseits der Trap-Bewegung hat italienischer HipHop einiges zu bieten und kann mit besonderen Artists aus einer großen Lo-Fi- und Beatszene aufwarten – so zum Beispiel der Produzent Koralle aus Bologna, der beim deutschen Label Melting Pot Music unter Vertrag steht.
Obwohl die italienische und deutsche HipHop-Szene einen ähnlichen Verlauf hinsichtlich kommerziellen Erfolgs hatten, unterscheiden sich diese in ihren Ursprüngen. In Italien war HipHop durch die "Centri Sociali" von Anfang an mit linkem Aktivismus verbunden. Aus diesem Grund werden Diskussionen um Positionierungen von reichweitenstarken Artists – besonders jetzt, wo sehr viele dieser Artists existieren – auch nach wie vor anders geführt. Des Weiteren werden die sozialen Spannungen in Italien auch im Rap deutlich: So spielt Straßenrap als "Bericht von unten" eine noch größere Rolle als in Deutschland, denn die sozialen Missstände sind dort noch einmal schwerwiegender. Darüber hinaus herrscht im italienischen Rap thematisch eine regelrechte Allgegenwärtigkeit der organisierten Kriminalität vor, sowohl was Glorifizierung als auch Kritik an dieser betrifft. Die Mafia in Italien hat eben gesellschaftlich einen viel größeren Einfluss als ähnliche kriminelle Strukturen in Deutschland. Selbst das Nord-Süd-Gefälle innerhalb des Landes ist zu spüren, denn laut dem European Music Council ist die Musik aus dem Süden um einiges härter und aggressiver – dort sind die sozialen Gegebenheiten um einiges schlechter als im Norden. So liegt beispielsweise die Arbeitslosenquote hier dreimal höher.
Die Geschichte von HipHop in Polen
Auch nach Polen schwappt HipHop in den 80ern vor allem durch die Filme "Wildstyle" und "Beat Street", trifft dort aber auf gänzlich andere Gegebenheiten als in anderen Teilen Europas. Rapmusik, Graffiti und Breakdance können sich als amerikanische Importe nur schwer in der ehemaligen Sowjetunion verbreiten. Zudem passt HipHop als Antikultur nicht wirklich in das vom Kommunismus geprägte Polen, denn hier geht die Oppression weniger von der Oberschicht, Industrie oder der Mehrheitsgesellschaft, sondern vom herrschenden Regime aus. Die Bevölkerung Polens ist gegenwärtig außerdem ethnisch sehr homogen. Somit werden Probleme wie Rassismus gegen People of Color auch nicht thematisiert. Abgesehen von komödiantischen Ansätzen, wie der vom Satiriker Piotr Fronczewski geschaffenen Kunstfigur "Franek Kimono", mit der er Bruce Lee nachahmt, gibt es in den 80er Jahren quasi keine nennenswerte mit Rap assoziierbare Musik in Polen.
Die HipHop-Kultur passt auch nicht in die hoffnungsvolle Stimmung, die Anfang der 90er Jahre aufkommt, als die Sowjetunion zusammenbricht und die freie Marktwirtschaft eingeführt wird, denn das aufkommende Wirtschaftswunder vermittelt der Bevölkerung ein sehr positives Bild vom Kapitalismus. Es tut sich noch kein großer Graben zwischen den Bevölkerungsschichten auf und in der polnischen Gesellschaft werden eher neue Freiheiten genossen, statt Kämpfe gegen die Oppression "von oben" auszufechten. Dennoch bekommt zumindest Graffiti als Kunstform eine größere Bedeutung, da sich die bereits erwähnten Filme auf den geöffneten Märkten nun richtig verbreiten können. Sprühdosen waren bis zur Einführung des Kapitalismus schlicht nicht frei verfügbar. Zwar waren Graffitis vorher häufig zu sehen, jedoch waren sie rein politische Botschaften, welche aus Angst vor dem Regime anonym an die Wände gemalt wurden. Nach und nach wurden Graffitis immer bunter und nicht mehr nur von politischen Aktivist:innen, sondern auch von Jugendlichen im urbanen Bereich gemalt. Trotzdem werden Grafitti-Pieces im zwar Richtung Westen geöffneten, aber dennoch sehr konservativen Polen im Vergleich zu anderen Ländern noch viel härter als Vandalismus abgetan. Darüber hinaus kommt dem DJ, der eine zentrale Rolle in der HipHop-Kultur spielt, in der polnischen Musiklandschaft der 90er eine gänzlich andere Position zu als in anderen Ländern. So besteht seine Aufgabe zwar auch darin, mit dem Publikum zu interagieren und es anzuheizen, jedoch wird er nicht als Artist selbst, sondern viel eher als Handwerker gesehen, der im richtigen Moment die richtigen Knöpfe drückt.
Aus diesen Gründen hat HipHop in Polen einen extrem schweren Start. Nichtsdestotrotz erscheint 1992 das erste Album, welches tatsächlich als Rap angesehen werden kann: "East on the Mic" von PM Cool Lee aus Kjelzy. Leider erhält es so gut wie keine Aufmerksamkeit, da die Vertriebswege zu diesem Zeitpunkt in Polen schlichtweg nicht vorhanden sind. Drei Jahre später releast er unter dem Namen Liroy das Album "Albóóm". Hiermit hat der Artist eine Marktlücke erkannt, denn im Mainstream gab es bis dahin keine "richtige" HipHop-Musik. Diese findet bis dahin lediglich im Untergrund statt und ist fast gänzlich unkommerziell. Also adaptiert – um nicht zu sagen kopiert – Liroy amerikanische Rapmusik und übersetzt diese auf Polnisch. Auch wenn die Platte im Untergrund auf heftige Ablehnung stößt, ist sie bis heute das polnische Rap-Album mit den meisten physikalischen Verkäufen – über 500 000. Trotz all der berechtigten Kritik stößt "Albóóm" Türen auf und sorgt dafür, dass im ganzen Land HipHop gehört wird.
Nachdem die Bevölkerung Polens relativ schnell vom Kapitalismus desillusioniert wird und sich eine gigantische Kluft zwischen Arm und Reich auftut, erscheint Mitte der 90er der sogenannte "Uliczny HipHop" auf der Bildfläche – die polnische Form von Straßenrap. Dieser mischt die "Grypsera", ein Slang, der von Kriminellen gesprochen wird, mit altpolnischer Sprache und Einflüssen aus dem amerikanischen Rap. Dennoch erreicht kaum eine der Gruppen überregionale Aufmerksamkeit. Die Aufnahmen von Rappern wie Tetris, Reno oder Zkiboj nennen sich "nielegal", was sich zwar als "illegal" übersetzen lässt, jedoch mehr für "inoffiziell" beziehungsweise "ohne Label" stehen soll. Als dann gegen Ende der 90er eine neue Generation von Rapper:innen auf der Bildfläche erscheint, die sich eher im "inteligentny HipHop", also "Conscious Rap" bewegt, kommt der HipHop-Kultur in der polnischen Gesellschaft mehr Respekt und damit auch mehr Aufmerksamkeit zu. Aus diesem Grund beginnen Radiostationen und Fernsehsender wie "VIVA Polska!", mehr HipHop ins Programm aufzunehmen. Gleichzeitig erscheinen mit dem "Klan" und "Hip-hop Magazine" quasi die Äquivalente zu JUICE und BACKSPIN auf dem Markt.
Somit sichert sich HipHop in Polen zu Beginn der 2000er einen festen Platz in der Medienlandschaft. Nun entsteht sogar schon eine Zusammenarbeit mit einem deutschen MC: Im Jahr 2000 ist die Gruppe Paktofonika zu Gast in Witten und recordet zusammen mit Lakmann den Song "2 Kilo" – den wohl ersten deutsch-polnischen Rapsong. Dieser erscheint auf "Kinematografia", dem ersten Album der Gruppe, welches gute Verkaufszahlen liefert und bis heute als wegweisend für polnischen Rap gilt. Tragischerweise begeht Magik, einer der Gründer von Paktofonika, sechs Tage nach Release des Albums Selbstmord. Er geht für immer in die Geschichte von polnischem HipHop ein. Im Jahr 2001 erscheint dann das fünfte Studioalbum von Liroy, "Bestseller". Dafür erhielt er sogar Unterstützung aus Amerika: Prodigal Sunn aus dem Wu-Tang Clan-Umfeld, Ice-T und niemand Geringeres als Lionel Richie steuerten Gastparts für sein Album bei. Insgesamt blickt die polnische HipHop-Szene zu dieser Zeit häufiger ins Ausland, denn weil HipHop in anderen Ländern früher Fuß fassen kann, sind die Szenen dort weitaus gefestigter und weiter entwickelt – vor allem die deutsche. So erscheint Mitte der 00er Jahre "Drewnianej Małpy Rock" von DonGURALesko, auf dem ein Sido-Feature zu finden ist. Im Gegenzug erscheint im Jahr 2007 der Song "Te Typy" auf Sidos Album "Eine Hand wäscht die andere" und auf dem Album "Sobotaż" von Sobota sogar eine Strophe von Kool Savas. Darüber hinaus releasen einige deutsche Rapper:innen mit polnischen Wurzeln, wie KAAS oder Sentino, auch einzelne Tracks oder gar Alben auf Polnisch.
Rap in Polen ist bis zum Ende der 00er Jahre kaum politisiert, dennoch wird der Wandel und die große Ungleichheit, die das Land durchmachen muss, natürlich immer wieder thematisiert. Des Weiteren fällt auf, dass Lokalpatriotismus trotz einiger Ost- und West-Beefs eher eine untergeordnete Rolle spielt. In der Szene sieht man sich anscheinend weniger als Warschauer oder Danziger, sondern als Pole. Aus diesem Umstand heraus erwächst eine starke Identifikation mit der eigenen Nationalität, welche sich beispielsweise im häufigen Tragen von Kleidung in Nationalfarben äußert. Dies wird weiterhin dadurch befeuert, dass in der polnischen Gesellschaft durch ihre Vergangenheit in der Sowjetunion ein starkes Bedürfnis nach nationaler Unabhängigkeit und Identität herrscht. Diese Umstände öffnen Nationalisten im polnischen Rap leider Tür und Tor. So können in den 2010er Jahren einige Rapper mit Kontakten zur Hooligan- und Neonaziszene Klickzahlen in Millionenhöhe einstreichen. Mit Textzeilen wie "I guess it's a bad sign, I seem to be too white for the modern Europeans to love me. Worse still, I'm arrogantly proud of being a Pole […]. What father'd like to have a black for a son-in-law? […] Tell me, what father would want an Arab for a son-in-law? What father will bring up his daughter to be a servant? What father wants his daughter to be a lesbian? […]" (Anm. d. Red.: ins Englische übersetzt) erregen sie zwar Aufmerksamkeit, jedoch keinen Skandal. Im Gegenteil – sie erhalten dafür besorgniserregend viel Zuspruch, denn Polen erlebt zeitgleich einen regelrechten Rechtsruck, welcher auch im Rest von Europa zu spüren ist. Leider sind bis heute polnisch-nationalistische Rapper durchaus erfolgreich.
Abseits dessen ist polnischer HipHop durch seine einzigartige Entwicklung sehr interessant. Projekte wie "Poeci" des Producer-Duos White House, bei dem verschiedene Rapper Gedichte von polnischen Poeten auf Beats performen, sind dort keine Seltenheit. Zudem hat der internationale Erfolg von HipHop-Musik auf Polen abgefärbt, wenn auch erst spät. Der Rapper Quebonafide veröffentlicht beispielsweise im Jahr 2020 das Album "Romantic Psycho". Dieses wird innerhalb von 24 Stunden 4,3 Millionen Mal gestreamt und hat ihn damit zum beliebtesten Musiker auf Spotify in Polen gemacht. Abseits des Mainstreams erfreuen sich dort gerade abstrakte Formen der HipHop-Musik, wie zum Beispiel Jazzrap oder Cloudrap, großer Beliebtheit.
Insgesamt hatte es HipHop-Musik in Polen durch die Abschottung der Sowjetunion und dem zuerst unpassenden sozialen Kontext durchaus nicht leicht: Platten waren nur schwer erhältlich und Geschichten von sozialem Aufstieg haben im vom Kommunismus geprägten Polen schlicht nicht gegriffen. Darum blieb auch lange Zeit ein flächendeckender Erfolg von HipHop, wie in Deutschland oder Frankreich, aus. Als HipHop dann letztendlich in Polen angekommen war, wurden hauptsächlich musikalische und ästhetische Aspekte adaptiert – überraschenderweise auch aus Deutschland. Das hat dazu geführt, dass sich HipHop als Kultur mit ihren Werten in Polen weniger etabliert hat und Rap dort, im Gegensatz zu anderen Ländern, weitestgehend unpolitisch blieb. Somit konnte die nun von einem Wertesystem losgelöste Musik relativ leicht instrumentalisiert werden, auch für Strömungen, deren Ideologie gänzlich gegen die der HipHop-Kultur steht. Des Weiteren musste sich Polen in den 90er Jahren – der Zeit, als HipHop aufkam – mit einer neuen Identität zurechtfinden, da es nun als selbstständiges Land anstatt als Teil der Sowjetunion agieren musste. Aus diesem Grund waren die Texte polnischer Musiker schon immer häufig heimatbezogen, was im späteren Verlauf rechten Strömungen leider abermals in die Karten gespielt hat.
Existiert so etwas wie europäischer HipHop überhaupt?
Betrachtet man nun die Entwicklung der jeweiligen HipHop-Szenen in Italien und Polen, so lassen sich neben den weitreichenden Unterschieden natürlich auch Gemeinsamkeiten feststellen. Beispielsweise erlebte Rapmusik in beiden Ländern, wenn auch mit ein paar Jahren Verzögerung, in etwa denselben Zyklus, was kommerziellen Erfolg angeht. Auch wird sich – egal, wo auf der Welt – stark am amerikanischen HipHop orientiert. Dieser ist in den letzten Jahren soundtechnisch wesentlich zugänglicher für die breite Masse geworden, was sich natürlich auch auf die Verkaufszahlen in Europa niederschlägt.
Durch die trotz der individuellen Verbreitung sehr ähnliche Kommerzialisierung in den einzelnen Ländern, gemeinsamen Projekte der Artists und immer stärker werdende Vernetzung könnte man fast auf die Idee kommen, von "europäischem HipHop" zu sprechen. Jedoch existieren einige signifikante Unterschiede zum US-HipHop. Zuerst einmal ist aber anzumerken, dass die Verbreitung von Musik als kulturelles Gut – vor allem in der Zeit vor dem Internet – stark im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten steht, auf die sie trifft. Somit fand HipHop innerhalb der USA auch relativ ungehemmt Anhänger, denn die Umstände in den Großstädten des Landes waren vergleichsweise ähnlich. Außerdem gab es keine Sprachbarriere zwischen den einzelnen Staaten. Somit zeigt sich schon ein fundamentaler Unterschied zu den Verhältnissen in Europa: Hier finden sich keine Bundesstaaten, sondern unabhängige Länder, welche durch ihre individuelle Geschichte, Kultur und Sprache geprägt sind. Aus diesen Gründen hat sich HipHop-Musik in den einzelnen Ländern – wie bereits beschrieben – unterschiedlich schnell verbreitet. Auch konnte sich dadurch kaum eine europäische HipHop-Szene entwickeln, denn jedes Land adaptierte die Musik und Kultur individuell für sich. Damit ist es nicht möglich, von europäischem HipHop zu sprechen, wie man von US-amerikanischem spricht.
Weiter ist es nicht verwunderlich, dass HipHop-Musik zuerst nach Großbritannien überschwappte. Dort existierte schlichtweg keine Sprachbarriere zu den englischen Texten aus den USA. In Frankreich verbreitete sich HipHop ebenfalls relativ schnell, denn große Teile der dort lebenden Black Community fühlten sich, aufgrund der Kolonialgeschichte und vorherrschenden sozialen Umständen des Landes, von den Inhalten angesprochen. In Ländern wie Polen oder Tschechien, welche bis in die frühen 90er zur Sowjetunion gehörten, konnte sich HipHop dagegen nur schwer verbreiten. Auch zeichnete sich ab, dass HipHop in vielen Ländern relativ schnell von migrantischen Communitys adaptiert wurde. Diese blickten selbstverständlich auf eine gänzlich andere Historie als Schwarze in Amerika, konnten sich aber dennoch mit Geschichten von Armut, Rassismus und damit einhergehender Ausgrenzung identifizieren. Besonders hierzulande ist dies zu beobachten, denn schon in den späten 80ern wurde in Deutschland beispielsweise auf Türkisch und Serbokroatisch gerappt – lange bevor die Musik in den jeweiligen Ländern angekommen war. Linguist von Advanced Chemistry sagte passend dazu: "Die einzige eigenständige Entwicklung, die die HipHop-Szene in Deutschland hervorgebracht hat, ist die bunte Sprachvielfalt, die sich gleichberechtigt die Bühne teilt", auch wenn die deutsche Sprache natürlich dominiert.
Damit spielte er auch auf einen häufig vorgebrachten Vorwurf an: HipHop in Europa sei musikalisch zu nah am amerikanischen "Original". Dabei ist hier zu bedenken, dass die Ursprünge nun mal andere sind. Während sich amerikanische HipHop-Musik durch das Sampling aus verschiedenen Genres zusammensetzte, wurde in Europa quasi HipHop an sich im übertragenen Sinne "gesampelt" und in den jeweiligen Ländern adaptiert. Dadurch bleiben amerikanische Rapper:innen bis zum heutigen Tag natürlich Vorbilder. Entgegen dieser Kritik haben sich allerdings unter anderem in Großbritannien einflussreiche Strömungen, wie zum Beispiel Trip-Hop, Grime oder UK Drill, entwickelt.
Und dennoch: HipHop wurde in Europa quasi als "fertiges" Konstrukt importiert und hat sich nicht erst hier entwickelt. Sowohl musikalisch als auch kulturell. Hier wurden lediglich einzelne Aspekte daraus adaptiert, denn in ihrer Gesamtheit passt die HipHop-Kultur – aus genannten Gründen – lediglich in modifizierter Form in die europäische Gesellschaft. Führt man diesen Gedanken nun zu Ende, so könnte man tatsächlich behaupten, HipHop in Europa sei kein HipHop, sondern lediglich etwas Neues, was sich daraus entwickelt hat.
(Nico Maturo)
(Titelbild von Daniel Fersch)