Haltung. Es mag an der Sichtweise liegen, an der politischen Einstellung. Es mag an Charaktereigenschaften und Wertevorstellungen liegen, die Identifikation ermöglichen. Woran auch immer es liegt: Disarstar ist bestimmt bei vielen der erste deutsche Rapper, der einem zum Thema "Haltung" einfällt.
Wir sind zum vierten Interview seit 2017 verabredet – jedes Jahr gibt es ein Gespräch mit dem Hamburger Rapper und jedes Mal ist er noch etwas offener, noch etwas persönlicher, noch etwas nahbarer. Trotzdem kennen wir uns eigentlich nicht, sind keine Freunde und haben nie etwas miteinander zu tun. Bis auf jedes Jahr an einem einzigen Abend im Frühling. Und deshalb sind wir in der Lage, distanziert und trotzdem persönlich miteinander zu sprechen. Heute über Mut. Warum? Weil es Mut beweist, sich in der Öffentlichkeit so politisch zu äußern. Sich nicht verbiegen zu lassen, um mehr Karriere, mehr Geld zu machen. Sich beim G20-Gipfel in der "Welcome to Hell"-Demonstration weit vorne im Block aufgehalten zu haben. Anzuecken. Auszuprobieren. Ehrlich zu sein.
Haltung – das, was dein Denken und Handeln prägt. Deine Werte, deine Einstellungen, deine Moral. Ich bin mir sicher, dass auch darüber stundenlang mit Disarstar hätte gesprochen werden können. Gleichzeitig aber auch, dass dieses Thema schon unterschwellig in all unseren Interviews stattfand. Und er seine Haltung, seine innerste Einstellung immer wieder manifestiert und einleuchtend dargestellt hat. Doch was folgt aus meiner Haltung? Was, wenn ich sie ändern will? Was, wenn ich weiß, was ich tun müsste, weil es ihr entspricht, ich mich aber nicht traue? Was, wenn ich mehr Erfolg haben könnte – und dieser aber meiner Integrität entgegenstehen würde? Was, wenn die Gesellschaft von mir Erwartungen hat, die ich nicht erfüllen kann – oder will? Was, wenn ich Neues lerne, was, wenn meine Überzeugungen auf einmal nicht mehr so klar für mich sind?
Und so haben wir mit Disarstar in diesem Frühling über die Konsequenz aus all diesen Fragen gesprochen: ein Gespräch über Mut.
MZEE.com: Zu Beginn des Interviews würden wir gerne von dir wissen, wie du Mut definierst.
Disarstar: Da fangt ihr ja gut an. (grinst) Man könnte meinen, ich hätte mir in den letzten Tagen schon Gedanken darüber gemacht … Ich denke, viele Menschen sind gleichermaßen ängstlich und mutig – es hat aber für jeden eine andere Bedeutung. Was dich vielleicht Mut kostet, kostet mich überhaupt keinen. Es hat immer etwas damit zu tun, sich was zu trauen und ist mit einem unangenehmen Gefühl verbunden. Wenn es kein bisschen unangenehm ist, passt das Wort "Mut" nicht. Aber es geht oft nur um ganz kleine Zeiträume, die die Spreu vom Weizen trennen … Grundsätzlich glaube ich nicht, dass Mut immer da ist oder es per se mutige Menschen gibt. Es gibt Situationen, in denen ist man mutig oder nicht. Aber das verändert sich. Mut hat viel mit Energie zu tun, was nicht heißt, dass du sofort übermütig oder risikobereit bist. Der Moment, in dem Mut zum Tragen kommt, ist immer anstrengend und es gehört dazu, mit dieser Anstrengung umzugehen.
MZEE.com: Wie schon erwähnt, hat jeder vor anderen Dingen Angst und muss in anderen Momenten Mut aufbringen. Was ist für dich das größte Ausmaß an Mut, das man haben kann?
Disarstar: (seufzt) Alter, die Frage ist ja noch schwieriger … Ich glaube, es gibt Menschen, die haben derbe Platzangst und es kostet sie mehr Mut, ins Fußballstadion zu gehen, als es mich kostet, Bungee zu springen. Und ich denke, da das Ganze so relativ ist, ist es schwer zu definieren. Es ist einfach ganz individuell. Bei meinen ersten Konzerten zum Beispiel hatte ich so übertriebenes Lampenfieber, dass ich nur irgendwann genügend CDs verkaufen wollte, um keine Konzerte mehr spielen zu müssen. Das Lampenfieber war dabei richtig wesensverändernd. So, dass ich mir vorher überlegt habe, mich zu verletzen. Beim splash! habe ich neben der Bühne darüber nachgedacht, mir eine Gabel ins Bein zu rammen, damit ich den Auftritt nicht machen muss. Aber ich habe es trotzdem immer gemacht. Im Vergleich zu so etwas wie Zivilcourage ist das aber natürlich etwas ganz Banales.
MZEE.com: Von außen betrachtet vielleicht. Aber wenn man so eine extreme Angst vor etwas hat und es trotzdem tut, zeigt das starke Disziplin und Willenskraft.
Disarstar: Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich mich wirklich viel geprügelt und zum Teil böse auf die Schnauze gekriegt hab'. Ich habe mich mit Typen gehauen, die zwei Klassen über mir waren. Aber vielleicht ist das dann auch gar nicht mehr Mut. Für mich war die Vorstellung, zu kneifen und am Ende zu Hause zu sitzen und etwas nicht gemacht zu haben, immer schlimmer. Egal, ob bei Konzerten oder Prügeleien. Ein bisschen wäre das vermutlich heute noch so. Also könnte man das Ganze auch umdrehen und sagen, dass es fast mutiger wäre, wenn ich mir in so mancher Situation diese Angst eingestanden und das Konzert einfach mal nicht gespielt hätte.
MZEE.com: Verändert sich denn so eine Angst, indem sie beispielsweise durch Routine weniger wird? Oder ist die Panik immer die gleiche, man weiß aber einfach, wie es ausgeht?
Disarstar: Mittlerweile gibt es nichts Größeres für mich – ich bin ein krasser Live-Künstler geworden. Bei der Tour, die jetzt leider nicht stattfinden kann, hätte ich große Hallen gefüllt und das ist mir inzwischen wichtiger als alles andere. Das hat mir mal wieder gezeigt, dass ich mit einem konfrontativen und mutigen Umgang mit meinen Ängsten immer positive Erfahrungen mache. Ich habe zum Glück noch nie die Erfahrung gemacht, mutig zu sein und dafür nicht belohnt zu werden. Aber ich weiß, dass es das auch gibt. Bei mir hat es sich glücklicherweise immer ausgezahlt.
MZEE.com: Apropos großes Ausmaß an Mut: Wie viel Mut braucht es für echte Liebe – egal, ob in Freundschaft, Familie oder Partnerschaft?
Disarstar: Das ist eine gute Frage. (überlegt) Ich glaube, übertrieben viel. Wie viel, merken die meisten Leute im schlimmsten Fall ihr Leben lang nicht. Vor Kurzem war ich bei einem Kollegen, der schon lange mit seiner Freundin zusammen ist. Wir haben über irgendwas Persönliches gesprochen, das aber nicht wirklich krass war. Und ich habe gemerkt, dass es ihm unangenehm war, weil seine Freundin im Nebenzimmer saß und er nicht wollte, dass sie das mitbekommt. Ich war total schockiert, weil es mir gezeigt hat, dass es Themen gibt, über die man nach so vielen Jahren immer noch nicht spricht … obwohl man den Mut aufbringt, so lange mit jemandem zusammen zu sein. Aber für mich ist Liebe auch echte Hingabe, man riskiert ja derbe viel. Das ist wahrscheinlich auch der wesentliche Unterschied zwischen Liebe und Verliebtsein: Wenn man verliebt ist, gibt man ein sehr zensiertes Bild von sich ab. Man überlegt ewig, was man zu den Dates anzieht, geht zum Friseur und versucht, das beste Bild von sich abzugeben. Aber zu lieben heißt ja, genau das nicht zu tun – sondern so zu sein, wie man ist und das Gegenüber auch so zu akzeptieren, wie es ist. Ich finde es zwar pervers, wenn es in Beziehungen gar keine Geheimnisse gibt. Aber ganz grundsätzlich heißt Liebe für mich schon, sein tiefstes Inneres mit jemandem zu teilen. Einige Leute sind viele Jahre verheiratet, ohne den Mut aufzubringen, diese Art der Liebe je zu erfahren. Ich glaube, um so richtig zu lieben, braucht man wirklich viel Mut. Weil man in seinen tiefsten Überzeugungen und seinem tiefsten Sein riskiert, enttäuscht zu werden und einen Dämpfer für das zu bekommen, was man ist.
MZEE.com: Glaubst du, dass du jemand bist, der so viel Mut aufbringen kann?
Disarstar: Jein. Das ist aber auch schwer über sich selbst zu sagen. Ich kann das mit dem schlau Daherquatschen ja ganz gut. (grinst) Aber das heißt leider nicht, dass man seinen Scheiß auf die Kette kriegt. Wenn ich eine Fragerunde in meiner Insta-Story starte, fragen die Leute oft, wie ich irgendwas geschafft habe oder mache. Die Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung. Das geht mir bei Mut und Liebe nicht anders. Aber es ist ein Ziel und ich glaube, dass da gesamtgesellschaftliche Paradigmen mitreinspielen, die das schwer machen. Ich bin kein Fan von klassischen Beziehungsmodellen im Sinne von: Ich heirate und wir bleiben dann verflucht noch mal auf Biegen und Brechen 50 Jahre zusammen. Wenn das das Konzept von Liebe ist, ist es nicht zwingend meine Definition.
MZEE.com: Wir leben in einer Zeit, in der man sich eigentlich alles aussuchen kann: Mit wem man zusammen ist und auch wie man leben will. Aber die wenigsten Menschen suchen sich ein Beziehungskonzept aus, das zu ihnen passt. Warum können wir da nicht kreativer sein?
Disarstar: Da habe ich mir direkt einen schlauen Spruch aus dem Buch "Der Prophet" von Khalil Gibran gegriffen. Und zwar "Von der Ehe". (schlägt das Buch auf und liest vor) "Aber lasst Raum zwischen euch. Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen. Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur Fessel: Lasst sie eher ein wogendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen sein. Füllt einander den Becher, aber trinkt nicht aus einem Becher. Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht vom selben Laib. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber lasst jeden von euch allein sein, so wie die Saiten einer Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern. Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Obhut. Denn nur die Hand des Lebens kann eure Herzen umfassen. Und steht zusammen, doch nicht zu nah: Denn die Säulen des Tempels stehen für sich und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der anderen." – Ich finde ehrlich gesagt, dass Menschen ihre frei stehende Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen oft für eine Beziehung wegschmeißen. Es ist nicht meine Definition von Liebe, die Hälfte von mir meinem Gegenüber zu geben, im Return die Hälfte von ihm zu bekommen und nie wieder ohne diese Person vollständig zu sein. Aber so laufen viele Beziehungskonzepte. Die meisten Menschen sind krass besitzergreifend und haben ein großes Ego. Wenn man mal versucht, Treue rational zu betrachten, merkt man, dass sie das nicht ist. Ganz ehrlich: Dass man sich fremdgeht, ist die älteste Geschichte der Menschheit. Und die Menschheit ist aber in den letzten 3 000 Jahren gesamtgesellschaftlich nicht dahintergekommen, dass es vielleicht nicht das optimale Konzept ist, ein Leben lang nur mit einer Person zusammen zu sein.
MZEE.com: Wenn man nicht glaubt, dass man für immer mit einer Person zusammen sein wird: Braucht man dann mehr Mut, um Beziehungen einzugehen?
Disarstar: (überlegt) Ich glaube nicht, dass man mehr Mut braucht, um sich wieder auf jemanden einzulassen, wenn eine Beziehung in die Brüche geht. Man kann ja eine wunderschöne Zeit gehabt und sich gegenseitig das Leben auf dem Weg bereichert haben, den man gemeinsam gegangen ist. Das ist doch eine schöne Erfahrung.
MZEE.com: Wir haben dir noch ein Zitat einer Psychologin mitgebracht: "Nur derjenige kann Verbundenheit erfahren, der Verletzlichkeit zeigt." – Kannst du dem zustimmen?
Disarstar: Ja, auf jeden Fall. Man muss sich mal die Beziehungskonzepte unserer Eltern anschauen, die noch extremer waren als die, die wir heute haben. Vieles von der Generation unserer Eltern meinen wir, assimilieren zu müssen. Einige in unserem Alter kommen aus Familien konservativer starker Männer, die Häuser gebaut und Schusswaffen besessen haben. Und ich glaube nicht, dass sie je innige Beziehungen zu ihren Frauen auf einer emotionalen Ebene hatten. Weil kein Raum dafür war, dass man abends daliegt und heulen muss oder sich schwach und schlecht fühlt. Wenn man diese Komponente immer ausspart, kann man sich gar nicht wirklich nah werden. Das gehört dazu.
MZEE.com: Auch im politischen Kontext spielt die Thematik "Mut" eine große Rolle. Es gibt wenige Politiker, die Unkonventionelles umsetzen und gegen die Masse angehen wollen. Glaubst du, dass es deutscher Politik an Mut fehlt?
Disarstar: Es ist ja so, dass in dieser Form der Politik auch Dinge wie Parteizwang bestehen. Das heißt: Wenn du eine politische Karriere hinlegen möchtest und bei den Jusos anfängst, irgendwann in die SPD eintrittst und mit 25 beginnst, die ganze Zeit anders zu stimmen als deine Parteigenossen, kommst du am Ende in eine Situation, in der du niemals die Chance haben wirst, aufzusteigen oder politische Macht zu erlangen. Weil du dich nicht in einem Konsens bewegst. Ich glaube, es wird zu wenig besprochen, wie extrem das am Ende ist und ich glaube auch nicht, dass das so viel mit Mut zu tun hat. Ehrlich gesagt vereinbaren sich Idealismus und Parlamentarismus oder bürgerliche Politik meines Erachtens sowieso nur sehr schwer.
MZEE.com: Hast du in der deutschen Politik schon etwas erlebt oder gesehen, bei dem du dir im Positiven dachtest, dass jemand Mut bewiesen hat?
Disarstar: Ich habe mich ja mit Gregor Gysi getroffen. Und auch, wenn ich aus der radikalen Linken meines Erachtens völlig unbegründet Kritik dafür bekommen habe, weil er ein bürgerlicher Politiker ist und sein ganzes politisches Schaffen ein einziger Kompromiss ist, sehe ich das anders. Ich finde, dass Gysi mit seinem Charisma und Potenzial trotzdem immer in der Opposition sein Ding gemacht hat. Ob man das gut fand oder nicht, sei dahingestellt. Er ist schon ein Typ, der in seiner politischen Karriere Mut bewiesen hat. Aber eine konkrete Handlung fällt mir auf die Schnelle nicht ein.
MZEE.com: Vor ein paar Wochen ist eine politische Aktivistin in der Türkei gestorben, weil sie fast ein Jahr lang im Hungerstreik war. Findest du, dass es Mut beweist, wenn Menschen solche Wege aufgrund von politischen Überzeugungen gehen?
Disarstar: Ja, ich finde, das ist Mut mit einer anderen Konsequenz. Das hat sowieso eine andere Tragweite, aber dieses Umkehren – wie bei einem Konzert, bei dem man mehr Mut beweist, wenn man es nicht spielt – gibt es ja an dieser Stelle nicht, weil sie tot ist. Es ist auf jeden Fall ein endgültiger Mut. Man kann bestimmt politisch diskutieren, wie schlau das ist und wie viel Sinn es macht, aber für seine persönliche Überzeugung so weit zu gehen, ist für mich das Endlevel an Mut.
MZEE.com: Was empfindest du als mutiger: das radikale Vertreten seiner Meinung trotz Gegenwind oder das Ändern seiner Meinung in einer Diskussion?
Disarstar: Das hängt sehr von der Diskussion ab. Es gibt Kontexte, in denen es Mut beweist, bei seinen Überzeugungen zu bleiben. Aber es gibt auch das genaue Gegenteil. Ich bin ein Typ, der oft ignorant und ziemlich stur ist, aber ich merke auch, dass es manchmal guttut, nachzugeben. Obwohl es dazu Mut braucht, ist es oft eine positive Erfahrung, wenn man anderen Menschen recht gibt. Die Frage ist für mich nicht definitiv zu beantworten.
MZEE.com: Kannst du dich denn an eine Situation erinnern, in der du deine Meinung aufgrund einer Diskussion geändert hast?
Disarstar: Gregor Gysi hat bei unserem Gespräch ein sehr schlagendes Argument vorgebracht. Dass er natürlich nicht mit dem Anspruch im Bundestag sitzt, den Kapitalismus zu überwinden, sondern eher in einer reformatorischen Position ist. Aber aus dieser heraus ist er für viele gute Dinge verantwortlich, zum Beispiel, dass Kinder flächendeckend in Schulkantinen im Nachmittagsunterricht Essen bekommen. Dahingehend habe ich meine Meinung schon ein bisschen geändert und den Sinn dahinter gesehen. Wer bin ich denn als Lesekreis-Linker, der dir sagt, dass das nicht das Maß aller Dinge ist, wenn du etwas Realpolitisches mit so einer Tragweite durchgesetzt hast?
MZEE.com: Kommen wir mal zu deutschem Rap. Vega sagt auf seinem Track "Nie aufgeben": "Ich stell' Prinzipien über Vorteile." – Ist das bei dir ähnlich?
Disarstar: Auf jeden Fall. Objektiv und neutral betrachtet – wenn man von Aussehen, Stimme und Rapskills ausgeht – hätte ich mehr Erfolg, wenn ich mich weniger aneckend äußern und das mit der Politik mal sein lassen würde. Zu hundert Prozent. Aber ich habe immer die Entscheidung dagegen getroffen. Auch wenn ich oft Kompromisse eingehe, weil ich mit dem, was ich mache, richtig erfolgreich werden will, mache ich das nicht um jeden Preis. Das habe ich die letzten Jahre auch bewiesen. Meine Musik hat sich natürlich verändert, aber die letzten zwei Alben hätten auch belanglos und voller Lovesongs werden können. Ich könnte Politik auch mal komplett weglassen. Beziehungsweise: Hätte ich sie in der Vergangenheit weggelassen, wäre mein Erfolg heute ein anderer. Ich stelle also auf jeden Fall auch Prinzipien über Vorteile.
MZEE.com: Was ist der Grund dafür, dass du Politik immer in deine Musik miteingebracht hast?
Disarstar: Ich bin einfach marxistisch gebrainwasht. Meine Ideologie ist Teil meiner Persönlichkeit. Für mich ist das ein bisschen wie: Blaue oder rote Kapsel? Ich komme aus der Nummer nicht mehr raus und kann die Welt nicht mehr anders sehen. Es ist da drinnen und natürlich beweglich. Aber wenn man so politisch ist, wie ich es bin, kann man sich nicht nur auf ein paar Konsensmeinungen einigen und in einer Talkshow sitzend sagen: "Rassismus ist voll scheiße." – Ja, nice, dass du es sagst, Diggi. Aber kostet dich jetzt nicht wirklich viel. Die Leute denken dann, dass sie krass Profil zeigen mit dem, was sie sagen. Ich bin einfach durch und durch politisch. Alles, was ich sehe und wahrnehme, durchläuft diese Filter. Es würde mir mittlerweile schwerfallen, das rauszuschneiden. Früher war das einfacher und ich wünschte, ich könnte da manchmal zurück. Ihr kennt vielleicht meinen Song "Bewegung". Eigentlich ein schöner Song und auch gut gelungen, nicht in eine neoliberale Erfolgsgeschichte abzudriften. Aber dieses Kollegah'sche Versprechen: "Ihr könnt alles schaffen und alle glücklich werden." Das sind die Geschichten, die die Leute lieben und hören wollen. Ich kann diese Story aber nicht mehr erzählen, weil ich weiß, dass sie totaler Quatsch ist.
MZEE.com: Glaubst du nicht, dass das Politische inzwischen auch förderlich für deine Karriere ist, da deine Hörer wissen, wie sie dich einzuordnen haben und dich dafür schätzen?
Disarstar: Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Ich bin der erfolgreichste konkret politische Rapper, den es überhaupt jemals in Deutschland gegeben hat. Korrigiert mich, wenn ich falschliege. Ich nehme Afrob mit der CDU-Wahlkampfkampagne da mal raus. In einem gewissen Maß ist das sicherlich mein Profil. Das Absurde ist ja, dass der Kapitalismus so funktioniert, dass er meinen Protest und mein Unbehagen mit diesem System ausgleicht und es verkauft. In einem gewissen Maße kann man den Widerstand verkaufen. Nicht nur, wenn H&M Che Guevara auf T-Shirts druckt. Irgendwann kann man diesen Punkt aber nicht mehr überschreiten. Also ja: Es ist auf jeden Fall auch karriereförderlich. Aber es ist für mehr dann doch zu speziell, weil nun mal auch nicht so viele Leute mit meiner politischen Haltung da draußen rumlaufen.
MZEE.com: Kommen wir noch mal zurück zu den Prinzipien: Gab es eine Situation deiner Karriere, in der du deine Prinzipien aus den Augen verloren hast und das heute bereust?
Disarstar: Wisst ihr, es ist ein ewiger Kompromiss. Ich bin ein facettenreicher Typ und habe das Gefühl, dass meine Karriere eine einzige Korrektur ist. Meistens fühle ich mich mit meinem letzten Projekt missverstanden und versuche dann, mit dem nächsten wieder dagegenzusteuern. Es ist ein laufender Prozess und Kompromiss. Aber das bin ich eingegangen, als ich mich dazu entschieden habe, beruflich Musik zu machen. Natürlich hat man immer wieder Momente, in denen einem das politische Ding auf die Füße fällt, weil es zum Teil so anstrengend ist. Und da sind wir auch wieder bei Mut: Immer und immer wieder kontrovers zu sein, sich Kritik auszusetzen, zu verteidigen und all das diskutieren zu müssen. Das sind Situationen, in denen mich der Mut manchmal verlässt und ich keinen Bock mehr habe, auch nur ein weiteres politisches Wort öffentlich zu äußern. Ich bin momentan auch wieder am Überlegen, ein komplett unpolitisches Projekt zu machen, weil es so anstrengend ist …
MZEE.com: Mut ist oft in unschönen Situationen wie Auseinandersetzungen gefragt. Fällt es dir dabei leichter, für dein eigenes Wohl oder für das Wohl anderer einzustehen?
Disarstar: Für jemand anderen einzustehen, ist leichter für mich. Ich kann gar nicht genau sagen, warum. Auf jeden Fall bin ich durch meinen besten Freund, der mich inzwischen schon den Großteil meines Lebens begleitet, in Situationen gekommen, in die ich mich für mich nicht begeben hätte …
MZEE.com: Apropos "unschöne Situationen": Gibt es denn eine beste falsche Entscheidung in deinem Leben?
Disarstar: Ja, da kann ich leider wirklich sagen, dass es mit Mucke so ist. Die Kosten-Nutzen-Rechnung bei Musik geht nicht immer auf – was das mit einem emotional macht und abverlangt. Das fängt schon damit an, dass ich oft ein unsicherer Typ bin und mir einen Job ausgesucht habe, bei dem ich mich permanenter Kritik aussetze. Das ist halt übertrieben anstrengend, aber ich liebe es auch und kann mir nichts anderes vorstellen. Ich bin dankbar, wie die Dinge in den letzten Jahren verlaufen sind. Freiberufler zu sein, hat immer viel mit Mut zu tun … Du könntest dich auch in ein Großraumbüro setzen. Das kostet vielleicht weniger Mut, aber andererseits vielleicht auch mehr Mut, weil du eine scheiß Perspektive hast. Kann man so und so sehen. Ich habe voll Schiss vor einem Bürojob und dass das ganze Living your Dream-Ding nur so lange cool ist, wie es auch funktioniert. Und wenn es nicht mehr funktioniert, ist man der Angeschmierte. Und dann denke ich mir: Hätte ich doch mal lieber den Bürojob gemacht … (überlegt) Ist man glücklicher, wenn man es versucht und verkackt? Oder wenn man es nicht versucht und das, was man macht, irgendwie läuft? Das ist so eine ätzende Zwickmühle. Mit dem Gedanken quäle ich mich krass in den letzten Tagen.
MZEE.com: Aber du wirst doch immer erfolgreicher. Gibt dir das nicht auch Sicherheit?
Disarstar: Nein, ich habe derbe einen an der Waffel. Vielleicht ist das einfach eine traurige Erkenntnis, die ich mit 26 Jahren habe. Ich habe meine Issues aus der Vergangenheit, auch wenn das blöd klingt. Ich habe lange gehofft, dass sie irgendwann weg sind und man diese Probleme beheben kann. Vielleicht merkt man einfach mit dem Alter, dass man lernen kann, damit umzugehen, aber es immer mit sich rumschleppen wird. "Klassenkampf & Kitsch" war noch erfolgreicher als "Bohemien" und die Tour wäre noch krasser geworden. Ich dachte immer, dass Selbstzweifel, Ängste und Depris aufhören, wenn der Erfolg kommt. Aber langsam mache ich die Erfahrung, dass ich vermutlich auch die Barclaycard-Arena spielen und Gold gehen könnte und mich trotzdem nur temporär anders fühlen würde. Obwohl solche Phasen wie jetzt, in denen ich alles hinterfrage, viel seltener geworden sind. Aber ich glaube nicht, dass ich irgendwann an den Punkt komme, an dem das komplett aufhört.
MZEE.com: Kommen wir zum Abschluss des Interviews: Wir würden sehr gerne noch von dir erfahren, wozu du andere Menschen grundsätzlich im Leben ermutigen möchtest.
Disarstar: Oh, da kann ich noch mal was richtig Schönes zu sagen. Wenn ich eine Erfahrung aus den letzten 26 Jahren herausdestillieren kann, dann, dass von nichts nichts kommt. Wenn man sich zu Hause vergräbt oder auf der Stelle tritt und stillsteht, dann passiert nichts Gutes. Und wozu ich Menschen ermutigen möchte: von Zeit zu Zeit auch mal was zu riskieren und anders zu machen. Dann lernt man Menschen kennen, die einen inspirieren und auf neue Ideen bringen. Man sieht neue Orte und es ergeben sich neue Dinge. Das passiert nicht, wenn man immer die gleichen Kreise zieht. Die Menschen bringen in der Regel nicht den Mut auf, diese Kreise zu verlassen. Manchmal fragen mich Leute, was ich jetzt mit Abi und Studium will. Ob man es glaubt oder nicht: Ich habe mein Studium nicht angefangen, weil ich keine Musik mehr oder einen bestimmten Job machen möchte. Ich mache das alles, weil ich die ganze Zeit in Bewegung sein möchte. Ich werde ein Studium machen und das wird nicht die Endhaltestelle sein. Und da kommt mir dann wieder eine neue Idee, man weiß ja nie … Bleibt in Bewegung und traut euch auch mal, etwas anders zu machen!
(Florence Bader & Yasmina Rossmeisl)
(Fotos von Andreas Hornoff)