"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Freitagabend. Ich bin mit Freunden unterwegs, wir sitzen in einer Bar. Über die Boxen läuft irgendein Hit von RAF Camora und Bonez MC von ihrem neuesten gemeinsamen Album. Das ist doch dieser Rapper, den ich so oft höre und genau meine Musik, sagen meine Freunde. Ich erkläre, dass ich mit "Palmen aus Plastik 2" nicht so viel anfangen kann. Anschließend werde ich darum gebeten, bei Gelegenheit einen Link zu einem Song zu schicken, der mir besser gefällt. Ich weiß sofort, welchen.
Musik ist für mich etwas sehr Persönliches. Gerade bei Künstlern, die sich überwiegend unnahbar darstellen, finde ich den Zugang dort, wo ich einen Einblick in den Menschen dahinter bekomme. Fragt man mich daher nach dem einen, dem wichtigsten RAF Camora-Song, so lautet meine Antwort "Schwarzer Rabe" mit Sprachtot. Auf diesem Track, der auf dem Mixtape "Therapie nach dem Album" von 2010 erschienen ist, taucht auch zum ersten Mal das Bild des Raben auf – ein Motiv, das sich seitdem wie ein roter Faden durch RAFs Diskografie zieht. Der Künstler schildert einen Selbstmordversuch, den er aus Frust über ausbleibenden Erfolg unternimmt, der jedoch an einer Ladehemmung der Pistole scheitert. Stattdessen begegnet ihm ein sprechender Rabe, der dem Künstler den ersehnten Ruhm im Tausch gegen seine Seele anbietet. RAF wägt also ab und sieht unterschiedliche Bilder vor sich. Auf der einen Seite das Geld, die ausverkauften Hallen und das Leben, das er sich erträumt. Auf der anderen Seite Einsamkeit, seine alternde Mutter und seine entfremdete Frau. Er wendet sich wieder der Waffe zu, man hört einen Schuss, der Song endet. Ich habe Gänsehaut.
Wenn man die Karriere von RAF Camora verfolgt hat, weiß man, dass diese inzwischen von großen Erfolgen geprägt ist. Die Bilder auf der ruhmreichen Seite sind alle zur Realität geworden. Wer RAF für seine Musik seit "Palmen aus Plastik" schätzt, muss jedoch wissen, dass in diesen Palmen ein "Schwarzer Rabe" sitzt. Denn auch die Schattenseiten haben RAFs Musik geprägt und machen diese für mich erst vollständig.
(Michael Collins)