Es gibt viele Dinge, die unsere Identität beeinflussen – zum Beispiel, wo und wie wir aufgewachsen sind, welche Erfahrungen wir gesammelt haben und wie wir mit diesen umgehen. Bei Künstlern ist das nicht anders. Sie müssen sich als Personen der Öffentlichkeit außerdem genau überlegen, was und wie viel sie von sich preisgeben möchten. Manche lassen alle Hüllen fallen, andere verstecken sich hinter ihrer musikalischen Identität und spielen damit. DISSY hat dies auf eine ganz besondere Art gemacht und für die Beats, die er produziert, ein Alter Ego erfunden: Fynn. Das hat er so gut gemacht, dass die HipHop-Medien zunächst dachten, Fynn und DISSY wären zwei unterschiedliche Personen. Doch was steckt hinter den beiden Identitäten? Und was hat den Künstler DISSY letztendlich beeinflusst? Wir baten den Rapper zum Interview und klärten, wie sein Producer-Alter Ego Fynn entstanden ist und was ihn und seine musikalische Identität geprägt hat.
MZEE.com: Zu Beginn möchte ich dich etwas zu deinen Identitäten Fynn und DISSY fragen. Würdest du einmal erklären, wer die beiden jeweils sind?
DISSY: Fynn ist quasi mein Produzent. Durch die düsteren Beats hat er ein bisschen Gangsterrap-Einfluss auf DISSY. Das bewegt DISSY etwas dazu, ein Arsch zu sein. DISSY ist eigentlich voll der kindliche und naive Typ. (lacht) Das spiegelt meine unterschiedlichen Seiten wider. Ich bin eigentlich ein lieber Typ, hab' aber immer düstere Beats gebaut. Ich habe früher Gangsterrap gehört und mit Leuten abgehangen, mit denen ich solche Musik gemacht und nur Scheiße gebaut hab'. Das steht auch für den Rap-Einfluss, den ich als jemand, der von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde, hatte. Ich hab' diese Reibung gebraucht.
MZEE.com: Wie kamen diese Identitäten zustande?
DISSY: Ich wollte ein Alter Ego für die Beats haben. In einem JUICE-Artikel kam es so rüber, als wäre Fynn eine andere Person. Die haben gar nicht gemerkt, dass ich das bin. Dann kam mir der Gedanke, dass ich das weiter ausbauen, Fynn als Figur verkaufen und eine Geschichte darüber erzählen könnte. So fühlt man sich ja auch manchmal – man hat oft eine Seite an sich, die man nicht mag.
MZEE.com: In welchen Momenten bist du Fynn und in welchen DISSY?
DISSY: Wenn ich im Rapkosmos unterwegs bin, wahrscheinlich eher Fynn. Wenn ich unter Freunden bin, bin ich DISSY. Ich bin viel positiver geworden. Früher war ich ziemlich negativ und anti drauf, was viele Sachen anging. Da habe ich mich einfach geändert. Ich würde auch sagen, dass dieses Fynn-Ding langsam verarbeitet und durch ist.
MZEE.com: Welchen Einfluss haben die Charaktere auf deine Musik?
DISSY: Wenn ich Beats baue, sind die immer sehr düster – das ist der Einfluss, den Fynn hat. Ich bringe oft romantische Elemente rein, das ist dann eher der DISSY-Anteil. Das Sperrige ist der Fynn-Part und dieses Poppige, Schöne kommt von DISSY. Viele Tracks vermischen das miteinander, trotzdem gibt es auch Songs, die entweder nur düster oder schön sind. Das ist die Kombination aus beidem.
MZEE.com: Auf "psychoblick dissy." sampelst du folgenden Part deines Songs "Fynn": "Ich wollt' ein Lied singen, das schön ist, aber Fynn lässt mich nicht." – Was meinst du mit dieser Zeile?
DISSY: Na ja, ich wollte eigentlich einen schönen Song machen, aber dadurch, dass Fynn den Beat so düster gemacht hat, war er es, der mich nicht gelassen hat. Den Beat hat vorrangig Torn Palk gemacht, er ist aber trotzdem sehr düster geworden. Ich würd' eigentlich gerne schöne Musik machen, aber Fynn sorgt immer dafür, dass die Beats anders klingen.
MZEE.com: Kommen wir mal zu dir persönlich. Du bist oft umgezogen und musstest häufiger die Schule wechseln. Wie hat sich das auf deine Identität ausgewirkt?
DISSY: Das hat im jungen Alter auf jeden Fall für Einsamkeit gesorgt. Wenn man sich ständig in einer neuen Umgebung befindet und mit neuen Leuten klarkommen muss, ist das nicht immer leicht. Als wir nach Erfurt gezogen sind, hab' ich angefangen zu rappen. Darüber habe ich superviele Freunde kennengelernt, die auf demselben Trichter waren. Das hat viel dazu beigetragen, dass ich mich mehr angeschlossen gefühlt habe. Ich saß auch oft alleine zu Hause rum und hab' Beats gebaut, während andere Videospiele gespielt haben oder sowas. Ich hab' diese Einsamkeit ein bisschen genossen.
MZEE.com: Wie hat das deine musikalische Identität beeinflusst?
DISSY: Gute Frage. Ich glaube, dadurch ist alles etwas nerdiger geworden. Ich habe immer viel rumgebastelt. In meiner Musik stecken viele verschiedene Einflüsse, zum Beispiel die Techno-Kultur, die ich in Berlin als Kind aufgesogen hab'. Ich habe viel Raver-Musik mitbekommen und gehört. (lacht) Gleichzeitig hat meine Mutter ganz viel mit klassischer Musik zu tun gehabt, das hat mich auch beeinflusst. Genau wie dieser asoziale Tankstellen-Rap, den ich mit meinen Leuten in Erfurt gemacht habe. Wir haben natürlich alle Berliner Rap gepumpt. All diese Einflüsse sind Teil meiner musikalischen Identität.
MZEE.com: Die Gesellschaft macht einen großen Teil unserer Identitätsfindung aus. Inwiefern hat sie dich beeinflusst?
DISSY: In Berlin besteht logischerweise ein ganz anderes Mindset als in Erfurt. In Erfurt habe ich viel Rassismus mitbekommen und mehr Zeit mit Leuten verbracht, die links sind. Mit denen habe ich zusammengewohnt und deren Ideologien haben mich schon geprägt. Dazu gehörte auch der Wunsch, Sachen zu machen, die nicht konform sind. Ich habe Musik gehört, die nicht Mainstream war. Aber ich habe immer versucht, meine politischen Ansichten nicht zu krass in die Musik einfließen zu lassen. Ich habe keine Lust, den Zeigefinger nach oben zu halten und den Menschen zu erklären, wie die Welt funktioniert. Meine Stärke sehe ich eher darin, Geschichten zu erzählen, die in eine emotionale und psychologische Richtung gehen. Das interessiert mich. Ich hab' früher auch kleine Dokumentarfilme für die Uni gemacht, da habe ich mich mehr mit Rassismus beschäftigt. In Berlin hat man eher diese Bubble an Leuten, die genauso denken wie man selbst, sich krass mit solchen Themen auseinandersetzen und viel darüber diskutieren. Dadurch entsteht ein größeres Bewusstsein dafür. Das gibt es im Osten auf jeden Fall nicht so sehr – das merke ich immer wieder. Mit den Leuten, mit denen ich früher Mucke gemacht habe, führe ich andere Gespräche.
MZEE.com: Viele Menschen präsentieren sich auf Social Media anders, als sie wirklich sind. Unterscheidet sich deine digitale von deiner wahren Identität?
DISSY: Mir fällt es echt schwer, mich die ganze Zeit zu filmen und meinen Alltag zu zeigen. Ich filme zwar ab und zu mal was, aber eher dann, wenn etwas Cooles oder Interessantes passiert. Ich würde schon sagen, dass ich auf Instagram sehr ausgewählte Bilder poste, die mich ganz klar als Figur zeigen. Ich will das aber nicht zu wischiwaschi machen. Das erzählt einfach eine Story, die zu mir passt, aber eben nur ein Teil von mir ist.
MZEE.com: Was könnte der Grund dafür sein, dass sich Menschen im Netz verstellen?
DISSY: Es kommt auf die Leute an. Für mich persönlich ist es cool, nicht so viel nach außen zu tragen. Ich finde es aber auch geil, wenn die einen Fick geben, alles von sich zeigen und einfach fresh sind. Für mich ist es cool, nicht so viel nach außen zu tragen. Mein Instagram ist eine Künstlerseite für meine Musik. Das ist ein Projekt, das einfach meine Musik verkörpern und Bock darauf machen soll. Ich mag es, wenn etwas visuell rund ist. Deswegen archiviere ich oft Bilder und gucke, wie cool sie zusammenhängen.
MZEE.com: Es ist eben ein Teil der eigenen Außenwirkung. Auf Social Media kann man sich aussuchen, wie man sich präsentiert – im echten Leben ist das nicht so leicht.
DISSY: Voll. Manche Fotos bringen eine geile Stimmung rüber, obwohl das gar nicht die Absicht war. Ich poste schon viel, archiviere das nach einer Weile aber und lasse dann nur noch die coolsten Fotos übrig. Viele düstere Bilder auf meinem Account kamen mir zu negativ rüber, ich bin eigentlich nicht mehr so. Die vermitteln einen falschen Eindruck. Ich dachte immer, dass "DISSY" eine Welt für sich ist, aus der ich erzählen möchte. Ich komme jetzt aber immer mehr dazu, meine positive und optimistische Seite zu zeigen, die eigentlich viel stärker ist. Ich merke, dass mich dieses Düstere, was ich verkörpere und erzähle, runterzieht. (lacht) Wenn man die ganze Zeit solche Musik macht, kommt man auch auf negative Gedanken. Darauf habe ich keinen Bock mehr. Die nächste EP wird zwar noch extrem düster, aber alles danach wird positiver.
MZEE.com: Es ist ja auch psychologisch bestätigt, dass das Mindset Einfluss auf die eigene Gefühlslage nimmt.
DISSY: Ja, das ist wie bei Schauspielern. Wenn du die ganze Zeit einen Depressiven spielst, wirst du oft selbst depressiv.
MZEE.com: Du hast gerade gesagt, dass du auf Social Media durchaus dich selbst verkörperst, aber nicht zu viel von dir zeigen möchtest. Wie bringst du das ins Gleichgewicht?
DISSY: Es geht mir darum, nicht mehr nur dieses Negative zu zeigen, weil ich so nicht mehr bin. Ich kann kreativen Kram machen und einen Film drehen, ohne dass es die ganze Zeit in einem düsteren Szenario stattfindet. Man kann das auch schön und bunt machen. Das passt mehr zu mir, ohne zu viel preiszugeben.
MZEE.com: Glaubst du, dass jeder Mensch mehrere Identitäten besitzt?
DISSY: Wenn man krass bei sich ist und sich gut reflektieren kann, vielleicht nicht unbedingt. Aber andere Persönlichkeiten sind oft Dinge, die dich unterbewusst steuern und die du nicht unter Kontrolle hast. Das kennt jeder. Man merkt, dass man wütend ist und macht irgendwas, bei dem man sich hinterher fragt, warum man das getan hat. Es gibt viele Leute, die sich mit diesem Fynn-Ding krass identifizieren können und eine blöde Seite an sich haben, mit der sie umgehen müssen. Die haben vielleicht viel Scheiße gebaut in ihrem Leben, möglicherweise sogar krasser als ich. Es gibt auch Menschen, die sich diese Fynn-Figur tätowiert haben. Jeder hat negative Gedanken und Wut in sich, jeder hat Scheiße gebaut, viele fügen anderen aus Eifersucht oder Neid Schaden zu. Alleine, dass man die ganze Zeit so tut, als wäre man der liebste Mensch und dann über andere ablästert. Das ist auch eine Seite, die nicht schön ist, aber viele haben sie. Ich glaube schon, dass es da verschiedene Persönlichkeiten gibt. Drogen spielen da natürlich auch eine ganz große Rolle. Da kenne ich viele Leute, die zwei Gesichter haben.
MZEE.com: Was ist es für ein Gefühl, wenn man sieht, dass sich jemand diese Figur tätowiert hat?
DISSY: Ich freu' mich krass und es interessiert mich voll, was das für Menschen sind. Einer hat sich die Fynn-Figur zum Beispiel auf den Rücken tätowiert. Ich hab' den auf einem Konzert getroffen und mich mit ihm unterhalten. Das ist halt ein junger Dude, der viel Scheiße in seinem Leben erlebt und ähnliche Ambitionen wie ich hat. Der interessiert sich für die Musik. Manche Leute machen sich nicht so einen Kopf darüber, was sie sich tätowieren. Die tätowieren sich irgendeinen Kram. Vielen ist das egal. Ich freue mich einfach nur, das zu sehen und finde es interessant, die Leute zu treffen. Mir zeigt das, dass meine Musik die Menschen krass berührt hat.
MZEE.com: Der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila hat mal gesagt: "Die Strafe dessen, der sich sucht, ist, dass er sich findet." – Wie stehst du dazu?
DISSY: Ich glaube, es geht darum, zu merken, dass man nicht so besonders ist, wie man dachte. Man ist einfach ein ganz normaler Typ und das ist für manche wirklich schwer zu ertragen. Es geht auch darum, dass die Persönlichkeit aus dem Leid entsteht, welches man erfahren hat. Man dreht sich das so, dass man sagen kann: "Ich hab' das jetzt alles ertragen, deshalb bin ich so, wie ich bin und ich bin etwas Besonderes." Für manche ist die Erkenntnis, dass man eigentlich ganz normal und wie jeder andere ist, hart. Aber wenn man das erst mal verinnerlicht hat, geht es einem viel besser, glaube ich. Man hat sich an die Fassade gewöhnt, die man sich aufgebaut hat. Aber eigentlich hast du dir das selbst ausgesucht. Du könntest auch total anders sein. Das ist, glaube ich, schwer zu erkennen.
MZEE.com: Zum Abschluss möchte ich noch von dir wissen, was dich in deiner Identitätsfindung am meisten beeinflusst hat.
DISSY: Ich glaube, dass wir oft umgezogen sind, ich von einer alleinerziehenden Mutter erzogen wurde und privilegiert in der Mittelschicht groß geworden bin. Wenn ich in meiner Kindheit und Jugend gehungert hätte oder geflohen wäre, würde ich über ganz andere Themen reden. Von daher bin ich total privilegiert, einfach nur über mein Innenleben berichten zu können. Und darüber, wie mich die Gesellschaft und Rap beeinflusst haben.
(Sicko)
(Fotos von Fritz Elsmann und Sandro Jödicke)