Besetzungen oder andere Hausprojekte haben auf viele Menschen einen anziehenden Charakter, auf andere wiederrum überhaupt nicht. Bemalte Wände, laute Musik, verschiedene Menschen, alternatives Denken und ein omnipräsentes Gemeinschaftsgefühl – Werte, Haltungen, Dinge und eine Kultur, die sich gar nicht so stark von der der HipHop-Szene unterscheidet. Trotzdem gibt es gefühlt kaum Berührungspunkte zwischen den Szenen, stattdessen driftet Rap immer weiter in popkulturelle, kapitalistische Sphären ab. Um dem im Rahmen unserer Möglichkeiten zumindest etwas entgegenzusetzen, haben wir Tightill, der das Beste beider Welten in sich trägt, getroffen. Der Weltenbummler aus Bremen hat selbst lange in Besetzungen gelebt und verarbeitet diese Zeit heute in seiner Musik. Wir haben uns mit ihm unter anderem darüber unterhalten, wem die Stadt an sich überhaupt gehört. Über den Kiez und diejenigen, die ihn aktiv mitgestalten und so Kultur schaffen und über die, die ihn zerstören und für höhere Profite über Leichen gehen. Wir haben geklärt, wer die Hauptschuld an Gentrifizierung, steigenden Mieten und akuter Wohnungsnot trägt und warum Täter aus ebendiesen Gründen hier nicht auch Opfer sein können. Denn öffentlicher Raum ist vor allem für marginalisierte Bevölkerungsschichten und sozial Schwächere extrem wichtig; und genau deshalb ist es unabdingbar, dass er weiterhin bestehen bleibt.
MZEE.com: Du bist schon viel herumgekommen, hast in Bremen, Berlin, Zürich und Barcelona gelebt. Hast du dort in besetzten Häusern gewohnt?
Tightill: In Deutschland gibt es heute gar keine Besetzungen im ursprünglichen Sinne mehr. Das sind meistens legalisierte Ex-Besetzungen, so auch das Georg-von-Rauch-Haus in Berlin. Es gibt ein paar stille Besetzungen, die sind aber nicht öffentlich. Ein paar Freund:innen von mir haben das gemacht, einfach ein paar Zimmer in alten Häusern in Berlin besetzt, die eh abgerissen werden sollten. Da hat meist sowieso nur noch eine Partei im Haus gewohnt und dann haben sie sich halt ein paar Zimmer geklärt. Niemand wusste, dass sie da wohnen, oder die haben sich halt mit der letzten Partei im Haus abgesprochen. In Barcelona und Zürich hab' ich in richtigen, öffentlichen Besetzungen gewohnt und wirklich keine Miete bezahlt. (lacht)
MZEE.com: Was hat dich an dieser Wohnform gereizt?
Tightill: Zuerst einmal selbstbestimmtes Wohnen. Du musst nichts bezahlen, ich hatte damals nicht viel Geld, das war schon cool. Du kannst mit deinen Freund:innen zusammenwohnen und musst keine Schufa und so weiter vorlegen, sondern gehst einfach hin und holst dir das Haus. Das ist wie beim Graffiti, man nimmt sich die Sachen einfach. Ich finde das bei der jetzigen Gentrifizierungs- und Rechtslage auch mega legitim. Die Häuser, in denen ich in Barcelona gelebt habe, gehören der Bank von Madrid. Die sind jetzt, über zehn Jahre später, wieder leer, also reine Spekulationsobjekte. Ich tue niemandem weh, wenn ich da wohne. Deswegen find' ich's politisch eine wichtige Sache. Außerdem werden Partys, Kinoabende, Box-Training oder Voküs (Anm. d. Red.: Hier wird Essen zum Selbstkostenpreis oder sogar darunter angeboten) und so weiter für jede:n angeboten. Und das eben nicht aus dem Gedanken heraus, damit Geld zu verdienen. Diese Menschen in den Häusern arbeiten gegen Spenden oder eben allein für die Unkosten. Das wiederum bietet einen Raum für Menschen, die irgendwie durch das System gerasselt sind und an solchen Orten wieder aufgefangen werden. So schaffst du Kultur für die Nachbarschaft und die ganze Stadt. Aber du kannst natürlich genauso einfach mit deinen Freunden umsonst wohnen und chillen, das ist auch cool. (lacht)
MZEE.com: Das Rauch-Haus ist das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanien-Krankenhauses in Berlin, das nach der Erschießung von Georg von Rauch durch die Berliner Polizei nach ihm benannt wurde. Was hat es in dir ausgelöst, am gleichen Fenster zu stehen, aus dem Rio Reiser schon vor 50 Jahren den "Rauch-Haus-Song" grölte?
Tightill: (lacht) Musikalisch ist er super wichtig für mich. Ich seh' ihn ein bisschen als mein persönliches Kulturerbe. Er hat zwar, glaube ich, gar nicht selbst im Rauch-Haus gewohnt, aber er und die ganze Band von Ton Steine Scherben waren natürlich Teil der Bewegung und haben viele Dinge komplett authentisch in ihren Songs aufgegriffen. Ich liebe den "Rauch-Haus-Song" und Rio Reiser ist ein ziemlicher King. Es gibt aus den 70ern und 80ern ein paar Dokus über die ganze Bewegung, die sind ziemlich interessant.
MZEE.com: Ich stelle es mir stressig vor, mit so vielen Menschen in einem Haus zu wohnen. Wie ist es dir diesbezüglich ergangen?
Tightill: Mit vielen Leuten zusammenzuwohnen, ist heftig. In Hausprojekten oder besetzten Häusern, vor allem in Barcelona, aber in allen anderen auch, wohnen meistens Outlaws, wenn du so willst. Also Leute, die sich im System nicht wohlfühlen. Freaks halt. Das ist spannend und ich zähle mich ja selber auch dazu. Ich fühle mich im "richtigen Leben" immer noch nirgendwo so richtig zu Hause, außer in der Musik vielleicht. Ich thematisiere auch oft in meiner Mucke, dass alle meine Freund:innen Freaks sind. (lacht) Das war schon vor den besetzten Häusern so. Es ist megaspannend, man weiß nie, was als Nächstes passiert.
MZEE.com: Im Zuge der Räumung der Liebig 34 in Berlin sind bestehende Solidaritäten sowie ein Kollektivgedanke unter Besetzern in Form einer Demonstration mit etwa 1 000 Teilnehmern deutlich geworden. Für wie wichtig hältst du diesen Zusammenhalt im Kampf gegen die fortlaufende Gentrifizierung und steigende Mieten?
Tightill: Ich finde den sehr wichtig. Ich denke sogar, dass das eigentlich ein gesamtgesellschaftliches Ding ist. Hausprojekte werden von Normalos als gesondertes Ding gesehen, obwohl steigende Mieten ein Problem für fast jede:n von uns darstellen. Das ist unter anderem das, wogegen protestiert wird. Ich habe viel gelesen und gehört und mich auch mit ein paar Menschen auseinandergesetzt. Im Berlin der 70er und 80er herrschte eine riesige Solidarität zwischen Besetzer:innen und allen Mieter:innen nebenan. In Kreuzberg sollte alles komplett saniert und die Altbauten abgerissen werden, es stand total viel leer. Viele Nachbar:innen fanden es einfach total legitim, dass die leerstehenden Häuser dann besetzt wurden. Die Besetzer:innen haben oft noch sehr viel Arbeit in die Häuser gesteckt und sie erst wieder bewohnbar gemacht. Instandbesetzung hieß das damals. Ich glaube, es würde heute auch mehr passieren, wenn sich die ganze Gesellschaft in Hinblick auf den Mietenwahnsinn solidarisiert. Ich kenn' mich mit der aktuellen Lage ehrlich gesagt nicht gut genug aus und will da nichts Falsches sagen. Ich rede vor allem über das Grundverständnis. Wir sitzen alle irgendwie in einem Boot.
MZEE.com: Besetzungen können auch Schutzräume für LGBTQI+- Personen, Menschen, die von Rassismus betroffen sind oder für diejenigen, die sich keine Mieten leisten können, liefern . Trotzdem ist die Haltung in der Gesellschaft eher ablehnend. Wie erklärst du dir das?
Tightill: Ich glaube, viele sehen Hausbesetzer:innen als Freaks an und verstehen gar nicht, was da passiert. Vielleicht gehen sie mit dem äußeren Bild nicht einher, weil alles angemalt ist, und empfinden dann Abneigung dagegen. Als es in den 70ern losging, gab es in der ganzen Gesellschaft einen linken Aufschwung. Heutzutage geht sehr viel Solidarität über kleinteilige Machtstrukturen verloren. Statt zu denken "Fuck, meine Miete wird auch erhöht, also solidarisiere ich mich mit den Besetzer:innen", denken viele "Oah nee, die haben ein angemaltes Haus und sind manchmal laut – mit denen will ich nichts zu tun haben". Die sehen das größere Bild nicht. Der Hauseigentümer der Rigaer 94 in Berlin zum Beispiel war, laut Indymedia, Richter zur Zeit der Apartheid in Südafrika. Wenn dem so ist, ist er meiner Meinung nach einfach ein widerlicher Rassist. Ausgerechnet er hat dann unten in der Rigaer 94 zwei Wohnungen für Geflüchtete errichtet, um im selben Zuge die Besetzer:innen räumen zu können. Das ist natürlich darauf abgezielt, dass die BILD und ähnliche Blätter schreiben können: "Jetzt protestieren die Linken gegen Geflüchtete." Das war schon ein sehr kluger Schachzug, muss man ihm lassen. So wird die öffentliche Meinung manipuliert. Da läuft echt vieles verkehrt.
MZEE.com: Etwa zeitgleich wurde in Bremen die Dete, das ehemalige Kulturzentrum, besetzt. Das sollte einen Rückzugsort für FLINTA-Personen (Anm. d. Red.: Frauen, Lesben, Intersexuelle Menschen, nicht-binäre Personen, Trans-Personen und Asexuelle Personen) schaffen und Solidarität mit den Berliner Besetzern der L34 demonstrieren. Kennst du das Projekt und kannst etwas darüber erzählen?
Tightill: Leider nein, muss ich ehrlich sagen. Ich bin auch gerade in Hamburg und nicht in Bremen, trotzdem peinlich, aber ich kenn' mich da leider gar nicht aus. (lacht) Ich komm' zwar aus besetzten Häusern und liebe das auch, trotzdem habe ich mich etwas zurückgezogen. Ehrlich gesagt war meine Musik sogar ein Grund dafür. Wenn du deinen eigenen Personenkult sozusagen im Vordergrund hast, war es für mich komisch, in so einer Gemeinschaft zu wohnen. Aber ich lasse dieses Gefühl, was ich aus der Zeit mitgenommen habe, weiter in meiner Musik mitschwingen. Ich habe zehn Jahre in Besetzungen gelebt. Das hat mich echt sehr geprägt.
MZEE.com: Siehst du die Hauseigentümer auch in einer Opferrolle?
Tightill: Es gibt da einen riesigen Unterschied. Wenn eine Omi eine Eigentumswohnung vermietet, um ihre Rente ein bisschen aufzubessern, würde ich diese nicht besetzen. Aber Wohnungsbaugesellschaften, denen mehrere Straßen in Berlin oder wo auch immer gehören – das ist Hardcore-Geldmache. Die haben Schuld daran, dass es Gentrifizierung gibt und Städte zerstört werden. Deshalb ist es politisch wichtig, dass es sowas wie Besetzungen gibt. Du nimmst dir ein Stück von der Straße zurück, das dir genommen wurde. Im Großen und Ganzen haben Wohnungsbaugesellschafften oder auch Banken nur im Sinn, mehr Geld rauszuschlagen. Denen ist scheißegal, welche Kultur und Beziehungen es auf der Straße oder in dem Viertel gibt. Heutzutage werben Hauseigentümer:innen zum Teil sogar mit einem "urbanen Charme". Bedeutet, sie verwerten sogar noch, was sie im gleichen Zuge zerstören. Krank! Die sehe ich also null in der Opferrolle, sondern als genau das Gegenteil: als Täter:innen der Gentrifizierung und der Zerstörung der Stadt.
MZEE.com: Glaubst du, dass Kampagnen wie die kürzlich gestartete "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" einen ersten Schritt in Richtung bezahlbarem Wohnraum für jeden darstellen können?
Tightill: Ja, auf jeden Fall. Wir brauchen mehr Genossenschafts- und Gemeinschaftswohnungen. Es müssen nicht immer besetzte Häuser sein. Ein besetztes Haus liefert zwar in vielen Ländern ein gutes Schlupfloch, um den Mieten zu entgehen und neben dem System zu leben. Aber für ein:e Rentner:in zum Beispiel ist es ja viel schwieriger als für mich, mal eben ein Haus zu besetzen. Da wäre es natürlich cooler, wenn die Person günstig in dem Viertel bleiben könnte, in dem sie immer gewohnt hat. Zum Beispiel in Genossenschaftswohnungen, die einen Mietendeckel haben. Sowas gibt es viel zu wenig. Bei Neubauten existiert, glaube ich, ein Prozentsatz, der die Mindestanzahl von Sozialwohnungen festlegt, aber da läuft auch vieles falsch. Manche Leute vermieten zum Beispiel Wohnungen an unbegleitete geflüchtete Jugendliche und nehmen 'ne viel zu fette Miete für ein Mini-Zimmer mit integrierter Küche, weil sie wissen, dass das Amt ihnen eh den Vollsatz bezahlt. Das hat natürlich wenig mit korrekt sein zu tun. Da wäre ein Genossenschaftsmietdeckel schon eher ein Schritt in die richtige Richtung.
MZEE.com: Kommen wir zum Abschluss noch mal zu einem unschöneren Part. Dieses Jahr wurden enorm viele Besetzungen geräumt. Rio Reiser hatte dazu eine klare Meinung: "Wenn die das Rauch-Haus wirklich räumen, bin ich aber mit dabei und hau' den ersten Bullen, die da auftauchen, ihre Köpfe ein." – Warst du selbst schon von einer Räumung bedroht und kannst den Gedanken nachvollziehen?
Tightill: Ja ja, klar, ich wurde selbst schon gewaltsam aus meinem Zuhause in Barcelona geräumt. Das ist natürlich ein scheiß Gefühl und da wird man extrem wütend, das spricht Rio ja auch an. (lacht) Im Endeffekt sitzen die am längeren Hebel und haben eben 'nen Knüppel und 'ne Knarre. Die Bullen sind auch nur Handlanger vom Staat, was schon scheiße genug ist. Selbst wenn du zehn Bullen wirklich die Köppe einhaust, dann kommen halt beim nächsten Mal 100. (lacht) Wir haben auch schon Räumungen mit guten Barrikaden verhindert, aber dann ist es eben nur eine Frage der Zeit, bis sie dich dann doch räumen. Ich glaube, auf das Gefühl spielt Rio da ein bisschen an. Am Ende ziehst du leider den Kürzeren und dein Haus ist weg, so ist zumindest meine Erfahrung. Die Entscheidungen liegen leider nur beim Staat und der Gewichtung von Eigentum in unserer Gesellschaft. Es ist anscheinend manchmal wichtiger, dass es Leerstand gibt als bewohnte Häuser. Klingt zwar komisch, ist aber echt so. Gerade in der heutigen Zeit ist es deswegen umso wichtiger, dass man sich weiter Räume in der Stadt zurückholt. Es werden immer mehr kulturelle Orte zerstört – Parkbänke werden abgeschraubt, eigens gebaute Skateparks abgerissen, Clubs schließen. Es wird einfach viel zu viel öffentliches Leben plattgemacht. Eigentlich ist alles ein großes "Wir gegen die". Also "wir" als diejenigen, die in der Stadt leben, den Kiez erst lebendig machen und schon lange, bevor es cool war, gemacht haben, gegen "die", die unsere Stadt kaputt machen und nur Dollar-Signs in den Augen haben, ganz einfach.
(Jonas Jansen)
(Fotos von Till Wilhelm)