In den letzten etwa fünf bis zehn Jahren überrumpelte das flächendeckende Aufkommen des Musikstreamings das gesamte Musikgeschäft und machte dabei auch vor der HipHop-Szene nicht halt. Ganz im Gegenteil: Gerade Akteure aus der HipHop-Welt nutzen die neue Spielfläche enorm und machen dabei immer wieder auf sich aufmerksam. Diese Aufmerksamkeit spiegelt sich wider in enormen Erfolgen, dem Brechen von Rekorden, aber auch in Skandalen, zum Beispiel rund um das Fälschen von Streamingzahlen. Doch inwieweit beeinflusst Streaming überhaupt konkret die deutschen Charts und was verändert das Ganze eigentlich an unserer Art, Musik zu machen und zu konsumieren?
Rap wird chartrelevant
Zu Beginn der 2000er Jahre schien die kleine, aber stets gewachsene HipHop-Blase zu platzen. Viele alte Helden konnten ihre Erfolge der 90er Jahre nicht wiederholen oder waren längst nicht mehr als Rapper beziehungsweise in der HipHop-Szene aktiv. So fanden sich in den Top 100 Single-Jahrescharts gerade einmal drei deutsche HipHop-Acts: Samy Deluxe, die Brothers Keepers und Fettes Brot. Auch wenn innerhalb der Szene einige neue Untergrundphänomene auftauchten und wuchsen, waren die Charterfolge der HipHop-Szene bis Ende der 2000er Jahre zumeist an einer Hand abzuzählen. Dies sollte sich zwischen 2010 und 2013 grundlegend ändern. In dieser Zeit wurden Künstler wie Marteria, Cro oder Casper zu Stars und eroberten mit mehreren Veröffentlichungen die Spitze der Charts.
Seitdem ist Deutschrap nicht mehr aus den Charts wegzudenken und hat seine Mainstreamrelevanz nicht nur halten, sondern sogar noch steigern können. Waren es 2012 schon sieben deutsche HipHop-Acts, wie zum Beispiel Marteria, Cro, Deichkind oder Max Herre, die sich teilweise mehrfach in den Top 100 Single-Jahrescharts wiederfanden, stammten 2019 bereits mindestens die Hälfte aller Songs der Top 100 Single-Jahrescharts aus dem Deutschrap-Kosmos. Apache 207, Capital Bra, Loredana oder Mero sind nur ein paar der Künstler, die teilweise mit drei oder mehr Songs in den Charts vertreten waren. In den Top 100 Album-Jahrescharts 2019 zeichnete sich ein ähnliches Bild, auch wenn die Deutschrap-Vertreter teilweise andere Namen tragen, wie zum Beispiel Dendemann, Trettmann oder Kool Savas. Der steigende Erfolg von HipHop-Musik ist in den letzten Jahren deutlich zu beobachten und es stellt sich die Frage, was genau eigentlich konkret Streaming damit zu tun hat.
Das Zeitalter des Streamings – Veränderungen auf sämtlichen Ebenen
Seit mehreren Jahrzehnten sind die Verkaufszahlen physischer Tonträger in Deutschland enorm rückläufig. Allein zwischen 2010 und 2019 sanken sie von 115 Millionen auf nur noch knapp 46 Millionen verkaufte Einheiten. Während sich der Downloadabsatz noch bis 2012 positiv entwickelte, sinkt dieser seit 2015 ebenfalls beachtlich. Diese Einbrüche der Verkaufszahlen sind das Ergebnis des zunehmenden Aufkommens von Streaming-Portalen wie Spotify, Deezer, Apple Music und Co.
Ein ähnliches Schicksal ist dem Radio bisher erspart geblieben, auch wenn die Nutzerzahlen in den letzten Jahren ebenfalls sanken. Allerdings scheint es, dass die deutsche Rap-Landschaft seit jeher mit diesem Medium auf Kriegsfuß steht. Sowohl im Formatradio als auch im Programmradio erhalten nur die wenigsten Künstler Airplay. Noch immer wird bei der Bewertung von Deutschrap häufig pauschalisiert, diese Musik sei per se frauenfeindlich, gewaltverherrlichend und homophob. Zudem werden Künstler mit Skandalen und problematischen Verhaltensweisen oft zu Negativbeispielen der gesamten Szene und somit auch für die deutsche Radiolandschaft. Diese möchte hingegen nicht den eventuellen Fehler machen, problematischen Künstlern eine Bühne zu bieten und es sich dadurch mit ihrer Hörerschaft zu verscherzen. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage berechtigt, ob deshalb ein gesamtes Genre ignoriert werden sollte. An dieser Stelle setzen die Streaming-Portale an und bieten die perfekte Möglichkeit für Hörer, ihre eigenen musikalischen Favoriten zu verfolgen. So lassen sich zum Beispiel einzelne Tracks in individuellen Playlisten speichern, wodurch man nicht mehr abhängig von Programmentscheidungen der hiesigen Radiostationen ist.
Deutscher Rapmusik hätte also kaum etwas besseres passieren können, als diese "neue" Form des Musikkonsums zu nutzen: das Streaming. Doch leider finden sich auch hier gewisse Parallelen zum Radio. Speziell auf Spotify gibt es mittlerweile enorm viel Werbung und kuratierte Playlisten, welche letzen Endes nur das digitale Gegenstück zum Formatradio bilden. "Modus Mio" spaltet quasi die Szene. Auf der einen Seite Künstler, die nahezu alles für eine Aufnahme in die Playlist tun würden, auf der anderen Seite jene, die "Modus Mio" explizit zum Feindbild erklären. "Denn Spotify befiehlt das, ich führe aus und salutiere. Ja, Sir, danke, Sir, Modus Mio, nein", rappt beispielsweise Juse Ju auf "Friede den Rappern".
Speziell finanziell betrachtet ist das Streaming-Geschäft gerade für "kleinere" Künstler nicht besonders lukrativ im Vergleich zu anderen Formen des Musikkonsums. Bei Spotify erhalten die Künstler aktuell etwa 2,85 Euro für 1 000 Streams und somit nicht mal einen Cent pro Stream. Auch wenn die Ausschüttungen bei anderen Streaming-Anbietern wie Napster, Apple Music oder Amazon Music höher ausfallen, sind sie trotzdem noch enorm gering. Im Vergleich dazu erhalten Musiker, wenn ein Song im Radio läuft, zwischen 1,50 Euro und 15 Euro. Auch die Umsätze im Downloadbereich oder durch den Verkauf physischer Tonträger fallen wesentlich höher aus, wobei hier natürlich beachtet werden muss, dass der Gewinn nicht annähernd dem Umsatz entspricht. Im Schnitt bezahlt man auf Downloadportalen etwa 1,50 Euro pro Song. Um zum Beispiel bei Spotify einen ähnlichen Umsatz zu erzielen, müsste ein Song demnach mindestens 525-mal von einer Person gestreamt werden. Für die "Klickmillionäre" der Szene ist das natürlich kein Problem. Der Track "Roller" von Apache 207 wurde bisher etwa 233 Millionen-mal auf Spotify gestreamt (Stand 5. Dezember 2020). Demnach hat Apache 207 allein mit diesem Song etwa 667 000 Euro über Spotify umgesetzt. Zum Vergleich: Um einen ähnlichen Betrag umzusetzen, müsste er etwa 44 500 CDs zu einem Preis von je 15 Euro verkaufen.
Wandel auch auf musikalischer Ebene
Es ist daher also nicht verwunderlich, wenn Künstler vermehrt darauf hinweisen, die jeweils neuen Singles auf Dauerschleife zu streamen und in sämtliche Playlisten zu packen. Auch die Songs selbst werden immer häufiger genau darauf ausgerichtet. Etliche Tracks sind mittlerweile kaum länger als zwei bis drei Minuten. Dabei starten sie zumeist direkt mit einer Hook, um den Hörer zu catchen. Lange war es üblich, dass ein Raptrack aus drei Parts mit jeweils 16 Zeilen beziehungsweise Bars bestand. Mittlerweile sind die Parts überwiegend nicht nur immer kürzer geworden, sondern der dritte Part scheint, zumindest im Mainstreambereich, fast gänzlich ausgestorben zu sein. Stattdessen erhalten wir am Ende eines Songs häufig eine Kombination aus Hook, Bridge und Hook. Diese Entwicklung muss nicht zwingend negativ bewertet werden, aber sie ist definitiv spannend zu beobachten und zu verfolgen. Noch in den 1990er Jahren mussten HipHop-Tracks extra für Single- beziehungsweise Radioversionen gekürzt werden, um überhaupt Airplay zu erhalten. Ein deutliches Beispiel liefert hierzu der Posse Cut "Nordisch by Nature" von Fettes Brot, der im Original über neun Minuten lang ist. Knapp zwei Drittel des Songs mussten damals für die Radioversion weichen.
An jenem Beispiel lässt sich auch eine weitere Veränderung im Zeitalter des Streamings erkennen. "Nordisch by Nature" war eine von insgesamt drei Singles des Albums "Auf einem Auge blöd", die jedoch allesamt erst nach Erscheinen des Albums ausgekoppelt wurden. Im August 2020 erschien das Album "KitschKrieg" des gleichnamigen Produzententeams. Vor Erscheinen des Albums hatte man bereits fünf Tracks daraus releast, zwei davon sogar schon im Jahr 2018 beziehungsweise 2019. Auch die Feature-Kultur hat sich in den letzten Jahren innerhalb der HipHop-Szene enorm gewandelt. In den 1990er Jahren waren Features eher organischer Natur. Das bedeutete, dass sich bereits befreundete Künstler gegenseitig unterstützten und auch überwiegend zusammen in denselben Studios an Songs arbeiteten. Heute gibt es eine Reihe von Künstlern, die fast offensichtlich möglichst erfolgsversprechende Features planen. Das Spektrum der Features reicht dann von erfolgreichen deutschen Popstimmen über zumeist eingekaufte internationale Rap-Parts bis hin zu den aktuell erfolgreichsten Deutschrappern. Nicht selten schlägt sich das dann auch in der Qualität der abgelieferten Parts nieder, die manchmal inhaltlich nicht zum Rest der jeweiligen Tracks passen. So tummeln sich zum Beispiel auf dem letzten Album "CB7" von Capital Bra unter anderem Sido, Loredana, Santos, Nimo, Summer Cem, Samra, Clueso, KC Rebell, Cro und SDP.
Verfälscht Streaming die Charts?
Capital Bra ist auch der Künstler, der 2019 in Deutschland eine erneute Debatte rund um das Thema Streaming entfachte. Mit der Coverversion des Tracks "Cherry Lady" von Modern Talking sicherte er sich zum damals zwölften Mal die Nummer eins der deutschen Singlecharts, stürzte damit die Beatles vom Thron und brach ihren über 50 Jahre alten Rekord. Seit 2016 berücksichtigt die GfK Entertainment auch die Musikstreaming-Dienste bei der Ermittlung der offiziellen deutschen Charts. Die GfK Entertainment ist ein deutsches Marktforschungsunternehmen, das weltweit Marktforschung im Bereich Entertainment betreibt. Derzeit übermitteln die Anbieter Apple Music, Deezer, YouTube Music, Napster, Quobuz, Spotify und TIDAL ihre Streaming-Daten an die GfK Entertainment.
Mittlerweile hat Capital Bra sogar über zwanzigmal die Nummer eins der deutschen Singlecharts erlangt und befindet sich dabei noch am Anfang einer möglicherweise lang anhaltenden Karriere. Die Musik- und Medienlandschaft in Deutschland war und ist jedenfalls seither in Aufruhr. Viele Diskussionen drehen sich unter anderem um die Frage, ob und wie die Erfolge von den Beatles und Capital Bra überhaupt zu vergleichen sind. Obwohl diese Debatte natürlich vollkommen legitim ist, mündete sie in einigen Fällen jedoch in plumpen Verunglimpfungen des Erfolgs von Capital Bra, wie zum Beispiel dem Argument, dass er nichts mit Musik und echter Kunst zu tun habe.
Genau hier liegt auch die berühmte Nadel im Heuhaufen: Denn am Ende müssen die Hörer eben selbst entscheiden, welche Musik sie konsumieren wollen. Die bereits erwähnte Frage nach der Vergleichbarkeit der Erfolge bleibt weiterhin gerechtfertigt. Nur sollte dabei beachtet werden, dass die Erfolge der Beatles, speziell aus den 60er Jahren, bereits nicht mit den Erfolgen von Künstlern der 80er, 90er und 2000er zu vergleichen sind, da sich die Art des überwiegenden Musikkonsums eben permanent wandelt und dementsprechend auch die Erfolgsmöglichkeiten in den deutschen Charts beeinflusst. So ermöglichte das Aufkommen der CD im Jahr 1982 den Künstlern bessere Absatzmöglichkeiten für ihre Musik, da sie eben kostengünstiger produziert werden konnte als eine Schallplatte und demzufolge auch günstiger verkauft wurde, wodurch sich wiederum insgesamt der Absatz physischer Tonträger erhöhte. In diesem Bereich des Musikgeschäfts ist Capital Bra zum Beispiel längst nicht führend und liegt derzeit sogar hinter den Beatles und einigen anderen deutschsprachigen HipHop-Acts wie Bonez MC, The Cratez und RAF Camora. Auffällig ist, dass sich in diesem Bereich bisher kein deutscher HipHop-Act bis in die Top Zwanzig vorkämpfen konnte. Diese enorme Diskrepanz zwischen Streaming-Erfolgen und dem Verkauf physischer Tonträger ergibt sich auch daraus, dass HipHop nach wie vor eine Musikrichtung ist, die überwiegend von einem jüngeren Publikum konsumiert wird. Diesem fehlt es zumeist an finanziellen Möglichkeiten, ihre Lieblingskünstler durch den Kauf physischer Tonträger zu unterstützen. So werden alternativ eben die neuesten Songs gerne mal auf Dauerschleife gestreamt.
Was ist schon "Erfolg"?
Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass das Streaming-Geschäft auch noch auf anderen Ebenen für Veränderungen sorgt. Seit jeher ist die Goldene Schallplatte ein Statussymbol im Rap, mit dem sich Künstler gerne brüsten. Auch Fans sehen in den Auszeichnungen zumeist ein Qualitätsmerkmal und ein Symbol für Relevanz und Erfolg. "Für alle, die denken, Relevanz lässt sich nur durch Erfolg bestimmen, hängen an den Wohnzimmerwänden unserer Villen die Goldenen!", rappt Kool Savas auf "Masafaka" von Sido. Die Idee, Wohnzimmerwände mit goldenen Schallplatten zu verschönern, war noch in den 90er Jahren eine fast unmögliche Vorstellung für nahezu alle Mitglieder der deutschen HipHop-Szene. Selbst etliche sogenannte "All-Time-Classics" haben es bis heute nicht geschafft, genügend Einheiten zu verkaufen, um mit Gold oder gar Platin ausgezeichnet zu werden. Dabei sollte beachtet werden, dass Alben bis 1999 250 000-mal verkauft werden mussten, um mit Gold ausgezeichnet zu werden. Seit 2003 werden Alben bereits nach "nur" 200 000 verkauften Einheiten schon mit Platin ausgezeichnet. Für diese Auszeichnung waren bis 1999 hingegen über 500 000 verkaufte Einheiten notwendig. Seit 2016 werden auch die sogenannten "Premium-Streamings", also Streams die von einem bezahlten "Premium"-Abonnement getätigt werden, erfasst und gehen in die Wertung für die Anzahl verkaufter Einheiten mit ein. Dabei wird konkret ein durchschnittlicher Streaming-Wert errechnet, der sich aus den zwölf meistgehörten Tracks eines Albums ergibt. Dieser Streaming-Wert wird dann mit einem Faktor von 2 000:1 als "verkaufte Einheit" berücksichtigt. Hat ein Künstler also zum Beispiel durchschnittlich 100 000 "Premium-Streamings" für die Songs seines Albums, entspricht das dem Verkauf von etwa 50 Einheiten.
In letzter Zeit wurde dieses Hinzuziehen der Streaming-Zahlen zur Ermittlung der Verkaufszahlen und Charts allerdings wieder etwas kritischer betrachtet, da es vermehrt zu Fällen kam, in denen sich Künstler Streams kauften, um höher zu charten. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Anbietern, die Klicks in unterschiedlichsten Größenordnungen verkaufen. Spotistreams.de bietet aktuell zum Beispiel 50 000 Streams für 120 Euro an und wirbt damit, schneller in Spotify-Playlisten zu landen und relevanter für den Spotify-Algorithmus zu werden. Zu beachten ist hierbei, dass das Ganze natürlich illegal ist. Gleichzeitig können Streams und Klicks von jeder beliebigen Person gekauft werden, unabhängig davon, ob Künstler, Labelbetreiber oder Fan. Bisher finden speziell die großen Streamingdienste keine ausreichende Lösung, um gegen das Kaufen von Klicks gezielt vorzugehen.
Dieses Problem ist allerdings kein Phänomen, das erst mit dem Aufkommen von Musikstreaming entstand. Manipulationen im Bereich der Charts finden schon seit Jahrzehnten statt und wurden früher oder später auch Teil jedes Musikmediums, sei es CD, Radio oder Download. Nun muss sich allerdings eine Kultur, die auf Werte wie Kredibilität, Realness und Authentizität setzt, die Frage gefallen lassen, warum es gerade in diesem Bereich zu der hohen Anzahl an Manipulationen und Tricks kommt, "nur" um höher zu charten. Mittlerweile scheint das Kaufen von Klicks von einigen Künstlern gar komplett akzeptiert zu sein. So warb beispielsweise Shindy im Juli auf Instagram damit, dass er für Laas Unltd. einige Klicks gekauft hätte.
Fernab dieser mehr als fragwürdigen Methoden bietet das Streaming-Geschäft jedoch gerade kleineren Künstlern enorm gute Möglichkeiten für das Releasen von Musik. Die Antilopen Gang veröffentlichte im August 2020 mit "Adrenochrom" ihr zweites Album im gleichen Jahr und verzichtete dabei sowohl auf eine Promophase als auch auf physische Tonträger. Diese Form des Releases wäre noch vor zwanzig Jahren unmöglich gewesen. Auch international bieten die Streaming-Plattformen einen enormen Vorteil für Neuerscheinungen. Sie können nun nämlich weltweit zeitgleich erscheinen, zumindest digital. Bis Anfang der 2000er war es hingegen üblich, dass einige internationale Alben teilweise erst Monate nach dem offiziellen Release in Deutschland zur Verfügung standen. Diese Probleme beim Vertrieb von physischen Tonträgern fallen über den digitalen Vertriebsweg natürlich weg.
Trotzdem hat auch das Streaming seine Nachteile für die Hörerschaft, wenn zum Beispiel gewisse Alben nicht oder nur auf einzelnen Plattformen verfügbar sind. Mehrere Jahre war fast die gesamte Diskographie von Jay-Z nicht auf Spotify und Co. vertreten, da dieser die Hörer dazu animieren wollte, seine Musik bei seinem eigenen Streamingdienst TIDAL zu hören. Gut drei Viertel der Diskographie von De La Soul sind ebenfalls auf keiner Streaming-Plattform zu finden. Darunter fallen ihre bekanntesten Alben, wie zum Beispiel "3 Feet High And Rising", "De La Soul Is Dead" und "Stakes Is High". Der Grund ist hier allerdings ein anderer als bei Jay-Z. Die Band befand sich in den letzten Jahren immer wieder in Gesprächen mit ihrem Ex-Label Tommy Boy Records bezüglich der Rechte ihrer Alben zwischen 1989 und 2001. Da hier bis heute keine Einigung erzielt werden konnte, durch die die Band an den Einnahmen der Musik beteiligt werden würde, fehlen die Alben weiterhin auf sämtlichen Plattformen. Aufgrund der enorm langen Gespräche zwischen den Parteien, die ohne Erfolg blieben, rief De La Soul 2019 sogar zu einem generellen Boykott des Labels auf. Sollten die Alben also irgendwann auf etwaigen Plattformen erscheinen, würde die Band nicht an den Einnahmen beteiligt werden.
Ähnliche Situationen sind auch in der deutschen HipHop-Szene zu beobachten."Stream rules everything around me. Die wahren Schätze findest du meistens nur unter Staubschicht", rappt MC Rene auf "X-Kalibur" und meint damit vermutlich auch sein eigenes Werk. Er selbst veröffentlichte nach seiner Zeit bei MZEE Records zwei Alben Anfang der 2000er Jahre, "Ein Album namens Bernd" und "Scheiss auf euren Hip Hop". Die Rechte dieser Werke liegen bis heute bei den Labels Ariola und Improversum. MC Rene selbst könnte sich zwar um eine Aufnahme in seinen Streaming-Katalog bemühen, was allerdings nur mit Arbeit und Promotion für ihn verbunden wäre, an der er selbst nichts verdienen würde. Dies sind nur einige wenige Beispiele für ein Phänomen, das sich immer wieder beobachten lässt. Speziell in den Anfangsjahren der Karrieren vieler Künstler kommt es oft zu "unglücklichen" Vertragssituationen mit Labels. Insofern bleibt es also weiterhin sinnvoll, zumindest die eigenen Lieblingskünstler auch fernab von Streaming durch den Kauf von physischen Tonträgern oder Downloads zu unterstützen. Denn wer weiß schon sicher, welche Musik auf welchen Streaming-Plattformen dauerhaft verfügbar sein wird, beziehungsweise welche Streaming-Anbieter generell dauerhaft bestehen werden?
Was bringt die Zukunft?
Natürlich sind aktuelle Streaming-Rekorde und damit verbundene Charterfolge ein Symbol für die eigenen Leistungen. Doch sind jene Symbole noch längst kein Garant für die Existenzsicherung der einzelnen Kulturschaffenden und der sich aus ihnen ergebenden gesamten HipHop-Kultur, speziell in Zeiten einer weltweiten Pandemie. "Die Charts sind ein Blendwerk!", rappt Juse Ju auf "Justus BWL". Gerade in den letzten Monaten wurde deutlich, dass sich besonders kleinere Acts definitiv nicht über das Streaming-Geschäft allein finanzieren können. Gleichzeitig bietet Streaming Fans aus nahezu allen sozialen Milieus die Möglichkeit, an der Musik teilhaben zu können, ohne entweder auf eine Menge verzichten zu müssen oder Musik auf illegalen Wegen zu konsumieren.
Die Hörerschaft sollte sich aber immer die Frage stellen, welche Relevanz sie Charts und Preisen zuspricht. Selbstverständlich hat die Arbeit der GfK Entertainment einen hohen Wert, gerade wenn es zum Beispiel darum geht, mögliche Trends und Entwicklungen darzustellen und zu erkennen. Nur bleibt Musik am Ende immer noch eine Frage des Geschmacks, bei der die Frage, ob es in Ordnung sei, dass Capital Bra einen Rekord der Beatles einstellte, womöglich zu viel Raum einnimmt. Lässt sich faktisch oder objektiv überhaupt bestimmen, wer die "bessere" Musik geschaffen hat? Das muss eher jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Natürlich hat das Streaming Capital Bra in dieser Hinsicht einen Vorteil gegenüber den Beatles verschafft, nur werden diesen Vorteil eben alle Künstler fortan nutzen können, wenn es nicht schon in naher Zukunft bereits eine neue Form des Musikkonsums oder Änderungen für die Ermittlung der Charts geben wird. Letztlich könnten also in einhundert Jahren sowohl die Beatles als auch Capital Bra eine enorme Relevanz haben oder aber auch nur noch einen eher unrelevanten Teil der Musikgeschichte darstellen. So etwas lässt sich nicht sicher vorherbestimmen, auch nicht durch irgendwelche Charterfolge.
(Alec Weber)
(Grafik von Daniel Fersch)