Der Deutschrapzirkus ist ein umtriebiger Schauplatz. Zwischen all den Promophasen und Albumveröffentlichungen kann man schon einmal den Blick fürs Detail verlieren. Deshalb stellen wir jeden Monat an dieser Stelle die kleinen, feinen Highlights vor, die abseits des Album-Korsetts Beachtung verdienen. In den Kategorien Statement, Video, Song, Instrumental und Line präsentieren unsere Redakteure handverlesene Schmuckstücke. Egal, ob nun ein besonders persönlicher Bezug, eine wichtige Message oder ein rundes musikalisches Gesamtpaket den Anlass bieten. Hier wird ein tiefer Einblick in einzelne Facetten der Rapwelt geboten. Fünf Höhepunkte – klatscht in die Hände für unsere "High Five"!
Statement: KUMMER
KUMMER kennt man als Teil von Kraftklub. Mit seinem Song "9010" ist er nun solo unterwegs und hat nicht nur einen Track releast, sondern vielmehr ein überaus starkes Statement abgegeben. Der Titel "9010" ist die alte Postleitzahl seiner Heimat Chemnitz. In dem Song thematisiert er den Nationalsozialismus, der in der Stadt ein ernstes Problem darstellt. Er erzählt, wie er schon zu Jugendzeiten vor den Nazis wegrennen musste, da er und seine Freunde als Linksorientierte zum Feindbild dieser zählten. Am Beispiel von einem in die Jahre gekommenen Nationalsozialisten beschreibt er, wie die anfängliche Angst vor ihm wich und wie bemitleidenswert und erbärmlich er heutzutage ist. Der Song vermittelt, dass wir uns immer wieder gegen diese politische Denkweise stellen und uns vor Augen führen müssen, dass dahinter keine Stärke steckt. Sondern es sich vielmehr um schwache, bemitleidenswerte Menschen handelt, die den absolut falschen Weg eingeschlagen haben und für deren Gesinnung wir keinerlei Verständnis aufbringen sollten – aber diese auch niemals relativieren dürfen.
Video: Haiyti – Coco Chanel
Protzige Musikvideos gehören zum deutschen Rap wie Disstracks und Interviews in Spielfilmlänge. Haiyti allerdings hat das großkotzige Angebertum mit ihrem neuen Clip zu "Coco Chanel" eben mal gekonnt durchgespielt. Was sie tut, hat man schon tausendmal gesehen: über ihre schier endlose Kohle rappen und dabei Designerklamotten präsentieren. Viel interessanter ist aber, wo sie das tut: in einer spanischen Finka nämlich. Und zwar genau in jener Villa, in der das berühmte "Ibiza-Video" um Heinz-Christian Strache entstand – inklusive Originalrequisiten wie Wodkaflasche, Red Bull-Dosen und Glastisch. Der Ort, an dem Strache die österreichische Demokratie zum Ausverkauf feilbot, gibt den Lines von Haiyti eine völlig neue Ebene: "Mache das nur für das Money." Die Grenzen zwischen Prollrap und politischem Statement verwischen hier auf großartige Weise. Inszeniert wurde das Video von Künstler Paul Spengemann und dem Filmemacher Steffen Goldkamp. Die berüchtigte Villa fanden die Macher übrigens ganz einfach über Booking.com – und der Sektkübel aus dem Strache-Video war auch noch im Schrank.
Song: CONNY – Temporär für immer
Ein deutscher Rapsong ist wie ein Gericht und der Interpret ist der Koch, der seine Zutaten bedacht dosieren muss. Eine Prise Pathos und Kitsch zu viel und es schmeckt nicht mehr. Doch dann gibt es Köche, die mit manchen Zutaten eben besonders gut umgehen können. Und so gelingt es CONNY, mit "Temporär für immer" einen Song über eine Beziehung zu schreiben, der an jeder Stelle mit Kitsch überladen, aber dennoch angenehm zu hören ist. Einzeln betrachtet wirken Zeilen wie "Wenn du fliegen willst, ist klar, dass du auch Federn lassen musst" und "Ich setze alles auf die Farbe deines Lippenstifts" zunächst so, als würden sie sich gegenseitig an ebenjenem übertreffen wollen. Doch im Ganzen verfliegt dieser Eindruck sofort. Es ist das Zusammenspiel der Stimme und Erzählweise von CONNY, das es wieder natürlich und nicht aufgesetzt wirken lässt. Kitsch muss nicht immer schlecht sein, solange man ihn überzeugend verpackt und nicht erzwingt. Und in dieser Kunst ist CONNY ein Meister.
Instrumental: Thelonious Coltrane – Just Like Me
Der Juni war mal wieder voll mit guten Instrumentals. Flo Filz, Retrogott, das Suff Daddy-Instrumental für Mädness … Aber viel zu wenig Aufmerksamkeit bekam Thelonious Coltrane mit seinem neuen Instrumental-Release "Watch Out!". 15 feinste, jazzige Beats – for free. Ein besonderes Schmuckstück der Platte ist "Just Like Me". Mit sanfter Stimme eingeleitet, geht der Beat in entspannte Saxophon-Klänge über, um dann im Freddie Gibbs-Sample "I said you motherfuckers just like me" zu gipfeln. Ab da werden die jazzigen Grundtöne abwechselnd mit Orgel, Saxophon oder ebenjenem Voice-Sample ergänzt. Wenn das mal nicht gute Laune versprüht! Wie beim Rest des Albums kann Thelonious Coltrane auch hiernach zurecht von sich selbst behaupten: "You motherfuckers just like me."
Line: Die Orsons – Dear Mozart
Doch Antares wie diesen sind schwere Zeiten für Kunst.
Man braucht Algorithmus im Blut.
Die Karriere in der Musikbranche muss heutzutage keinem Charakterkopf mehr verwehrt bleiben. Es bedarf eigentlich nicht einmal einer Menge Taktgefühl, denn die technischen Möglichkeiten sind unbegrenzt. Auch im Rap sind Autotune und Verzerrungen der Usus jedes Charthits – doch ist das eigentlich noch echte Musik? Wie würden die Beethovens und Haydns der Welt wohl über die heutige Kultur urteilen? Eine Frage, bei der sich auch Die Orsons auf "Dear Mozart" nicht einig werden. Tua scheint der Überzeugung, dass Mozart von HipHop nicht abgeneigt wäre und beschreibt indes die aktuellen Szene-Erscheinungen mit nur zwei kleinen Zeilen so passend wie selten: Neben seiner Anspielung auf "An Tagen wie diesen" in Verbindung mit dem Autotune-Programm "Antares" dürfte sich vor allem Klickkauf-Kai mit der zweiten Zeile identifizieren können. Kunst muss sich für Erfolg dem Spotify-Algorithmus beugen – und wer den hierzulande im Blut hat, kann man jeden Freitag bei der Chart-Verkündung bestaunen. Für uns könnte man diese Entwicklung kaum prägnanter zusammenfassen – und so dürfen Die Orsons vielleicht nicht Platz 1 der Charts, aber immerhin unsere Kürung zur Line des Monats feiern.
(Dzermana Schönhaber, Florian Peking, Michael Collins, Lukas Päckert, Sven Aumiller)
(Grafik von Puffy Punchlines)