Der Deutschrapzirkus ist ein umtriebiger Schauplatz. Zwischen all den Promophasen und Albumveröffentlichungen kann man schon einmal den Blick fürs Detail verlieren. Deshalb stellen wir jeden Monat an dieser Stelle die kleinen, feinen Highlights vor, die abseits des Album-Korsetts Beachtung verdienen. In den Kategorien Statement, Video, Song, Instrumental und Line präsentieren unsere Redakteure handverlesene Schmuckstücke. Egal, ob nun ein besonders persönlicher Bezug, eine wichtige Message oder ein rundes musikalisches Gesamtpaket den Anlass bieten. Hier wird ein tiefer Einblick in einzelne Facetten der Rapwelt geboten. Fünf Höhepunkte – klatscht in die Hände für unsere "High Five"!
Statement: Juse Ju
Wann ist ein Mann ein Mann? Nachdem uns Herbert Grönemeyer bereits vor 35 Jahren zum Nachdenken angeregt hat, beschäftigt sich nun auch Juse Ju auf seiner Single "Männer" mit der Frage nach den grundlegenden Eigenschaften des vermeintlich stärkeren Geschlechts. Und das ist nach wie vor – gerade auch in der oftmals sexistischen HipHop-Szene – mehr als notwendig. Denn auch im Jahr 2019 ist das Männlichkeitsbild der meisten noch dermaßen starr und einseitig, dass "ganz oben auf dem Pavianfelsen" zu sitzen für viele ein legitimes Lebensziel zu sein scheint. Juses pointiert-bissige Persiflage auf das stereotypische (Selbst-)Bild besonders männlicher Herren verdeutlicht dabei wunderbar, wie veraltet, kindisch und zuweilen toxisch dieses auf sie selbst, ihre Mitmenschen und die Gesamtgesellschaft wirken kann. Zwischen Stammtisch-Meinungsmachern, "Hurensohn"-rufenden Ehrenmännern und solchen mit Madonna-Huren-Komplex bekommen dabei all diejenigen ihr Fett weg, die ihre gesellschaftliche Konditionierung mal gründlich überdenken sollten.
Video: eRRdeKa – Silikon
Der aus der Nähe von Augsburg stammende eRRdeKa machte zwischen 2014 und 2018 vor allem als Signing von Prinz Pi auf sich aufmerksam, baut inzwischen allerdings sein eigenes Label Eyeslow auf. Nach zwei Alben im letzten Jahr veröffentlichte er mit "Silikon" einen Vorboten auf die inzwischen erschienene "28"-EP. Im Song prangert der Künstler an, dass viele Raphörer nach möglichst viel Protz und Prunk in der Musik und deren Verfilmung suchen, um einen Kontrast zu ihrem eigenen, unbefriedigenden Leben herzustellen. Das zugehörige Video von Felix Baptist könnte dies nicht besser unterstreichen. Statt sich vor den nächsten Plattenbau zu stellen, den wir noch nicht gesehen haben, in einem Club die größte Party zu feiern oder sich das teuerste Auto zu mieten, sehen wir lediglich den Rapper vor weißem Hintergrund performen. So kann man sich drei Minuten lang einfach auf den Song und die Message konzentrieren. Und letztere ist in Zeiten, in denen sich manche Künstler mit den Rechnungen für Videodrehs gegenseitig zu überbieten versuchen, besonders wichtig.
Song: Afrob – Stadtmensch
Landflucht ist ein allgegenwärtiges Thema in Deutschland – und eigentlich nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Der großstädtische Lebensstil ist vor allem für die Jüngeren deutlich verlockender. So erging es auch einst Robbe, der das ruhige und idyllische Landleben bei Mutti gegen ein schnelleres, facettenreicheres Dasein eintauschte. Nun blickt er in seinem neuen Track "Stadtmensch" zurück und kann die Gegensätze mit etwas Abstand betrachten. Der Beat kommt von Buzztee und besticht durch seinen melodischen Charakter, erinnert in Verbindung mit dem Rapper sogar ein wenig an "Hey du" – einen Track von ASD aus den frühen 2000ern. Die ausgewogene Bassline und die dominanten Claps passen daher perfekt zu seinem eher ruhigen Flow. Untermalt wird das Ganze phasenweise von Larissa Kerner, die mit ihrer Stimme den Song perfekt abrundet. In "Stadtmensch" präsentiert sich Afrob wie gewohnt offen und thematisiert gekonnt ein für die Gesellschaft wichtiges Problem. Kurz: ein rundum gelungener Song.
Instrumental: Nura – Sativa (prod. by Sam Salam)
Es ist immer wieder schön, einen Song einzuschalten, dessen Vibe ebenjenem Gefühl entspricht, welches der Titel bereits hervorruft. Genau das dürfte wohl für viele beim Sam Salam-Instrumental zu Nuras Single "Sativa" der Fall sein. Mit den ruhigen Melodien und tiefen, tragenden Bässen ist die Instrumentierung extrem passend zum Thema. Die Drums, die zwar ohne Frage nicht besonders langsam sind, wirken jedoch keineswegs unruhig oder hektisch und brechen so nicht mit dem entspannten Vibe. Dadurch entsteht ein Sound, der – wie der Titel verspricht – eine durchaus relaxende Wirkung hat. In Verbindung mit Nuras klanglich wie auch inhaltlich der Thematik entsprechenden Parts und der Hook besteht der gesamte Track so aus einem harmonischen Zusammenspiel aller Beteiligten. Sam Salam scheint es geschafft zu haben, die optimale Grundlage zu den Gedanken der Künstlerin zu schaffen. Dieser Song wird die meisten Hörer mit exakt dem Gefühl zurücklassen, welches Nura hier beabsichtigt hat. Der wohl perfekte Beat für diesen Track.
Line: Tua – Vater
Fromme Worte füllen keinen Platz, der leer ist.
Mit "Ohne Titel" schrieb Tua 2009 den wohl ehrlichsten und härtesten Song, den ich je gehört habe. Die Worte, mit denen er die Abtreibung seiner Freundin beschreibt. Die Konsequenzen, die er für sich selbst zieht. Die Stringenz, mit der er über sich selbst urteilt. All das bündelt er in einer unglaublichen Ehrlichkeit, vor der sich der Wahlberliner auch heute nicht scheut: Mit "Vater" verarbeitet er den Tod seines Papas und schreibt ihm seine letzten großen Zeilen. Dass auch Religion ihn in diesen schweren Zeiten nicht rettet, genauso wenig wie ärztliche Fehldiagnosen und das Ablenken mit Literatur über Sterbephasen und Transhumanisten, bündelt er dabei geschickt in einem vier Minuten langen Song. Dieser ist so vollgestopft mit Inhalt, dass er kaum einen Beat außer dem Geräusch eines Beatmungsgeräts braucht. Die reine Wucht unserer Zeile des Monats spricht für sich selbst.
(Steffen Bauer, Michael Collins, Jan Menger, Steffen Uphoff, Sven Aumiller)
(Grafik von Puffy Punchlines)