Vorurteile sind im Leben eines jeden Menschen ein allgegenwärtiges Thema. Sie begleiten einen oft unbewusst und beeinflussen dabei die Art, wie man andere Menschen und Situationen wahrnimmt. Häufig versucht man deshalb, mit einer unvoreingenommenen Intention in neue Situationen hineinzugehen und stellt am Ende dennoch fest, dass dies nicht ganz funktioniert hat. Niemand kann sich komplett von Vorurteilen freisprechen, aber es ist möglich zu lernen, sie zu erkennen und zu reflektieren. Djinjo beschäftigen sich in ihrer Musik häufiger mit Vorurteilen und dem bei ihnen entstandenen Prozess der Reflexion. Auch sie können sich nicht komplett von anerzogenen und gesellschaftlich etablierten Stigmata loslösen, aber wissen, wie wichtig es ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und auf durch ein Vorurteil entstandene Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Wir baten Djinjo zum Interview und sprachen über die Privilegien des Weiß-Seins, Vorurteile gegenüber Frauen im deutschen Rap und darüber, wie man Voreingenommenheit am besten entgegenwirken kann.
MZEE.com: Fangen wir mal allgemein mit dem Begriff "Vorurteile" an. Dieser ist eigentlich immer negativ behaftet. Denkt ihr, dass Vorurteile auch eine sinnvolle Seite haben?
JoJo: Vielleicht bei Krankheiten. Krankheitsbilder sind im Endeffekt nichts anderes als gesammelte Symptome und Annahmen. In dem Fall kann das, glaube ich, helfen. Es wird eben einfacher, wenn man Dinge kategorisiert und so kommt man manchmal schneller voran.
Djin: Schwierig. Es kann hilfreich sein, aber auch komplett in die falsche Richtung lenken. Vielleicht sollte man bei so etwas immer im Hinterkopf behalten, dass man sich nicht auf ein Vorurteil verlassen kann.
MZEE.com: Im Internet wird zurzeit häufig von einer Übersensibilisierung gesprochen, wenn geschulte Menschen auf die gravierenden Folgen von Vorurteilen aufmerksam machen und dazu auffordern, sie zum Schutze marginalisierter Gruppen abzubauen. Findet ihr, dass die Gesellschaft zu sensibel wird?
JoJo: Das ist genau mein Gefühl. Wir drehen gerade jede Münze viermal um, bis wir wirklich alles aus den verschiedenen Themen rausgekriegt haben. Trotzdem glaube ich, dass die Entscheidung wichtig ist, gewisse Themen sensibel zu behandeln. Aktuell ist es so, dass jeder – egal, welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder aus welchem gesellschaftlichen oder politischen Interesse – deshalb irgendwie die Möglichkeit hat, sich zu äußern und gehört zu werden. In den sozialen Medien kommt natürlich alles zusammen. Da einen Konsens zu finden, ist einfach superschwer. Aber es ist wichtig, sich anzunähern, aufzuklären und neu zu sortieren. Da braucht es diese Sensibilisierung und Genauigkeit auch.
Djin: In puncto Reflexion finde ich es gut, wenn man sensibel ist und sich detailliert Gedanken macht, um nicht zu grob zu kategorisieren. Aber das sollte nicht darin münden, dass man überempfindlich ist und sofort emotional wird. Das fällt mir auf. Viele Leute gehen schnell an die Decke und fühlen sich angegriffen. Verständlich, wenn man über gewisse Dinge tausendmal reden muss. Aber man muss vielleicht auch sehen, dass sich nicht jeder mit allen Dingen gleich beschäftigt und den Leuten den Raum lassen, Sachen zu lernen. Das ist meine Wahrnehmung.
MZEE.com: Ist die Kategorisierung in "übersensibel" nicht im Grunde wieder nur ein Schubladendenken?
Djin: Ich sehe es nicht so, dass es übersensibel ist. Mir geht es nur um die Art, wie man mit Leuten spricht – nicht darum, dass man sich detaillierter mit Themen befasst. Das finde ich nicht zu sensibel, sondern absolut legitim. Und wenn Menschen, die sich mit etwas tiefer auseinandersetzen, andere darauf hinweisen, finde ich das okay.
MZEE.com: Wie haben Vorurteile euren Werdegang beeinflusst?
JoJo: Als Frau spornt mich das schon an, wenn jemand aufgrund meines Geschlechts denkt, dass ich etwas nicht kann. Das war bei mir gar nicht nonstop Thema. Ich wurde in allem Möglichen gefordert und konnte vieles ganz gut. Wenn du dann älter wirst, dich unter Kreative begibst und dein Freundeskreis sich mehr ausweitet, kommst du mit Leuten zusammen, die Stärken haben, die du nicht hast. Es kam und kommt schon vor und das sind einschneidende Erlebnisse. Ich denke dann: "Jetzt erst recht."
Djin: Durch meine Vergangenheit im Battlerap wird mir auf jeden Fall eine gewisse Rolle zugewiesen. Softere Songs sind dann sofort die "schwule Scheiße".
MZEE.com: Waren Vorurteile in eurer Kindheit auch ein Thema?
JoJo: Klar. Ich bin auf dem Dorf groß geworden, als Mädel hattest du nicht viel mit HipHop zu tun. Ich hab' das aber sehr gefühlt und bin deshalb in die Richtung gegangen. Das ist jetzt 15 Jahre her. Im Nachhinein ist man gestandener. Ich würde gar nicht mehr sagen, dass man sich als Frau mehr anstrengen muss. Ich will da nicht zu sehr verallgemeinern. Es gibt solche und solche Frauen. Ich kann nur sagen, dass ich mir ein paar andere Skills anschaffen musste und immer noch muss. Und manchmal ein anderes Mindset. Ich bin nicht auf einen Wettkampf aus oder muss Lücken suchen, in denen ich reden kann. Das war ganz lange kein Thema. Damit beschäftigt man sich jetzt erst. Dahingehend würde ich sagen, dass mich die Vorurteile, die man gegenüber Frauen hatte, ein bisschen beeinflusst haben. Aber mich hat genauso immer das Vorurteil von Frauen sich selbst gegenüber ein wenig geärgert, dass wir "wenig potent" seien. Wir können selbst entscheiden, wie wir damit umgehen.
Djin: Ja, "umgehen" ist ein gutes Stichwort. Ich habe versucht, zu lernen, Dinge auszuhalten. Wenn Leute gewisse Vorurteile gegen einen haben, trifft einen das bestimmt ab und zu. Ich ordne ein, wo ich stehe und wie mich Vorurteile tangieren. Ich kann das entweder annehmen und versuchen, mich in einem Bereich tatsächlich weiterzuentwickeln, oder es eben abweisen. So lerne ich, das auszuhalten, und kann diese Meinung von mir wegschieben.
MZEE.com: Die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal Folgendes gesagt: "Ein Urteil läßt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil." – Was denkt ihr darüber?
JoJo: Das ist halt der Mist, oder? Vorurteile entstehen ja ganz oft in der Kindheit oder dadurch, dass du in Gruppen irgendwelche Attribute gelernt hast oder übernimmst. Spätestens wenn man erwachsen ist, hat man die Chance, das zu hinterfragen und anders damit umzugehen. Man kann das Ganze reflektieren und seinen state of mind ändern. Wenn einem das nicht gelingt, ist es vielleicht an der Zeit, daran zu arbeiten.
MZEE.com: Was kann man eurer Meinung nach tun, um Vorurteile abzulegen?
Djin: Reflektieren und es sich einprügeln. Wenn man Vorurteile hat, ertappt man sich ja gerne dabei, wie sie immer wieder auftauchen. Dann rede ich eben so oft auf mich ein, bis ich das aus meinem Kopf kriege. Das ist im Endeffekt Konditionierung.
JoJo: Es ist gerade dann schwierig, wenn sich Vorurteile immer wieder leicht bestätigen. Irgendwo sind die Attribute, die du der Person zugeschrieben hast, oft auch da. Wenn man das nicht richtig widerlegen kann, muss man eine Ebene tiefer gehen und sich fragen, warum die Person so ist. Man nimmt sich selbst die Last, sich nur auf dieses Problem zu konzentrieren und schaut, wie man mit dieser Person umgehen kann. Da kann man Wege finden.
MZEE.com: Reden wir über eure Musik. Der Song "Polizei" handelt davon, dass ihr aufgrund eures Aussehens und eurer Hautfarbe nicht von der Polizei angehalten werdet. Gab es einen Moment, in dem euch eure Privilegien so richtig bewusst geworden sind?
Djin: Es gab genau den Moment, in dem wir in einem Hauseingang saßen und die Polizei vorbeifuhr. Es gab keinen Grund, uns zu kontrollieren. Wir fallen einfach nicht in ein Raster. Deshalb haben wir diese Vorteile. Man muss uns schon mit dem Joint in der Hand erwischen, damit man zu uns geht. Aber wenn man im Hemd rumläuft und die blonden Haare sichtbar sind, dann passiert eher sehr selten etwas.
JoJo: Damit hat man damals auch gespielt, das gebe ich zu. Ich hatte lange blonde Haare und war ein Mädchen – mich hat kaum einer jemals auf Gras oder irgendetwas anderes kontrolliert. Und das, obwohl ich wirklich eine Zeit lang hätte hopsgenommen werden können.
MZEE.com: Wie geht ihr mit diesen Privilegien um?
JoJo: Früher war ich wesentlich unreflektierter und habe das unbewusst einfach ausgenutzt. Ich hatte auch eine Phase, in der ich überkorrekt war und alles auf die Goldwaage gelegt habe. Ich habe mich ganz oft ins schlechte Licht gerückt. Zum Beispiel, indem ich damals im Jugendzentrum den Kopf hingehalten habe, wenn mal wieder Scheiße gebaut wurde. Daran war ich zwar nicht immer aktiv beteiligt, aber dabei war ich ja trotzdem und ich war mir auch darüber bewusst, was in dem Moment abging. Dann habe ich selbst die Gegenperspektive gebracht, weil ich wollte, dass man sie hört. Das ist ziemlich dumm. (lacht) Das ergibt auch nicht so viel Sinn. Man hat mir Fehlverhalten gar nicht zugetraut. Ich habe es dann in mich reingefressen und gedacht: "Scheiße, ich bin wirklich eine Person, die superprivilegiert ist." Ich hatte damals kaum Probleme. Man sollte darauf achten, niemandem auf die Füße zu treten und gute Dinge zu machen. Mein Freundeskreis war schon immer divers und somit hat man sich früh damit auseinandergesetzt. Dann merkst du schnell, dass es um andere Dinge geht als um Oberflächlichkeiten. Man kann dankbar für seine Privilegien sein, aber ich habe sie mir nicht selbst erarbeitet. Ich versuche, damit möglichst reflektiert umzugehen.
Djin: Dankbarsein ist gut. Man hat nichts dafür getan. Wir haben "Polizei" ja im Endeffekt auch genutzt, um das zu reflektieren. Ich ärgere mich im Nachhinein fast ein bisschen, dass wir im Song nicht konkreter geworden sind. Ich hätte diese Position gerne deutlicher bezogen und mich mit denen solidarisiert, die dieses Privileg nicht haben. Um der Polizei anzukreiden: "Ey, bitte keine Raster. Wir sitzen genauso da und kiffen. Ihr könnt uns auch mal rausziehen."
MZEE.com: Auf eurem Song "Wasdenn" heißt es: "Machen Dinge, die ihr schwul nennt, so als wär' das nicht normal." – Was bedeutet "schwul" in diesem Zusammenhang für euch?
Djin: Das sind im Prinzip Kommentare, die wir bei 16BARS gekriegt haben. Einer war: "Djin: Früher fett, heute schwul." Sowas kommt immer wieder, weil die Mucke nicht "hart" und "männlich" sei. Was auch immer "männlich" bedeutet. Dementsprechend meine ich genau das, was einem gesagt wird. Man wird kategorisiert, weil man nicht in das Raster der Leute passt, wie sie sich einen Rapper vorstellen. Da gibt es dann irgendwelche Bilder im Kopf. Wenn du damit nicht übereinstimmst, wirst du eben mit diesem Wort betitelt, als wäre es eine Beleidigung.
MZEE.com: Frauen werden in der Rapszene oft diskriminiert und mit Klischees behaftet. JoJo, welche Erfahrungen hast du diesbezüglich bisher gemacht?
JoJo: Zuerst muss ich sagen, dass ich mich selbst nicht als Rapperin wahrnehme. Diese Kommentare prallen deshalb an mir ab. Meine Erfahrungen, öffentlich kommentiert zu werden, sind ja auch noch relativ begrenzt. Ich kenne das eher, ausgespart zu werden. In der Zeit mit den Jungs, relativ früh im VBT, gab es ein paar Sachen, auf die ich im Nachhinein nicht mehr stolz bin. Da stand ich oft im Mittelpunkt, weil ich das einzige Mädchen war. Wenn ich etwas gesagt habe, kam oft die Aussage: "Du hast keine Ahnung." Ganz ehrlich, hatte ich auch nicht immer. Das kommt noch dazu. Aber diese ganzen unreflektierten Sachen sind mir so egal. (lacht) Wenn jemand etwas zum Flow und Stil sagen will, gerne. Das höre ich mir an. Aber wenn einer feststellt, dass ich blond und ein "geiles Fickschnitzel" bin – ist mir doch egal.
MZEE.com: Im deutschen Rap findet man diverse Songs, die mit Vorurteilen spielerisch umgehen. Denkt ihr, solche Songs helfen im Umgang mit Vorurteilen oder ziehen sie das Thema eher ins Lächerliche?
Djin: Es kommt am Ende wahrscheinlich darauf an, ob der Konsument den Humor checkt. Ich glaube, wenn man darüber lachen kann, ist es schon hilfreich, das Ganze aufzulockern und runterzubrechen. Das macht es einfacher und man kommt auf eine schöne Gesprächsebene.
JoJo: Es kommt auch darauf an, inwieweit die Künstler vorher belegt haben, wie sie drauf sind. "Vorurteile Pt. II" von Fatoni, der Antilopen Gang und Juse Ju holt mich ab, weil die Aussagen als Kunst stattfinden und die Künstler in anderen Songs Gegenteiliges sagen.
Djin: Es kommt auf den Kontext an und darauf, wer es hört. Es wird nicht jeder etwas damit anfangen können. Und es wird Leute geben, die den Zynismus nicht verstehen oder in den falschen Hals kriegen. Dann bringt die Message am Ende nichts. Da gibt es, glaube ich, kein Schwarz oder Weiß.
MZEE.com: Djin, du rappst schon seit vielen Jahren. Welche Entwicklung hast du in Bezug auf Stigmata seit deinen Anfängen in der Szene beobachten können?
Djin: Ich habe das Gefühl, dass es Leute gibt, die versuchen, ihre Vorurteile in den Griff zu kriegen. Es gibt aber auch die Fraktion, die auf dem Stand von vor zehn Jahren ist. Da haben sich zwei Fronten gebildet. Insgesamt würde ich sagen, dass es eine positive und reflektierte Entwicklung im Gegensatz zu vor zehn Jahren gibt. Aber das ist schwierig zu beurteilen, weil ich mir damals selbst nicht so viele Gedanken gemacht und das nicht so aufmerksam beobachtet habe wie heute. Vielleicht gab es immer schon Leute, die in Ordnung waren, nur war das Thema noch nicht auf dem Tisch. Höchstwahrscheinlich war das so.
MZEE.com: Einige Menschen besitzen viele Vorurteile gegenüber HipHop. Was müsste sich im deutschen Rap ändern, um die Voreingenommenheit der Gesellschaft gegenüber der Szene abzubauen?
Djin: Ich glaub' nicht, dass sich HipHop ändern müsste, sondern die Leute. HipHop ist so divers. Bei dieser riesigen Popkultur, wie willst du da eigentlich ein Vorurteil haben? Es gibt ja echt alles.
JoJo: Auf Deutschland bezogen gab es schon richtig viele Talks: Wie wollen wir HipHop darstellen und wie reagieren wir, wenn Leute von außen reinkommen? Alle sind dann immer so drauf: "Ich muss HipHop beschützen, wenn ihn jemand angreift." Ihr müsst keine Leute, die Sexismus propagieren, schützen. Da fängt es an, schwierig zu werden. Wie geht man denn mit den Färbungen in der Szene um? Die sollen gucken, dass sie sich reflektieren. Vielleicht müssen manche offenlegen, was sie in der Vergangenheit für Scheiße gemacht haben. Trotzdem ist HipHop ein Kulturkomplex, der nicht nur die Bildungsschicht einschließt, sondern auf den Straßen anfängt und auch genau diese Zielgruppe anspricht. Somit ist es, finde ich, manchmal okay, wenn Rap ein bisschen langsamer ist. Es treffen einfach mehrere Kulturen aufeinander und das ist auch das Gute. Aber es sollte schon eine Veränderung passieren. Den Leuten, die in der Szene moralisch weitergekommen sind, sollte zugehört werden.
(Gwendolyn Sperling & Sicko)
(Fotos von Lukas Richter)