Waving the Guns halten seit Jahren die Fahne für den antifaschistischen Widerstand hoch. Die Texte von Rapper Milli Dance sind geprägt vom Protest gegen Rassismus, Sexismus, Klassismus und Turbokapitalismus. Auch abseits der Musik positionieren sich Milli und sein Produzent Dub Dylan regelmäßig politisch ‒ egal, ob durch Gigs auf Demonstrationen oder das Aufmerksammachen auf aktuelle Geschehnisse und Aktionen auf den Social Media-Kanälen des Duos. Wir sprachen mit Milli Dance im Interview darüber, wie Protest aussehen sollte, damit er erfolgreich ist. Was ist seine Meinung über Protest im Internet, Online-Aktivismus und dessen Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion? Und welche Gefühle lösen die Querdenker in jemandem aus, der nicht gegen das Tragen einer Maske, sondern für die Rechte anderer auf die Straße geht? Diese und viele weitere Fragen klärten wir im Gespräch.
MZEE.com: Kannst du dich daran erinnern, wann du das erste Mal aktiv gegen etwas protestiert hast?
Milli Dance: Ich hab' mich bei einer Untersuchung im Kindergarten geweigert, mich auszuziehen. Ich wollte das nicht und wurde auch nicht untersucht. (lacht) In der Provinz, in der ich aufgewachsen bin, sind wir Skateboard gefahren und dadurch regelmäßig in Konflikte mit dem Ordnungsamt geraten. Das war auch eine Art Protest. Es gab nichts, deshalb haben wir uns selbst etwas gebaut und wurden wieder weggeschickt.
MZEE.com: In einem Interview mit der VICE hast du erzählt, dass der Ursprung deiner Politisierung darin liegt, dass du von Nazis umgeben warst und auf keinen Fall dazugehören wolltest.
Milli Dance: Das war einfach ziemlich früh ein Thema. In der sechsten, siebten Klasse hast du gemerkt, wer aus deiner Sicht ein Nazi war. Dann hat sich gefunden, was nicht rechts war beziehungsweise alternativ, grob gesagt. Viel mehr politische Ausdefinierung war da noch nicht.
MZEE.com: Welche Demonstration war deine erste?
Milli Dance: Das war die "Game over Kraut"-Demo zum Tag der Befreiung 2004 in Rostock.
MZEE.com: Stand der politische Hintergrund damals bereits im Vordergrund oder bist du mehr oder weniger durch dein Umfeld dort gelandet?
Milli Dance: Wir waren mit ein paar Leuten aus dem Umfeld dort, aber es gab keine Antifa-Gruppen oder so. Es war eher ein allgemeines Interesse dafür, irgendwie links zu sein. Es war Samstag, wir hatten Zeit und haben uns das mal angeguckt. Wir hatten keine Erfahrung und übel Schiss vor den Bullen, die sich auf einmal Helme aufgesetzt haben. Wahrscheinlich stand ich da und hab' das Peace-Zeichen gezeigt. (lacht) Das war eine ganz entspannte Demo, es gab keinen direkten Gegner. Wobei, irgendwelche Nazis haben Papierschiffchen in den Schwanenteich gelassen und eine Trauerfeier veranstaltet. Ansonsten ist man eher für sich gelaufen, die Demo an sich hat mich schon mitgeprägt.
MZEE.com: Haben Demos danach einen größeren Teil deiner Freizeitgestaltung ausgemacht?
Milli Dance: Bis 2008 war ich nicht auf vielen Demos. Man war beim G8-Gipfel und hat sich angeguckt, wie es gescheppert hat und war komplett überfordert. Aber wir waren nicht sonderlich organisiert und jede Woche auf einer Demo. Politisches stand auch noch nicht im Vordergrund, außer dass Nazis kacke sind und wir unsere Ruhe vor denen haben wollten.
MZEE.com: Wann ist das Politische mehr in den Vordergrund gerückt?
Milli Dance: Mit meinem Umzug nach Rostock und dem Anschluss an neue Leute. Das war eine intensive Zeit, in der wir viel auf Demos gefahren sind. Wir waren Anfang 20 und natürlich auch erlebnisorientiert.
MZEE.com: Anders als du politisieren sich viele junge Menschen heute im Internet. Protest findet online statt ‒ über Instagram, Twitter und Petitionen. Du beteiligst dich über verschiedene Kanäle ebenfalls daran. Wie viel lässt sich deiner Meinung nach durch Online-Protest bewirken?
Milli Dance: Das ist eine gute Frage, die ich mir auch stelle. Es ist immer schwer, einzuschätzen, wie viel etwas ausmacht. Das ist mit Musik genauso. Ich werde auch gefragt, wie wichtig Musik mit einer Message ist und wie viel sie bewirken kann. Keine Ahnung. Ich denke nicht, dass es nichts bewirkt. Alles ist ein Zahnrad im Gesamten. Zu sagen, dass Protest im Internet nicht echt sei, finde ich deshalb bescheuert. Guck dir an, wie viel bis jetzt im Arabischen Frühling online passiert. Man sollte es auch nicht überhöhen, sondern realistisch und mit einer gewissen Demut betrachten. Etwas zu teilen, kann die Reichweite vergrößern, aber es kann genauso gut untergehen. Das ist keine Heldentat. Natürlich füttert man immer ein bisschen die eigene Bubble. Ich glaube eigentlich nicht, dass ich viele Menschen erreiche, die nicht sowieso auf einem ähnlichen Trichter sind. Allerdings bekomme ich manchmal auch Nachrichten von Leuten, bei denen ich mich frage, wie sie auf uns gekommen sind. Wir haben mit Waving the Guns eine Reichweite von ungefähr 20 000 Menschen und wollen die nutzen, um Inhalte, die wir wichtig finden, zu teilen. Für manche Leute ist das aber auch alles, die finden nur im Internet statt. Ich will niemandem absprechen, sich im richtigen Leben gerade zu machen, aber online ist es natürlich auch schnell Selbstdarstellung und Identität.
MZEE.com: Klar, es ist offensichtlich bequemer, eine Story zu machen, als auf die Straße zu gehen. Aber ich denke auch, dass auf Instagram aktuell viel Content produziert wird, der für viele Menschen ein guter Einstieg zum Beispiel in antirassistische Arbeit oder Queer-Themen ist.
Milli Dance: Das geht mir auch so und will ich gar nicht leugnen. Ich bekomme durch diese Kanäle Input und kann andere Blickwinkel einnehmen.
MZEE.com: Denkst du, dass es ein Problem ist, dass sich zu viele Menschen auf Online-Protest ausruhen? Oder hast du das Gefühl, dass sich auch dadurch mehr Menschen politisieren und auf die Straße gehen?
Milli Dance: Keine Ahnung, ich kenne diese Instagram-Leute ja nicht. Ich weiß nicht, was die sonst machen. Du kannst aber generell fragen, wie die aktuelle Diskursverschiebung nach rechts passiert: Durch ständiges Wiederholen von Narrativen. Die werden in die Kommentarspalten gefeuert und ich hab' keinen Bock, mir Gefechte mit diesen Leuten zu liefern. Wenn du Kommentare liest, hast du den Eindruck, dass es nur noch Rechte gibt. Von daher kannst du nicht sagen, dass es Quatsch sei, sich online zu engagieren. Ganz reell finde ich es natürlich gut, täglich Content zu produzieren, der fortschrittliche Themen behandelt, in dem über den NSU und andere Nazi-Aktivitäten aufgeklärt wird. Wenn dieser Raum nicht dadurch ausgefüllt wird, nehmen ihn nur die Rechten ein. Soziale Medien sind einfach zu wichtig und deshalb muss das passieren, Punkt.
MZEE.com: Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt im Internet kommentiert.
Milli Dance: Das stimmt, es ist auch bei vielen von denen ein reiner Online-Aktivismus. Ich kenne das ja selbst: Bei Nachrichten zu Morddelikten oder Anschlägen schaue ich gar nicht mehr in die Kommentare, weil ich weiß, dass darunter über die Nationalität des Täters spekuliert wird. Ich würde eher die Frage stellen, ob es ein Mann war. Ist meiner Meinung nach eine bessere Kategorie, um einzuordnen, wer kriminell wird. Aber wie gesagt: Das ist deren Aktivismus, viele dieser Kommentierenden haben noch nie etwas anderes gemacht. Das soll es nicht runterspielen, es ist trotzdem total ernst zu nehmen. Aber es ist eine Internetblase, die es normalerweise nicht ins reale Leben schafft. Außer jetzt bei den Querdenker-Idioten, von denen 40 000 durch Leipzig laufen. Da sieht man, dass es doch möglich ist. Aber diese Gruppe ist so diffus, dass es für sie, glaube ich, schwierig wird, konkrete Gemeinsamkeiten zu finden, wenn es nicht mehr um Corona geht.
MZEE.com: Wie du schon sagst, findet bei diesen Menschen gerade eine Politisierung statt. Was löst es in dir aus, dass Leute, die sonst vermutlich kaum für oder gegen etwas demonstriert haben, jetzt gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen?
Milli Dance: Eine Mischung aus Besorgnis, der Erkenntnis, wie das alles damals passieren konnte, Kopfschütteln und reiner Verachtung. Juri Sternburg hat sinngemäß geschrieben: "Was für Wohlstandsboomer da unterwegs sind, hat man gesehen, als der erste sanft von der Polizei geschubst wurde und sie den Polizisten mit absolut ehrlicher Empörung angeguckt haben." Das fand ich ziemlich passend. Es löst viel Wut in mir aus. Es gibt so viele reale "Verschwörungen". Die sind natürlich medial weniger präsent als Corona. Keiner der Idioten, die jetzt montags rumlaufen und für "Frieden, Freiheit und Grundrechte" demonstrieren, erwähnt das neue Verfassungsschutzgesetz oder das neue Sicherheits- und Ordnungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern. Da werden massive Grundrechtseinschränkungen möglich und meines Erachtens nach wird teilweise die Trennung zwischen Judikative und Exekutive aufgehoben. Die Polizei kann einfach entscheiden, irgendwo reinzugehen. Solche Dinge sind da nicht auf der Tagesordnung, sondern ob man eine Maske trägt, damit Oma nicht draufgeht. Natürlich ist es ein bisschen komplexer, wie Menschen da landen. Aber beim NSU ist niemand von denen auf die Straße gegangen. Es hat sie nicht gestört, dass es ganz offensichtlich eine rechtsterroristische Vereinigung gibt, bei der zu großen Teilen der Verfassungsschutz mit drin hängt. Die Leute reden von Überwachung, Diktatur und davon, dass demokratische Prinzipien ausgehebelt würden. Das mag zum Teil sogar stimmen, aber es wird so getan, als würde es keine Debatten im Bundestag darüber geben. Es gibt ja Kritik daran, dass so viel am Parlament vorbei entschieden wurde. Es ist einfach krass rücksichtslos gegenüber anderen Menschen. Ich fahre meine Oma nicht besuchen und hoffe, dass das bald wieder möglich ist und die Vollidioten laufen hier rum und tun so, als gäb's das alles nicht. Was seid ihr für verwöhnte, ignorante und egoistische Arschlöcher?
MZEE.com: Die Gesellschaft spaltet sich gefühlt immer mehr, auch nach rechts und links. Dialog ist häufig kaum möglich, oft gibt es für linke Protestthemen von der konservativen Seite kein Verständnis. Fehlt hier einfach der Wille, sich weiterzubilden?
Milli Dance: Ich denke, dass Ideologie eine große Rolle spielt, überall. Ich streite mich auch mit Linken, so ist es ja nicht. Und auch da sind viele verbohrt, blasiert und absolut davon überzeugt, zu wissen, wie es läuft. Es ist mir beispielsweise häufig zu undifferenziert, wenn es um Bullen geht, obwohl ich absolut kein Freund dieser Institution bin. Dennoch muss man sachlich bleiben und unterscheiden. Auch in der Linken gibt es einfache Antworten zu komplexen Sachverhalten. Jeder ordnet sich irgendeiner Richtung zu und die wenigsten akzeptieren, dass es krasse Konflikte sind, an die man mit etwas Demut und dem Eingeständnis, dass man auch nicht alles weiß, herangehen sollte. Man sollte seine Grundsätze haben und dann schauen, inwieweit die mit Dingen übereinstimmen. Um zu Konservativen und diesem Festhalten an alten Werten zu kommen: Da fallen mir Themen wie Gendern und das Sichtbarmachen von Marginalisierungen ein. Wieso wird sich so dagegen gesträubt, über Rassismus zu reden? Auch, wenn es um die Wirtschaft geht: Die Ideologie des freien Marktes, der alles regelt, ist so krass übergeordnet. Und zwar bei genau den Leuten, die Linken vorwerfen, ideologisch an alles heranzugehen. Diese Marktradikalität steht über jeder Vernunft. Es wird total dicht gemacht, wenn du das infrage stellst. Ich bin beispielsweise bereit, anzuerkennen, dass die Privatwirtschaft im Wohnungsmarkt Dynamiken freisetzt, die es in einem staatlich geregelten Markt nicht gibt. Natürlich sah hier alles besser aus, nachdem es die DDR nicht mehr gab. Aber womit geht das einher? Gäbe es da nicht vielleicht einen Kompromiss, um die Dynamiken sozialer zu nutzen? Ich würde mir wünschen, dass Leute offen für Argumente sind. Jeder kann sich, was das angeht, ändern und jeder rennt sich mal fest. Man sollte die Einstellung nicht zur Identität erheben. Wenn deine politische Ausrichtung dein gesamtes Selbstbild definiert, kommt niemand mehr wirklich an dich ran. Jedes Argument ist dann ein Angriff auf dich.
MZEE.com: Ich denke, dass Protest für Aktivisten sehr frustrierend sein kann, wenn keine Ergebnisse erreicht werden, beispielsweise an den Außengrenzen der EU oder in Moria. Kennst du dieses Gefühl?
Milli Dance: Ich bin nicht mit dem Boot auf dem Mittelmeer unterwegs gewesen, aber das Gefühl, nicht gehört zu werden und dass es eigentlich keinen interessiert, kennt man. Das ist sicher noch bitterer, wenn man wirklich vor Ort ist und direkt sieht, was passiert, man aber den Eindruck hat, dass das allen egal ist. "Entweder retten wir die Menschen oder sie ertrinken und außer uns wird niemand kommen." Im Zweifel werden sie von europäischen Staaten aufs Meer hinausgeschoben. Ich glaube, dass die Resignation dann noch sehr viel größer wird als bei jemandem wie mir, der in Deutschland sitzt und jeden Tag Mucke machen kann. Aber das Gefühl, fassungslos dazustehen, kennen alle Leute, mit denen ich mich unterhalte.
MZEE.com: Die Alternative kann natürlich nicht sein, nichts zu machen, dann hat man verloren. Ich habe großen Respekt davor, aber ich frage mich manchmal, wie es Aktivisten schaffen, sich zu motivieren, wenn sie gegen Windmühlen kämpfen. Beispielsweise bei der Besetzung von Wäldern, die gerodet werden sollen.
Milli Dance: Natürlich ist es manchmal Aktionismus, weil du irgendwas machen musst. Es ist eine Form von Selbstermächtigung und im Zweifel auch ein Weg, dem Ohnmachtsgefühl zu entfliehen. Es gibt dir ein gutes Gefühl, dich aktiv für eine Sache einzusetzen. Und wenn du nur einen Pressetext redigierst oder Ähnliches. Du bist nicht komplett passiv und machtlos, zumindest gefühlt. Das ist auf der einen Seite total gut, auf der anderen Seite muss man darauf aufpassen, nicht nur in Aktionismus zu verfallen. Wenn du etwas um der Aktion willen tust, kannst du dich auch verheizen. Ich würde jungen Leuten raten, schlau zu sein und genau zu überlegen, was man macht. Repressionen sind doller geworden. Aktuell soll jemand für zweieinhalb Jahre in Haft, weil die Fensterscheibe eines Polizeifahrzeugs kaputt gegangen ist. NSU-Unterstützer laufen währenddessen frei herum, in Rostock haben Nordkreuz-Mitglieder Leichensäcke gekauft und Listen geführt, auf denen Menschen stehen, die ich kenne. Also: Verbau dir nicht aus purem Aktionismus und einer Anti-Haltung alles, sondern sei schlau. Ich kenne das Gefühl, dass man etwas tun möchte. Aber im Zweifel kann es nachhaltiger sein, dass dein Führungszeugnis sauber ist. Aktionen wie im Dannenröder Forst oder im Hambi wiederum erregen große Aufmerksamkeit, das kann man nicht absprechen. Ich hab' auch Respekt davor. Wozu reden wir über Umweltpolitik, wenn diese Wälder abgeholzt werden? Das kommt dann auch bei mir an. Es ist schon etwas erreicht, wenn darüber gesprochen wird, ob politische Entscheidungen von vor langer Zeit nicht vielleicht doch umkehrbar sind. Damit kommen wir wieder zum Anfang: Man kann nicht immer sagen, was wie viel bringt. Deshalb ist es im Zweifel besser, etwas zu tun, als nichts zu tun. Irgendwann hat sich eine Frau in einem Bus geweigert, ihren Platz zu verlassen und daraus ist etwas Krasses entstanden. Verheiz dich nur nicht für Bullshit, mach dich nicht zum Märtyrer, wenn es nicht sein muss.
MZEE.com: Karl Marx hat einmal gesagt: "Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen." – Denkst du, dass die Ungerechtigkeiten auf der Welt wirklich am Wesen des Menschen liegen? Dann gäbe es ja recht wenig Hoffnung.
Milli Dance: Das ist natürlich eine grundsätzlich anthropologische Frage. Ich denke, dass das Zitat stimmt. Daraus würde ich schlussfolgern, dass der Mensch prinzipiell zu allem fähig ist, sowohl zu guten als auch zu schlechten Dingen. Ohne guten Einfluss wird er nicht besser. Da geht es um Erziehung und Vorbildhaltung. Welche erstrebenswerten Ziele vermittelt eine Gesellschaft? Ich glaube stark an Institutionen und Instanzen. Wenn du wirklich willst, dass Menschen gut zusammenleben, darfst du nicht darauf hoffen, dass der Mensch sich ändert und gut wird. Ich halte Aussagen wie "Jeder Einkaufszettel ist ein Wahlzettel!" für totalen Blödsinn. Ich will den Einzelnen nicht von Verantwortung freisprechen, aber man muss an der Wirtschaft ansetzen. Da darf es ja bloß keine Einschränkungen geben, das schränkt unsere Freiheit ein. Es werden ständig Freiheiten eingeschränkt, bloß nie die der Wirtschaft zugunsten von anderen. Man darf sich auch als Linker nicht darauf ausruhen, dass der Mensch zu Gutem fähig ist. Ist er, aber es gibt genauso viele Wichser. Ich folgere aus diesem Zitat, dass es Institutionen und Kontrollinstanzen braucht, die den Menschen auf einen wünschenswerten Weg bringen, auf dem er sich entfalten kann. Ich stimme ja der deutschen Polizeigewerkschaft zu: Polizisten sind auch Menschen. Haargenau. Und daraus folgt, dass man sie hammerhart überwachen muss. Das sind Menschen wie alle anderen und deswegen fehlerhaft. Und deshalb neigen sie dazu, sich über andere Menschen zu erheben und scheiße zu werden. Auch die Linke muss sich damit auseinandersetzen, wie eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen aussehen soll. Da ist vieles ein bisschen einfach gedacht. Stell dir vor, es würde der Sozialismus ausgerufen. Die Menschen in der DDR waren nicht auf einmal alle Antirassisten oder links. Für die alte deutsche Linke war Antirassismus auch nicht das oberste Thema. Das waren viele Proletarier mit wenig Bildung.
MZEE.com: Lass uns noch mal zurück zum Anfang des Interviews und zum Thema Protest kommen. Wie muss dieser deiner Meinung nach aussehen, damit er erfolgreich ist?
Milli Dance: Ich muss dazu tanzen können. (lacht) Nein, schwer zu sagen. Er sollte konkrete Themen haben und nicht zu diffus sein. Und er sollte möglichst inkludierend sein, auch für die Leute, die noch nicht Teil des Protests sind. Ich brauche nicht durch irgendeine Kleinstadt laufen, "Nazis raus" rufen und mich dann wieder verpissen. Was soll das bringen, außer dass die Leute denken, dass wir wahrscheinlich sie meinen? Es muss ernst zu nehmen und so gestaltet sein, dass Menschen daran Anschluss finden können. Ich hab' auch schon gesehen, dass nach einem Naziangriff Hippies auf Demos barfuß rumtanzen. Die sollen sich was Ordentliches anziehen. Das klingt doof, aber du musst Leute ansprechen und ernst genommen werden können. Das ist zwar ein bisschen anmaßend gerade, aber wie erreiche ich denn Leute? Ich muss so wirken, als könnte man mit mir reden. Und allgemein muss Protest so sein, wie es die Situation erfordert. Es gibt Proteste, die gewalttätig sein müssen, weil es anders nicht geht und du sonst weggeräumt wirst. Was willst du aktuell in Belarus machen, außer dich körperlich zu wehren? Gewalt sollte nicht Selbstzweck sein, aber du musst schauen, was notwendig ist. Manche Städte hatten nur ein paar Jahre Ruhe, weil sich alle zusammengetan und die Nazis weggekloppt haben. Da hat der Staat nicht geholfen. Und genau diese Leute, die als einzige wirklichen antifaschistischen Widerstand geleistet haben, werden als Linksextreme diffamiert und mit Nazis gleichgesetzt. Das ist absoluter Wahnsinn und eine krasse Frechheit.
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von David Henselder & Malte Körge)