Es ist kalt, es ist grau, es gibt immer noch Corona. Die ideale Zeit also, um Tag für Tag bei unserem Adventskalender mitzufiebern. Wieder werfen wir einen Blick zurück auf die letzten 24 Jahre: Welche Meilensteine gab es? Welche Momente sorgten dafür, dass deutscher Rap einflussreicher wurde denn je? Weil uns Alben zu einfach sind (und wir sie schon hatten, siehe hier), haben wir uns dieses Jahr drangemacht und den jeweils einen Track gesucht, der die Szene über sein Erscheinungsjahr hinaus entscheidend geprägt hat. Jeden Tag stellen wir Euch somit – angefangen 1997 – einen Song vor, der entweder durch seinen Sound, seinen Inhalt oder seine Form unserem Lieblingsgenre seinen Stempel aufgedrückt hat.
2009: Tua – MDMA
Und ich hab' all die guten Gefühle gerade im Bauch.
Ich frag' mich nur: 'Süße, magst du mich auch?'
"Ich verstehe gar nicht, wo all dieser Dogmatismus herkommt, bei einer Kunstform, die doch aus Samplen, neu zusammenfügen und Querverweisen besteht", sagte Tua schon 2009 im Interview. Sein Album "Grau" war gerade erschienen und sollte zum Paradebeispiel für deutschen Rap werden, der sich weder musikalische noch inhaltliche Grenzen setzt. Einer der herausstechenden Songs des in sich so stimmigen Klassikers ist "MDMA".
Die offensichtliche Doppeldeutigkeit des Titels, der sowohl den Hauptwirkstoff von Ecstasy als auch den Satz "Magst du mich auch?" abkürzt, legt den Grundstein für einen Song, der den Hörer auf einen hektischen und wechselhaften Gefühlstrip einlädt. Der 7/8-Takt des Instrumentals und die an Heavy Metal erinnernden Gitarrenparts wirken im Kontrast zu Tuas melodischem Flow und Gesangspassagen zunächst fast verwirrend. Spätestens nach mehreren Durchgängen macht dies den Track aber zu dem außergewöhnlichen Werk, das er ist. Genau wie die unkonventionelle Instrumentierung ist Tuas offene und verletzliche Herangehensweise an beide Thematiken, die der Song behandelt, außergewöhnlich für deutschen Rap im Jahr 2009. Sowohl "MDMA" als auch "Grau" sind als Meilensteine anzusehen, wenngleich Tua diese Anerkennung zum Release verwehrt blieb. Gleichzeitig waren sie ein Vorgeschmack auf das, was der Künstler mit den folgenden Releases bis hin zum selbstbetitelten Album zehn Jahre später folgen lassen sollte. Wenn über Innovation und Kreativität in Rapdeutschland gesprochen wird, führt kein Weg am Namen Tua vorbei.
Zu "MDMA" kann man ebenso nachdenklich im Sofa versinken und sich die Decke über den Kopf ziehen wie enthusiastisch durch seine Wohnung tanzen. In jedem Fall verlangt der Song die ganze Aufmerksamkeit des Hörers, um sein volles Potenzial zu entfalten. Und das ist eine Blaupause, die Tua deutschem Rap mindestens seit dem Release von "Grau" vorgelegt hat – die wohl bis heute kaum jemand so gut umzusetzen vermag wie der Reutlinger.
(Alexander Hollenhorst)
(Grafik von Daniel Fersch)