Tiavo sind vieles, aber sicher nicht "your everyday Deutschrap-Duo". Vielmehr verstehen sich Deon und Lucy als Rap/Rock-Hybrid, der technisch anspruchsvolles Gespitte und Gesang vor allem live mit der Energie einer Rock-Show fusionieren soll. Das neue Album "RAOCK" ist das Stil-Manifest der auf dem Genetikk-Label Outta This World gesignten Saarbrücker. Ihr "Topf", aus dem sie in den nächsten Jahren musikalisch schöpfen wollen. Thematisch beschreiten die beiden im Gegensatz zum stilistischen Ansatz nicht unbedingt neue Wege. Der Großteil von Tiavos Songs handelt vom wohl meist bearbeiteten Thema der Popkultur: der Liebe. Warum das so ist, haben uns Lucy und Deon im Interview verraten. Außerdem ging es um ihren Umgang mit Erfolg, das vergängliche Glück aus dem Erwerb von Statussymbolen und darum, in welch unterschiedliche Richtungen sich die Geschmäcker des Rappers und des (einstigen?) Rockers entwickelt haben.
MZEE.com: Ihr habt im letzten Interview mit uns gesagt, dass ihr mal Shows auf "Grönemeyer-Level" spielen wollt. Im vergangenen Jahr habt ihr als Support für Mike Shinoda gespielt. War das schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf ein solches Level?
Lucy: Ja, auf jeden Fall. Es hat sich so angefühlt, als wäre die Musik jetzt da, wo sie sein muss. (lacht) Nee, es hat auf jeden Fall super gebockt. Linkin Park haben wir beide gehört und gefeiert. Da ist es natürlich sehr krass, wenn du für den Typen spielen darfst. Und dann war das auch noch ein total bodenständiger, netter Dude. So wie der Kerl von nebenan, der einfach nett zu dir ist. Der war voll interessiert und hat Fragen gestellt. Das war fast ein bisschen komisch, weil er ja schon ein Weltstar ist. Er hat sich auch die Show angeguckt und uns Props gegeben. Es war voll die coole Erfahrung für uns und wir sind sehr dankbar dafür – generell für alle Support-Gigs, die wir spielen durften. Machine Gun Kelly haben wir ja schon vor längerer Zeit begleitet und NF auch mal für vier Shows.
MZEE.com: Linkin Park waren mehr oder weniger Pioniere für die Art von Musik, die ihr jetzt selbst macht. Im Interview habt ihr erklärt, dass der Weg, den ihr mit eurem Stil beschreitet, zwar schwieriger ist, als nach Schema F vorzugehen, eure Fans euch aber deshalb länger treu bleiben. Habt ihr das Gefühl, dass der Plan aufgeht?
Lucy: Auf jeden Fall. Wir holen die Leute meistens live ab. Im vergangenen Sommer haben wir knapp 20 Festivals gespielt, danach eine größere Tour. Da hatten wir das doppelte an Besuchern im Vergleich zum Vorjahr. In Stuttgart hatten wir auf der "Oh Lucy"-Tour 85 Leute, da kamen dieses Mal 250. Daran merkst du, dass du so langsam gewisse Hürden knackst. Nächstes Mal kommen dann in Stuttgart wieder mehr Leute und dann sind wir auch happy. Das ist genau richtig so. Du hast immer wieder Herausforderungen und kannst dich über Dinge freuen. Wenn wir direkt 1000er-Hallen gespielt hätten … Klar, das wäre geil und wir würden nicht nein sagen. Das macht Bock und bringt sicherlich auch mehr Geld und Hörer mit sich. Aber es ist nicht so, dass es uns stören würde, den Weg so zu gehen wie bisher. Es ist schön zu sehen, dass die Leute vom letzten Mal wieder- und neue dazugekommen sind, die das genauso fühlen. Das sehen wir auch auf Social Media. Viele sind da echt krass dabei und tätowieren sich "Tiavo" oder Lines. Dafür musst du das schon hart fühlen.
Deon: Gerade nach Festivals oder Support-Gigs kommen auch Leute auf unsere Konzerte, weil sie eben live die Energie gespürt haben. Es ist schon ein Unterschied, ob du mit Band oder nur mit einem DJ spielst. Du hast mehr Wucht. Es ist bei uns eher eine Rock- als HipHop-Show.
MZEE.com: Das Video zum Song "MY LOVE" ist angelehnt an das "Ohne dich"-Video von Selig. Hat der Song eine besondere Bedeutung für euch?
Lucy: Also, unser Song ist gar nicht davon inspiriert. Ich kannte weder Selig noch das Lied vorher, Deon auch nicht. Unser Creative Director hat den Song von Selig früher total gefeiert und fand das Video krass, deshalb wollte er das so Hommage-mäßig machen. Das Video ist auf jeden Fall daran angelehnt. "MY LOVE" an sich bedeutet uns aber echt viel. Die Melodie lag schon ein Jahr lang herum, in seiner Grundform ist es der älteste Song aus "RAOCK". Ich habe es aber ewig nicht geschafft, den Text zu schreiben. Irgendwann hat uns dann im Studio ein besonderer Moment gecatcht und wir haben in Windeseile diesen Song gemacht. Der ist auch bewusst so einfach gehalten, mehr sollte darauf gar nicht passieren.
MZEE.com: "MY LOVE" behandelt ein Thema, das eine sehr große Rolle in eurer Musik spielt: die Liebe. Ist sie eurer Meinung nach das Wichtigste im Leben?
Lucy: Ich denke schon, auf unterschiedliche Art und Weise. Du kannst ja nicht nur romantische Liebe empfinden, sondern auch für das, was du tust, für deine Freunde und deine Familie. Liebe ist schon das Kernthema im Leben, glaube ich. Deshalb schreiben wohl so viele Menschen Songs darüber. Mir persönlich liegt das Thema auch einfach rein textlich. Ich könnte eine ganze Platte voller Lovesongs machen. (lacht)
MZEE.com: Wenn man es aber auf romantische Liebe herunterbrechen würde, um die sich die meisten eurer Songs drehen: Würdest du dann sagen, dass sie das Wichtigste im Leben ist?
Lucy: Dann würde ich nein sagen. Unsere Musik befasst sich textlich schon immer sehr viel mit unserem persönlichen Befinden. Wir hinterfragen, was gerade gut und was schlecht läuft. Die Liebe, die Enttäuschung und der Umgang damit sind für mich große Themen. Es begleitet einen eben immer. Nicht jeder Lovesong von Tiavo ist aus der Ego-Perspektive geschrieben. Als wir "MY LOVE" gemacht haben, hatte ich gar keine Struggles in der Richtung, sondern Deon. Das war der Anlass für mich, darüber zu schreiben. Das ist ein Unterschied zum vorherigen Album, auf dem sehr viel mehr aus meiner Perspektive gerappt war. Auf der neuen Platte geht es mehr um uns beide. Es sind unsere gemeinsamen Themen und Gefühle. Im vergangenen Jahr haben wir beide Trennungen durchgemacht. Darüber reden wir natürlich viel, weil wir beste Freunde sind und uns jeden Tag sehen. Da ergibt es sich einfach von selbst, dass man Songs über dieses Thema schreibt.
MZEE.com: Deon, bist du dann auch in den Schreibprozess involviert?
Deon: Zu Anfang war das eher weniger der Fall. Es wird aber immer mehr. Wir sehen die Musik sowieso als Gesamtkonzept und funktionieren wie eine Band. Es ist nicht so, dass ich einen Beat fertig mache und er dann irgendwann darauf schreibt. Wir setzen uns hin und arbeiten durchgehend gemeinsam an einer Idee. Natürlich hat jeder sein Arbeitsfeld, aber genauso hat jeder überall Mitspracherecht. Deswegen ist das neue Album auch persönlicher denn je, sowohl soundtechnisch als auch textlich.
MZEE.com: Was für ein Gefühl löst es aus, wenn jemand anderes so einen persönlichen Text über dein Leben rappt?
Deon: Das ist ein gutes und schönes Gefühl. Es ist ja auch eine Art und Weise der Verarbeitung. Wenn man es schafft, sich etwas von der Seele zu schreiben oder eben zu spielen – ich spiele den Track durch die Musik ja genauso – fühlt sich das gut an. Ich glaube, es gibt nichts Besseres, als einen Song zu schreiben, um sich Luft zu machen. Das ist 'ne coole Sache. Es ist schön, dass wir in letzter Zeit so viele Trennungen und Herzschmerz erlebt haben! (lacht)
Lucy: Der erste Song, den ich mit zwölf Jahren aufgenommen habe, war ein Liebeslied. Und der zweite auch. (lacht) Der dritte war ein Representer, dann kamen noch mal zwei Liebessongs und wieder ein Representer. Der Anteil hat sich gehalten und das wird er wahrscheinlich weiterhin. Damit muss ja nicht immer Liebe zu einer Frau gemeint sein, auch wenn ein Song das im ersten Moment vermittelt. Auf "Oh Lucy" spreche ich auch von einer Frau, aber meine eigentlich meine inneren Dämonen. Manchmal muss man etwas genauer hinhören, um zu verstehen, worum es wirklich geht.
MZEE.com: Im Entstehungsprozess ist es bestimmt hilfreich, eure beiden Perspektiven nutzen zu können. Mit einem Teil, der aus dem Rap-Kosmos kommt und einem, der eher im Rock-Kontext sozialisiert ist.
Lucy: Total. Lustigerweise will ich die Songs mittlerweile immer rockiger und Deon irgendwelche Rap-Banger machen. Da hab' ich gar keinen Bock mehr drauf. (lacht) Ich sehe da meine Qualitäten als Sänger und Rapper gar nicht mehr so. Natürlich kann ich das und es macht auch Spaß, ab und zu einen runterzufetzen. Aber wenn ich meiner Familie oder Freunden Musik zeige, sind das eigentlich nie Representer, sondern eher gesungene Songs. Die flashen mich selbst mehr, weil ich niemals gedacht hätte, dass ich das mal kann. Aufgrund meines Durchsetzungsvermögens hat das Album bestimmt so zwei, drei Rap-Banger weniger. (lacht)
MZEE.com: Also gibt es auf der nächsten Platte einen Sechzehner-Skit von Deon.
Deon & Lucy: Wenn's so weitergeht, auf jeden Fall. (beide lachen)
Deon: Nee, Quatsch. Die Mischung macht's einfach. Durch die Auseinandersetzung, welche Art von Songs auf der Platte landen, entsteht erst dieser Hybrid, den unsere Musik darstellt.
Lucy: Wir sitzen ja auch nicht zusammen und nehmen uns vor, einen Lovesong zu machen. Wir machen einfach Musik und dann passiert eben, was passiert. Im Endeffekt geht es darum, ob der Song geil ist und uns flasht.
Deon: Ein Lovesong kann ja auch ein Banger sein.
Lucy: Genau. "LILLY" zum Beispiel ist mein absoluter Lieblingssong auf dem Album und der ist in meiner Welt definitiv ein Banger. Ein Rammstein-Banger.
MZEE.com: Hat Liebe in eurem Leben bisher mehr Glück oder mehr Schmerz verursacht?
Deon: Schon mehr Glück. Also, ich will das gar nicht mal in Glück und Schmerz unterteilen. Liebe gibt eher Kraft, du wächst daran. Ich hab' mich vor einem Jahr nach einer sehr langen Beziehung getrennt und es hat sehr lange gedauert, bis ich danach zu mir selbst gefunden habe. Nach diesem Prozess der Selbstfindung und des Einnordens ist mein Ich besser denn je und funktioniert besser denn je. So kannte ich das vorher gar nicht. In einer Beziehung gibst du immer viel ab, vieles wird aufgefangen und kompensiert. Man geht Kompromisse ein. Nach der Trennung habe ich vielleicht zum ersten Mal erkannt, wer ich überhaupt bin. Das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. Auch, um noch mehr Musik zu machen. Im Endeffekt bin ich da positiv rausgegangen.
MZEE.com: Lasst uns noch über den Sound eures neuen Albums sprechen. Der ist als Rap/Rock/Trap-Gemisch beziehungsweise "RAOCK" ziemlich einzigartig. Würdet ihr sagen, dass ihr euren Sound auf der neuen Platte final gefunden habt?
Lucy: Ich glaube, wir haben schon auf "Oh Lucy" mehr oder weniger gefunden, was wir sein wollen. Aber jetzt wollten wir ein großes Album machen, auf dem wir alles machen, was wir können. Wie auf einem Spielplatz. Auf "RAOCK" sind auch die HipHop-mäßigsten Songs von uns überhaupt drauf. Sachen wie "SONNTAG 6AM" oder "NICHT FÜR IMMER" sind ja klassische Rap-Songs mit Beats auf Sample-Basis – so, wie ich das schon mit 15 oder 16 gemacht habe. Gleichzeitig wird auf Songs wie "LILLY" gar nicht mehr gerappt. Das ist eigentlich einfach Rockmusik. Wir wollten unsere Welt mit diesem Album einmal komplett aufmachen und erklären, um uns bei zukünftigen Projekten aus genau diesem Topf bedienen zu können. Das ist die Tiavo-Welt. Das nächste Album kann ein komplettes Rockprojekt werden. Es kann auch mal was kommen, wo nur gerappt wird. Ich weiß es nicht.
Deon: Man sammelt ja immer Eindrücke. Unser musikalischer Horizont hat sich enorm erweitert. Diese Einflüsse hörst du auch auf dem Album. Es ist ein guter Hybrid, der mal in die eine und mal in die andere Richtung ausschlägt. Natürlich versuchen wir, soundtechnisch fokussierter zu werden. Uns wird ja schon nachgesagt, dass wir einen einzigartigen Sound haben und den wollen wir auch beibehalten, um uns von der Masse abzuheben. Das durchzusetzen, ist ein längerer Prozess, aber die Leute, die bei dir sind, bleiben dir auch treu. Die gehen nicht mehr weg.
Lucy: Das ist auf jeden Fall so. Klar, wenn jemand bei Spotify zuerst "MY LOVE" und dann "ES WIRD SPÄT" hört, versteht der erst mal die Welt nicht mehr. Aber in erster Linie machen wir die Musik für uns selbst. Wir wollen die Musik machen, die wir gern hören wollen und die wir vermissen, weil sie keiner macht. Regel Nummer eins ist, dass wir die Songs selber pumpen können. Erst danach zählt, ob das dem Label, meiner Mutter oder sonst wem gefällt.
MZEE.com: Für den Ansatz seid ihr, denke ich, in einer guten Zeit unterwegs. Viele junge Hörer sind nicht mehr mit so großen Scheuklappen unterwegs wie früher.
Lucy: Unsere Hörer feiern ja gerade diese Vielseitigkeit und verstehen das. In den USA funktioniert das sowieso, ein Post Malone kann das machen. Ein Machine Gun Kelly kann das machen. Der macht jetzt nebenbei ein Punkrock-Album. Hier ist es teilweise schwierig, weil schon noch viele Leute in Schubladen denken. Aber wie du sagst, es wird besser. Man freut sich über jeden, der seinen musikalischen Horizont erweitern will.
Deon: Wir haben schon ein riesengroßes Problem in Deutschland. Es wird zwar besser, aber Deutschland ist noch so ein Schubladen-Land, was die Denke bei vielen angeht. Ich glaube, in den Staaten würde niemand unsere Mucke so skeptisch sehen und sich fragen, was genau wir da machen, wie wir das nennen, welche Einflüsse da jetzt reinspielen, warum wir das Instrument da so einsetzen und nicht anders … Irgendwann wird man auch müde, sich zu erklären.
Lucy: Wegen Lil Peep und anderen Leuten fangen jetzt ja auch im Deutschrap einige Leute an, Gitarren-Samples zu benutzen und so weiter. Manche machen das gut und dann ist es auch vertretbar. Bei anderen stellen sich bei uns sämtliche Haare auf. Das ist teilweise furchtbar schlecht. Aber auf die Qualität wird oft nicht mehr so viel Wert gelegt. Mir sagen auch immer mehr Freunde, dass wir anfangen sollen, dümmere und einfachere Musik zu machen. "Macht mal nicht so viel Details in den Beat, nehmt doch einfach nur einen Loop, packt ein bisschen mehr Bass unter den Refrain und dann ist doch gut!" Das müssten wir machen, um in die Modus Mio-Playlist zu kommen. Wir müssten eine schlechtere Version von uns selbst sein, um da reinzukommen und Millionen von Streams zu generieren.
MZEE.com: Zum Abschluss habe ich noch zwei Zitate von "OH LORD" für euch rausgesucht: "Wenn die falschen Dinge überhand ergreifen, wirst du gierig, nicht bescheiden." und "Warum ist alles, was ich hab', noch nicht genug? Warum lässt du mich ins Messer laufen, ohne was zu tun?" – Habt ihr im Moment eher Angst davor, zu schnell satt zu sein oder nach zu großen Zielen zu streben und am Ende enttäuscht zu sein, wenn es nicht klappt?
Lucy: Die Gier ist in der ersten Zeile im einfachen Sinne gemeint, da geht es um die Gier nach Geld. Ich würde es niemals kritisch sehen, nach zu großen Zielen zu streben. Das Herbert Grönemeyer-Level wollen wir und das kriegen wir. Das ist ein felsenfestes Ding und dafür reißen wir uns die Seele aus dem Leib. Es geht eher um materielle Dinge. Wir haben uns nach dem Signing bei Outta This World zum Beispiel Autos gekauft. Danach wollten wir uns dann dickere Autos holen und haben gemerkt, dass das unnötig ist. Wenn du dir einen A7 holst, freust du dich wahrscheinlich zwei Monate darüber und dann ist es normal. Es ist genau dasselbe Gefühl wie in einem Skoda. Deshalb haben wir unsere Autos abgegeben und fahren jetzt Fahrrad. Am Ende des Tages machen dich ganz andere Dinge glücklich. Die anderen Zeilen beziehen sich auf ebendiese Fehler, die man bereits gemacht hat oder noch machen wird. Das, was wir erreichen wollen, steht fest und davon lassen wir auch nicht ab.
Deon: Dem hab' ich nichts mehr hinzuzufügen.
Lucy: Ich liebe es, wenn das jemand sagt! (lacht)
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Dilnas B.)