Deutschrap-Journalismus. Schon über das Wort lässt sich streiten. Die einen meinen, "richtiger" Journalismus im deutschen Rap existiere doch gar nicht. Außerdem könne ja jeder selbst bessere Artikel schreiben als "diese Praktikanten". Die anderen finden, jeder, der im deutschen Rap journalistische Tätigkeiten ausführt, sei auch ein Journalist. Die nächsten führen auf: Ja, im deutschen Rap sind Redakteure unterwegs – aber keinesfalls Journalisten. Zusammenfassen lässt sich: Fast jeder hat zumindest eine Meinung dazu. Aber wie steht es um die Meinung der Journalisten selbst? Denn die hat kaum jemand mal gefragt. Und so startet unsere neue Serie – eine kleine Interviewreihe mit aktuell relevanten und aktiven Journalisten der deutschen Rapszene. Dabei möchten wir darüber reden, warum die Deutschrap-Medien von so vielen Seiten – auch von der der Künstler – immer wieder unter Beschuss stehen und wie die Journalisten diese Seitenhiebe persönlich empfinden. Wir besprechen, wie einzelne Journalisten ihren Platz in der Rapszene wahrnehmen und ob deutscher Rapjournalismus in Gossip-Zeiten noch kritisch ist. Wir möchten erfahren, ob sie die Szene noch unter dem Kultur-Begriff verstehen oder das Ganze für sie ausschließlich ein Beruf (geworden) ist. Es kommen Fragen auf, ob es vereinbar ist, in diesem Aufgabenbereich Geld zu verdienen und wie der aktuelle Deutschrap-Journalismus und seine Entwicklung gesehen wird. Und: Wie steht es überhaupt um die Entwicklung der Rapszene an sich? Das und vieles mehr werden wir in über zehn Interviews besprechen, in welchen es verständlicherweise immer nur um einen Teilbereich dieser großen Themenwelt gehen kann. Nach einer längeren Pause starten wir dieses Format heute wieder mit einem der wohl wichtigsten Journalisten des deutschen Raps aller Zeiten. Wir trafen Marcus Staiger zwischen schwarzem Tee und Gebäck in einem Café direkt am Kotti in Berlin und stellten ihm zu Themen von seiner Karriere über deutsche Rapper bis hin zu Politik endlich alle Fragen, die uns schon seit Langem auf der Seele lagen.
MZEE.com: Zu Beginn würden wir gerne wissen, wie du dich in der Journalistenszene des deutschen Raps selber verorten würdest: Was siehst du heutzutage als deine Rolle?
Marcus Staiger: Ich hatte in den letzten Jahren eine kleine Selbstfindungskrise in Bezug auf dieses Thema, weil ich mir gerne über meine eigene Rolle und Privilegien Gedanken mache. Politisch gemein gesprochen, bin ich ein alter weißer Mann, der mit 50 Jahren verbittert in seinem Elfenbeinturm sitzt und junge Rapper bekrittelt. Das wollte ich nie sein. Ich empfinde Rap nach wie vor als dynamische Geschichte. Ich habe viele Aufs und Abs erlebt und ein großes Vertrauen in diese Kultur. Natürlich nervt mich dieser Overkill, dass man im Video mit Geldbündeln am Ohr steht. Aber wir leben gerade in einer turbo-kapitalistischen Zeit. Geld ist der Maßstab, an dem man gemessen wird. Deswegen kann ich verstehen, dass Leute, die aufstreben und in unserer Gesellschaft nicht besonders privilegiert sind, sich über Geld definieren. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass sie ihr Selbstwertgefühl anders entwickeln können. Ich mache mir Gedanken darüber. Aber wie kriege ich diese Message unters Volk, ohne dass die sich angefickt fühlen? In letzter Zeit hatte ich oft den Eindruck, Menschen würden denken, dass ich ihnen nichts gönne. Deshalb habe ich meine JUICE-Kolumne so umgestellt, dass ich sie jetzt zusammen mit einer jüngeren, migrantischen Frau schreibe. Genauso wichtig war es mir, dass ich nicht alleine in der Radiosendung sitze und den Leuten die Geschichte vom Pferd erzähle, sondern einen jungen Kollegen dazu nehme, der aus einer komplett anderen Generation ist. Mir ist das Dialogische sehr wichtig. Gleichzeitig habe ich aber den Eindruck, dass dieser Dialog nicht immer gewollt ist. Die Entwicklung des Rapjournalismus ist mehr oder weniger ein Outlet der Künstler: Es ist keine konstruktive Auseinandersetzung gewünscht, sondern Mikrofonständer, die eine Promo-Plattform bieten. Ein bisschen Hofjournalismus ist da schon auch dabei …
MZEE.com: Hast du das Gefühl, dass das mal anders war?
Marcus Staiger: In Deutschland war es immer schwierig, kritischen Musikjournalismus zu machen. In den USA und Großbritannien gab es mehr Beispiele, die viel respektloser mit Künstlern umgegangen sind, wodurch das Ganze dann auch lustiger war. Bei der Source, dem HipHop-Magazin-Flaggschiff der 90er, gab es immer wieder Vorfälle, bei denen gewisse Künstler das Magazin boykottiert oder angegriffen haben. US-amerikanische Künstler sind ebenfalls empfindsame Wesen. Allerdings habe ich manchmal den Eindruck, dass es unter der Künstlerschaft in Deutschland ein Übermaß an Mimosenhaftigkeit gibt. Aber weil du fragst, ob das mal anders war: Strukturell gesehen war das früher auch nicht besser, weil die Magazine extrem von Künstlern und deren Plattenfirmen abhängig waren. Wenn sie mit der Berichterstattung nicht zufrieden waren, wurden keine Anzeigen mehr geschaltet, wodurch die Hefte finanziert wurden. Das war gang und gäbe. Es war nicht einfach, Verrisse unterzubringen oder Interviews, die nicht so geil gelaufen sind.
MZEE.com: Du bist für einige ein großes Vorbild. Hattest du – auf Journalismus bezogen – denn ebenfalls mal eins?
Marcus Staiger: (überlegt) Im Musikbereich? Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich war großer Fan der schriftlichen Source-Reportagen. Drei Tage mit einem Rapper unterwegs sein und dann dessen Geschichte erzählen – das fand ich schon sehr geil. So was wie die ersten VICE-Reportagen wollte ich machen. Das gefilmte Interview ist nicht mein Lieblingsformat, weil es immer eine künstliche Situation ist. Licht- und Kameraaufbau. Da mag ich Situationen wie diese hier viel lieber. Das ist mein Interview-Style. Wir reden ganz normal und nebenher drückt man irgendwann auf Record und es geht los …
MZEE.com: Bist du dir denn deiner Rolle bewusst?
Marcus Staiger: Schwierig. Ich habe mehr den Eindruck, es interessiert nicht mehr, was ich mache oder gemacht habe. Ich glaub', da hat die Zeit einen überrollt. Momentan denke ich wieder darüber nach, ein Interviewformat aufzulegen, weil wir gerade versuchen, einen eigenen Medienkanal aufzubauen. Es gibt genügend Leute, für die sich im Rap niemand so richtig interessiert. Die haben aber trotzdem ihr Publikum und ich finde sie auch interessant. Eine Dreiviertelstunde Gespräch über Musik, Kultur und Politik. Das sind die Themenfelder, in denen ich mich am besten auskenne.
MZEE.com: Ich glaube nicht, dass das niemanden interessiert …
Marcus Staiger: Guck mal, ich will gerne ein Capital Bra-Interview machen. Keine Ahnung, ob Capital mit mir sprechen wollen würde. Mein großes Problem ist: Viele denken, der Staiger will einen immer auf Glatteis führen. Das will ich gar nicht. Aber ich nehme sie beim Wort. Ich nehme sie ernst in ihrem Künstlerdasein und ihrer Aussage und frage dann nach.
MZEE.com: Du kannst aber auch fiese Fragen stellen. Wenn man zum Beispiel an das Disarstar-Interview im Park denkt: Er weiß, wie er dich zu nehmen hat. Auf jemand anderen kann das einschüchternd wirken …
Marcus Staiger: Aber was ist denn der Punkt, wenn man über Kunst spricht? Wer das produziert hat?! Guck doch nach! (lacht) Ich kann mir vorstellen, dass so mancher Künstler beschließt, dass ihm das zu anstrengend ist. Da müsste derjenige ja wirklich mal über seine Kunst nachdenken. Ich habe den Eindruck, das wollen manche nicht. Darauf haben sie keinen Bock – was schade ist.
MZEE.com: Gibt es innerhalb deiner journalistischen Karriere etwas, für das du dir selbst auf die Schulter klopfen und etwas, das du so nicht noch mal machen würdest?
Marcus Staiger: Was ich wirklich gerne gemacht habe, war meine Reise nach Syrien. Das war eine richtige Herzensangelegenheit und ich war am Ende auch ein bisschen sauer. Eigentlich war das anmoderiert für die VICE. Ich habe die Story aufs Tablett gebracht und die Kontakte hergestellt, aber vermutlich war ich – oder das Ganze – schlussendlich zu politisch. Deswegen haben sie mir erklärt, dass ich als Host für diese Sendung ausfalle. Obwohl die produktionstechnisch einen großen Aufriss mit einem fixen Übersetzer und Grenzübergang gemacht haben, war ich raus. Ich bin dann ohne sie gefahren. Wir waren im Oktober 2015 in der Türkei und wollten mit einer Hilfsorganisation die Grenze übertreten. Leider hat das nicht geklappt, weil es einen Bombenanschlag in Ankara gab. Als wir an der Grenze festhingen, sind alle anderen abgereist. Ich bin dann alleine quer durch die Türkei und anschließend in den Irak, um vom Irak nach Syrien zu reisen. Ich würde gerne öfter und ausgiebiger aus diesen Teilen der Welt berichten. Dann wiederum – und da kann ich mir nicht auf die Schulter klopfen – war das Ganze von der Auswertung her zu spärlich und ich habe zu wenig daraus machen können, weil ich es selber finanzieren und wieder arbeiten gehen musste.
MZEE.com: Wo wurde das veröffentlicht?
Marcus Staiger: Zum einen habe ich zwei, drei Artikel über verschiedene Parts der Reise in der WOZ veröffentlicht. Zum anderen habe ich einen längeren Reisebericht für die SPEX geschrieben. Bei der VICE wurde dann noch über den Wahlabend am 1. November in der Türkei berichtet. Bei den Wahlen im Juni hatte die Regierungspartei AKP von Erdoğan eine relative Schlappe erlitten, woraufhin im November eine Neuwahl angesetzt wurde. An diesem Tag bin ich zurückgekommen und habe es miterlebt.
MZEE.com: Wenn du sagst, dass du so was gerne öfter machen würdest: Was hält dich davon ab?
Marcus Staiger: Das hat sowohl familiäre als auch finanzielle Gründe. Ich habe, journalistisch gesehen, ein bisschen das Fach gewechselt und bin politischer Journalist geworden. Im Musikjournalismus gibt es wenig Geld. Als fast 50-jähriger Familienmensch damit ein Leben zu gestalten, ist fast unmöglich. Das ist was für junge Leute, die studieren, in einer WG leben und keinen bestimmten Betrag im Monat drin haben müssen. Außerdem sind die Vorbehalte, die man gegenüber bürgerlichen Medien und der Mainstream-Presse haben kann, teilweise schon berechtigt. Du musst irgendwie reinpassen. Es wäre für mich nicht völlig unmöglich gewesen. Aber da ich durch den politischen Journalismus ein starkes politisches Bewusstsein ausgebildet habe, passe ich tatsächlich nicht so ganz rein. Meine Kritik an dieser Gesellschaft ist doch ein wenig fundamentaler als das, was im Feuilleton der ZEIT zu finden ist. Außerdem gefällt mir die Art und Weise teils nicht, wie in etablierten Medien Journalismus gemacht wird. Es gab diesen Vorfall Relotius. Alle haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich gefragt, wie jemand so krass lügen kann. Ich weiß genau, wie er so krass lügen kann. Der verkauft seine Story vorher. Wenn er nach Kentucky fliegen möchte, um sich anzusehen, ob die Menschen dort wirklich so reaktionär sind, bekommt er das nicht bewilligt. Deshalb behauptet er, dass die Menschen dort seit 15 Jahren Top Gun schauen und mexikanische Stoffpuppen hängen. Wenn er die Story von seinem Chefredakteur so genehmigt bekommt, muss er aber auch mit dieser zurückkommen … Mir ging es genauso, als ich für das ZEIT-Feuilleton geschrieben habe. Bushido und Sido haben eine neue Platte aufgenommen. Mich würde interessieren, wieso sie so krasse Spießer geworden sind. Das war die Ansage, mit der ich das Interview führen sollte. Ich habe mich darüber sehr geärgert. Die gönnen sich jetzt ein Leben in einem Berliner Vorort, aus dem du kommst. Was ist daran so krass spießig? Nur, weil du jetzt von dort nach Kreuzberg gezogen bist, ist das nicht revolutionär. Im Endeffekt haben wir ewig an diesem Text rumgedoktert und redigiert. Bis man am Schluss denkt: Das ist nicht mehr mein Text. Ich mag es, loszuziehen und zu gucken, was ist. Aber das bekommst du heute gar nicht mehr so bewilligt. Deswegen ist es mir nicht unrecht, dass ich meinen Broterwerb nicht so bestreiten muss. Ich verdiene mein Geld als Industriekletterer und mache das zusätzlich. Weißt du, ich habe mal ein richtig großes Interview mit Haftbefehl an eine Berliner Zeitung verkauft. Dafür habe ich 140 Euro bekommen. Der Artikel wurde in der Frankfurter Rundschau zweitveröffentlicht, wofür ich noch eine Gutschrift über 34,70 Euro bekommen habe. Da dachte ich mir: Ist doch gut, das ist ein bezahltes Hobby – aber nichts, womit ich mein Geld verdienen kann.
MZEE.com: Du hast die Rolle als Journalist, bei manchen Künstlern aber auch die eines Mentors. Wenn wir an dein Radio-Interview mit Disarstar denken: Wie schwierig ist es für dich, ein kritisches Interview mit ihm zu führen? Kannst du bei dir bekannten Leuten noch kritischer sein, weil du genau weißt, was ihr wunder Punkt ist?
Marcus Staiger: (lacht) Also, bei Disarstar ist das aber auch immer ein Missverständnis. Das war überhaupt nicht so kritisch geplant. Mauli hat danach gemeint, ich hätte mich wie ein Lehrer verhalten, der seinen Schüler abfragt. Das ist richtig gemein … So war das überhaupt nicht. Ich hatte nur einen Fragebogen für Leute vorbereitet, mit denen ich in Kontakt bin und dachte, dass das eigentlich ganz gut passt. Und Gerrit (Anm. d. Red.: Disarstar) hat den Eindruck gehabt, ich frage ihn ab. (lacht) Ich habe mich jedoch nur dafür interessiert. Aber ja, für mich ist es sehr viel schwieriger, Freunde zu interviewen. K.I.Z-Interviews waren immer die Hölle, ganz schlimm. Abgesehen davon, dass ich ja auch geschäftliche Beziehungen mit ihnen hatte. Ich habe es immer so gehalten: Wenn ich über meine Freunde schreibe, verfasse ich Promotexte. Ich finde das voll geil, weil man es so brillant wie möglich machen kann, ohne die Distanz wahren zu müssen. Aber wenn ich solch einen Text geschrieben habe, hab' ich keinen Pressetext mehr dazu gemacht. Das war mein journalistisches Ethos. In der Radiosendung ist das jetzt ein bisschen anders. Da lade ich auch Leute ein, mit denen ich geschäftliche Beziehungen habe.
MZEE.com: Hast du von dir aus mal ein Interview abgebrochen oder wurde vonseiten eines Künstlers mal eins vorzeitig beendet?
Marcus Staiger: Nein, aber das war immer meine größte Angst. Immer. Ich bin auch nach wie vor aufgeregt vor Interviews, ohne Witz. Es gab eine geile Szene: Westside Connection-Interview in New York. Damals hatten Plattenfirmen noch Geld und haben die Journalisten nach New York geflogen, das war wirklich krass. Und dann saßen da WC, Ice Cube und Mack 10. Ice Cube mochte mich wohl, aber WC und Mack 10 waren richtige Prollos. Die konnten mit mir nicht so viel anfangen. Ich hatte mich wirklich super vorbereitet – ich hatte 43 Fragen oder noch mehr. (lacht) Irgendwann bin ich komplett lost gewesen in meinen Aufzeichnungen und habe den Faden verloren. Kennt ihr die Situation? Du denkst nicht mehr mit und die nächste Frage fehlt. Während ich suche, haut dieser WC auf den Tisch und schreit: "Come on with the question!" Ich habe mir dann schnell irgendeine Frage überlegt …
MZEE.com: Da du ja schon eine ganze Weile dabei bist: Wie siehst du die Entwicklung und den Status Quo der Berichterstattung im deutschen Rap?
Marcus Staiger: Schwierig – würde mich aber wirklich interessieren. Ich wollte für die letzte JUICE-Ausgabe eine Reportage über die verschiedenen Beweggründe der heutigen Journalisten schreiben. Was treibt einen Aria an? Ich weiß zum Beispiel, dass ein Davud gerne kritischer wäre. Aber er sagt auch, dass er es nicht sein kann, weil sie sonst nicht kommen würden … Es ist halt so, wie es ist. Es ist nicht gut, es ist nicht schlecht. Es lebt von Charakteren und darum geht's. Klar, die Leute brauchen ihre Gäste, um die Klickzahlen zu erreichen. Und die Künstler wiederum sagen: "Pass auf, wir brauchen euch überhaupt nicht. Ich mach' einfach Insta-Storys, reicht doch."
MZEE.com: Laut Wikipedia hast du inhaltlich mal gesagt: "Durch das Internet fällt der Filter zwischen Plattenfirmen und Konsumenten weg und muss durch den Journalismus ersetzt werden." – Ist die Aufgabe von Deutschrap-Magazinen heute wichtiger denn je? Gerade als Medium, das auch mal etwas Kritisches von sich gibt?
Marcus Staiger: Ich glaube, es war damals mein frommer Wunsch, dass das passiert. Worauf ich wohl hinauswollte, ist, dass man fast schon kuratiert. Ich habe immer die Position vertreten, dass man über Musik nicht objektiv schreiben kann. Du kannst sagen: "Das sind meine Standards, das sind meine Kriterien, das ist mein aktueller Gemütszustand. Ich höre dieses Album und deswegen bewerte ich das jetzt so und so." Kann sein, dass du in einer Woche eine ganz andere Lebensphase erreichst und dieses Album dann wieder anders hören würdest. Aber wenn man das offensiv vor sich herträgt, kann niemand was dagegen sagen. Man muss eben ein Bezugssystem herstellen. Ich glaube aber, dass die Bedeutung von Musikjournalismus und Musikmagazinen generell sinkt. Insofern ist diese Aussage schon wieder veraltet …
MZEE.com: Macht es in deinen Augen Sinn, Künstlern mit verwerflichen Inhalten keine Plattform mehr zu geben? Sollte man mit ihnen in einen Dialog treten oder kritische Kommentare über sie verfassen?
Marcus Staiger: Wir hatten auf dem Reeperbahn Festival ein Panel über sexualisierte Gewalt im Showgeschäft. Wir haben das extra größer angelegt, damit es nicht nur um Rap geht, denn Missbrauch und Übergriffigkeit gibt es schon immer. Überall, wo es ein Machtgefälle gibt. Wichtig sind solidarische Strukturen im Business, die so etwas auffangen, diskutieren und im Endeffekt aus dem Menschen einen besseren Menschen machen. Oder so etwas im Vorfeld schon verhindern können. Einfaches Beispiel: Der Tourmanager irgendwelcher Rapper hat auf dem splash! Festival 15 junge Mädchen eingesammelt, ihnen die Handys abgenommen und wollte sie ins Hotel bringen lassen. Ein Manager vor Ort hat das mitgekriegt, diese Handys wieder ausgeteilt und die Mädchen nach Hause geschickt. Das zum Beispiel ist eine Intervention, die eine mögliche unangenehme Situation im Vorfeld verhindert. Wenn am Ende doch irgendwelche Leute im Hotel landen und es zu solchen Situationen kommt, ist das auch doof. Aber er hat das – zumindest in diesem Moment – unterbunden und kommt nicht in die Situation, sich 20 Jahre später dafür rechtfertigen zu müssen. Zu jedem Künstler, der sich scheiße verhält, gehört ein Management und Assistenten, die die Flugtickets und Hotels buchen, die Security stellen und so weiter. Da sind jede Menge Menschen drum herum, die eingreifen und intervenieren könnten. Dass Leute durchdrehen und Scheiße im Kopf haben, gibt es immer und überall. Wie schaffen wir es, das gesellschaftlich oder im Musikbusiness zu verhindern? Ich halte nichts davon, Leute zu boykottieren. Ich halte auch nichts davon, diese Songs nicht mehr zu spielen. Diese Rapper kommen nicht aus einer Höhle, in der sie sich den verrücktesten sexistischen Scheiß ausgedacht haben. Nein, die sagen das, was da ist.
MZEE.com: Würdest du also auch ein Interview mit einem Künstler führen, der gerade beispielsweise wegen sexueller Belästigung in den Schlagzeilen war?
Marcus Staiger: Ich würde zum Beispiel gerne mit Bonez darüber sprechen, wieso er diese Insta-Storys gepostet hat. Sein Kumpel hat möglicherweise seine Freundin geschlagen. Das ist nichts, das nur bei Familie Gzuz vorkommt. Das gibt es in allen Gesellschaftsebenen. Aber das ist eine scheiß Situation. Sie geht an die Öffentlichkeit, was auch ein riesiger Schritt ist. Es ist zwar ein familiäres Problem, das aber auch durch das Umfeld supportet werden muss, damit ein Prozess in Gang kommt. Und dann stellt sich sein bester Kumpel mit x-tausend Followern hin und macht Witze darüber. Ich würde gerne mit ihm darüber sprechen, was ihn dazu bewegt hat. Warum nicht einmal ein ehrliches Statement abgeben und sagen: "Freunde, ihr wisst nicht, was da passiert ist. Aber Frauen zu hauen, ist scheiße. Ich positioniere mich gegen häusliche Gewalt."
MZEE.com: Du würdest also auf keinen Fall eine neutrale Berichterstattung machen.
Marcus Staiger: Ich würde nicht zur Tagesordnung übergehen. In dem Moment, in dem das Management sagt, dieses Thema gibt es nicht, wäre dieses Interview auch nicht mehr relevant. Dann würde ich es nicht machen.
MZEE.com: Findest du, dass alles seine Daseinsberechtigung hat, was deutschen Rap angeht? Auch, wenn es einem Künstler nur um Geld und Streamingzahlen statt künstlerischen Ausdruck geht?
Marcus Staiger: Geldverdienen ist doch die Hauptmotivation. (lacht) Es gibt eine Sache, bei der ich mich weigere, sie als Rap anzuerkennen: Nazi-Rap. Das sind keine Rapper. Das sind Nazis. Und die will ich nicht in diese Familie aufnehmen. Aber sonst gönne ich jedem. Also, bei jemandem wie Mert peile ich nicht, dass er überhaupt ansatzweise akzeptiert wird. Der ist doch YouTuber? Aber hey, meine Güte. Wer bin ich, dass ich sowas sagen darf? Wenn die ihr Publikum finden, fair enough. Bei mir in der Sendung wird er nicht gespielt. (lacht)
MZEE.com: Inzwischen sind Künstler nicht mehr von Magazinen abhängig, da sie durch Instagram und Co. ihre eigenen Plattformen haben. Trotzdem haben wir in der Szene eine neue Welle erfolgreicher Journalisten. Wie erklärst du dir das?
Marcus Staiger: So ein Interview ist keine Einbahnstraße. Durch die Dialog-Form kommen noch mal andere Facetten zum Vorschein als bei einer Insta-Story. Außerdem habe ich den Eindruck, dass es immer um ein gewisses Interesse an einer Meta-Diskussion geht. Warum funktioniert das alles so? Wie hängt das alles miteinander zusammen? Ich glaube, das wird in solchen Formaten bedient. Es ist immer noch etwas anderes, ob dir jemand Fragen stellt oder du das alleine zu Hause deinem Handy erzählst. Aber was ich zu Social Media sagen will: Die viel interessantere Entwicklung ist dabei für mich, dass die Trennung zwischen Kunstperson und echter Persönlichkeit immer weiter aufgeweicht wird, weil du 24 Stunden auf Sendung bist. Plakativ gesagt: "Savas, der Pimplegionär" war das 40 Minuten auf der Bühne – danach war ich mit Savaş Yurderi unterwegs. Aber wenn du das 24 Stunden am Tag sein musst, tut das diesen fragilen Persönlichkeiten nicht gut … Manchmal habe ich den Eindruck, dass die von ihnen selbst geschaffene Kunstfigur sie langsam aufgegessen hat. Es gibt auch keine Distanz mehr zu den Fans, die den Eindruck haben, dass sie die Stars kennen. Und für die Künstler wird es immer schwieriger, das zu trennen.
MZEE.com: Apropos Savas: Empfindest du Rap nach wie vor als Jugendkultur?
Marcus Staiger: (lacht) Das ist eine ganz gemeine Frage. Für mich war Rap schon immer mehr als eine Jugendkultur. Insofern, dass er eine eigene Sprache und eigene Werte hat. Aufgrund der Zeit, die HipHop schon existiert, hat er den Status der Jugendkultur überschritten. Das Ganze ist schon eher eine Kultur.
MZEE.com: Denkst du, dass man sich zum Beispiel durch ein gewisses Alter irgendwann von Rappern und ihren Lebens- und musikalischen Inhalten entfernt und dann nicht mehr geeignet ist, darüber zu berichten?
Marcus Staiger: Identifiziert habe ich mich mit den Lebensentwürfen der meisten Rapper nicht. Ich habe gerne gesagt: 95 Prozent aller Rapper sind scheiße – aber 95 Prozent aller Menschen sind auch scheiße. Würde ich heute so nicht mehr sagen, ich bin sehr viel milder geworden. Ich finde gar nicht mehr, dass die Menschen so scheiße sind. Aber darum geht es ja nicht. Ob ich mich damit identifizieren kann? Ich könnte mich mit einem DMX auch nicht identifizieren. Der hatte ein ganz anderes Leben, wurde von seiner Mutter verprügelt und das ist nicht meine Lebensrealität. Er ist aber ein guter Künstler. Und was einen guten Künstler ausmacht, ist, mir ein Fenster zu seiner Welt zu öffnen. Dabei spielt das Alter keine Rolle. Dass ich das sehen, fühlen, schmecken, riechen, anfassen kann, ist wichtig. Das passiert immer wieder. Und das ist Talent. Das ist das Unberechenbare und Schöne. Deswegen glaube ich immer noch an Rap. Das ist Rhythmus, Beat und Rhymes – ganz einfach.
MZEE.com: Ist Rap auch privat die Musik, die du am meisten hörst?
Marcus Staiger: Ich höre schon gerne textlastige Musik – auch gerne Singer/Songwriter oder Country. Das Problem, das ich mit Rap habe: Ich kategorisiere ihn immer. Ich kann Rap nicht einfach so hören. Ein Regisseur kann auch nicht einfach entspannt Filme anschauen. Der sieht alle möglichen Fehler. Und so höre ich Rap. Immer mit dem analytischen Ohr. Da fällt natürlich auf, wenn es schon wieder um Koka-Kilos geht. Es kommt halt immer drauf an. Gringo rappt auch nichts anderes. Aber wie er es macht, ist halt neu und fresh.
MZEE.com: Hast du auch das Gefühl, es gibt seit zwei Jahren unfassbar viele Rapper und du kennst die gar nicht mehr alle?
Marcus Staiger: Ja, aber da hatte ich am Anfang eher ein Problem mit. Jetzt bin entspannter. Ich meine: Ich habe Kinder, die Teenager sind und die zeigen mir Rapsongs, die ich nicht kenne. Die hören Musik ganz anders. Oft fahren wir Auto und mein Sohn macht sein Release Radar an und dann lerne ich neue Sachen kennen, schreibe sie mir auf und spiele sie in der Radiosendung.
MZEE.com: Als letztes Thema noch etwas anderes: Gehören Rap und Politik von Grund auf zusammen?
Marcus Staiger: Nein, nicht zwingend. Kommt immer drauf an, wie weit man das Themenfeld Politik spannt. Ich finde Rap als Seismograph von gesellschaftlichen Stimmungen interessant. Ich glaube, dass in Rapvideos und -songs viel behandelt wird, was in der Gesellschaft wichtig ist. Zum Beispiel Identität, Herkunft und Fremdzuschreibung. Das sind Themen, die immer wieder mitschwingen und viele Menschen beschäftigen. Rap kann ein Soundtrack zu gesellschaftlichen Themen sein. Wenn es eine Barrikade gibt, wird es auch Rapper geben, die dort gepumpt werden. Garantiert. Aber es gibt keinen Rapper, der zur Barrikade aufrufen kann und dann wird es so gemacht. Das funktioniert nicht.
MZEE.com: Findest du, dass deutsche Rapper politisch gesehen öfter Stellung beziehen sollten?
Marcus Staiger: Das würde ich mir tatsächlich wünschen. Und auch, dass sie sich dahingehend bilden. Rapper haben ein gutes Gespür für Ungerechtigkeiten und die Beschreibung von Lebensumständen: "Wir sind perspektivlos, wir sind abgeschrieben, uns gibt keiner eine Chance. Die Gesellschaft will mich nach unten ziehen." – Das wird oft gesagt. Lösungsvorschlag ist dann immer: "Ich habe an mich geglaubt, ich habe mich durchgesetzt und alle anderen plattgemacht." Es wäre schön, wenn da ein Begreifen stattfinden würde: "Es waren auch andere Leute dabei und wir haben das zusammen geschafft. Wir haben uns gegenseitig supportet." Es wäre ein schönerer Lösungsansatz, wenn auch größere Strukturen angesprochen werden würden. Das hat allerdings etwas mit politischem Bewusstsein zu tun und ich sehe nicht, wo das herkommen sollte. Wo sollen Rapper jetzt plötzlich andere Gedanken herkriegen als der Rest der Gesellschaft? Klar kann man die Leute auf so etwas aufmerksam machen und es ansprechen. Aber man kann es ihnen nicht aufoktroyieren. Da müssen sie selber draufkommen … Auch dieses Pendel wird wieder zurückschwingen. Wir haben gerade einen Überhang an Hedonismus, Geld und Gucci, aber die Leute werden irgendwann wieder was Gehaltvolleres hören.
MZEE.com: Aber die Menschen, die diese Musik hören, erreicht das doch gar nicht. Die, denen es nur um Sound geht, sind doch nicht die gleichen, die du mit einem sozialkritischen Album abholen kannst …
Marcus Staiger: Capi hat auch immer wieder vereinzelt sozialkritische Zeilen und das ist etwas, was auf fruchtbaren Boden fällt. Das braucht man nicht überinterpretieren. Aber wenn solche Leute irgendwann auf den Trichter kommen und sich mit den Sachen beschäftigen, kann das etwas bewirken. Das muss natürlich aus ihnen selber herauskommen – und dann hat das auch einen Impact. Beeinflussung passiert immer auf subtile Art und Weise. Wer hätte gedacht, dass so ein Typ mit blauen Haaren, der Cover-Mashup-Versionen im Internet postet, plötzlich den Rant des Jahrhunderts absetzt? Keine Ahnung, wie viele Menschen seiner Followerschaft diese Message geil gefunden haben. Aber wie willst du das messen?
MZEE.com: Zum Abschluss würden wir dir gerne noch eine Grundsatzfrage stellen. Wenn man politisch ist und sich ansieht, was in der Welt so abgeht und mit was man sich beschäftigen und etwas Positives oder Nachhaltiges bewegen könnte: Inwiefern macht es dann überhaupt Sinn, im deutschen Rapjournalismus tätig zu sein?
Marcus Staiger: (überlegt) Für mich ist Rap die Chance, einen Diskurs zu führen. Dadurch, dass im Rap so viel ausgesprochen wird, was normalerweise nicht ausgesprochen wird, besteht die Chance, sich darüber zu unterhalten und auszutauschen. Deswegen finde ich Rap nicht das schlechteste Tool, um immer wieder einen gesellschaftspolitischen Gesamtzusammenhang herzustellen. Aber es reicht nicht aus. Politisches Engagement ist etwas anderes. Das hat viel mit Organisation zu tun. Alleine ist das schwierig. Um zu mir zu kommen: Ich glaube, dass ich an einem Punkt bin, an dem ich das politische Engagement so transformieren muss, dass mir meine Erfahrung mit Rap und diesem Journalismus viel helfen wird. Aber so, dass es trotzdem auf einer gesellschaftlichen Ebene mit mehr Einfluss passiert. Die kulturelle und die politische Ebene werden auf komplett unterschiedliche Weise behandelt. Du kannst im Feuilleton sehr viel mehr sagen, sehr viel radikalere Vorstellungen und Visionen präsentieren als im Wirtschaftsteil. Das ist interessant zu beobachten. Wenn man Politik machen möchte, ist die Kultur ein Beiwerk und kann ein Vehikel sein. Kann auch der Anlass sein, sich darüber auszutauschen. Aber das wird die Politik nicht verändern und politische Arbeit nicht ersetzen. Genauso, wie man es einzelnen Protagonisten nicht abnehmen kann, sich politisch zu bilden.
(Florence Bader und Laila Drewes)
(Fotos von Kai Heimberg)