"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
2019 neigt sich dem Ende zu, als ich im Muffatwerk in München stehe und gespannt auf Little Simz warte. Sie eröffnet ihr Konzert, indem sie lässig mit Megafon bewaffnet auf die Bühne tanzt und die womöglich markanteste Zeile des Albums rappt: "I don't need that stress, that stress. I'm a boss in a fucking dress." Ab der ersten Sekunde umgibt sie eine Star-Aura und Attitüde, die keinem Rapper nachsteht. Im Gegenteil ‒ sie strahlt dabei eine warmherzige Eleganz aus, wie es vermutlich nur einer Frau möglich ist. In diesem Moment habe ich verstanden, was ihre Platte "GREY Area" so einzigartig für mich macht: simple Finesse à la Tracy Chapman.
Dass ihr 2019 erschienenes Album ein großartiges Stück Musik ist, steht für mich außer Frage. Neben allem, was eine technisch versierte Rapperin mitbringen sollte, stechen einem vor allem die Beats des Executive Producers Inflo ins Auge, die ihre Texte durchweg vervollständigen. Doch es ist das Zusammenspiel aus Verletzlichkeit, brutaler Ehrlichkeit und politischem Feingeist, das mich bei jedem Hören erneut trifft. Aushängeschild dafür ist für mich der Track "101 FM". Little Simz prangert die Missstände ihrer Heimat an, während der Beat das positive und multikulturelle London zeichnet. Abgerundet wird der Song durch ein Outro, das vom Sprecher eines Londoner Piratensenders stammt. Auf Albumlänge konstruiert Simbi berührend die unbeschönigte Wahrheit ihrer selbst und der dazugehörigen Lebensrealität.
Wenn man Little Simz und ihre aktuelle Platte in ihrer Vollkommenheit lieben lernen will, sollte man sich auch einen Live-Auftritt nicht entgehen lassen. Denn kennt Ihr diesen Moment, wenn man nach einem Konzert mit funkelnden Augen und tosendem Herzen an die frische Luft kommt, weil der Körper währenddessen durchgehend Glücksgefühle ausgeschüttet hat? Dieses Gefühl, wenn man berauscht und gleichzeitig traurig ist, weil es schon vorbei ist. Und das eine ganze Woche lang. Sprachlos. Die richtigen Worte dafür habe ich erst jetzt, Monate später, gefunden.
(Yasmina Rossmeisl)