Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
2014: Haftbefehl – Russisch Roulette
Koksdealer seit Knopfhosen von Adidas.
Jetzt wird's haram, Dadash, gib ihnen den Klassiker.
Dass Haftbefehl die Fähigkeit besitzt, Musik zu veröffentlichen, die sämtliche Grenzen sprengt, war schon nach dem Release von seinem Song "Chabos wissen wer der Babo ist" klar. Nachdem sich selbst biedere Politiker seines Slogans annahmen, wusste man, dass dieser Künstler das Zeug dazu hat, etwas Großes zu erschaffen. Als Ende 2014 dann "Russisch Roulette" auf den Markt kam, wurde diese Erwartung nicht nur bestätigt, sondern weit übertroffen.
Bei "Russisch Roulette" handelt es sich nicht nur um das beste Release aus ebenjenem Jahr, sondern vermutlich um eines der besten Alben der jüngeren, wenn nicht ganzen Rapgeschichte dieses Landes. Denn die Art und Weise, wie Haftbefehl hier Geschichten erzählt, ist beeindruckend. Die Bilder, die der Rapper verbal zeichnet, drängen sich sofort in den Kopf des Hörers und lassen die Welt des Protagonisten sehr nah wirken, so weit sie doch eigentlich entfernt sein mag. Dies schafft er nicht nur auf Bangern wie dem Opener "Ihr Hurensöhne", sondern besonders auf Songs wie "Azzlackz sterben jung 2". Hier entfaltet sich das ganze Talent von Haftbefehl als Storyteller. Dass all diese Lieder mit einer einzigartigen Wortwahl und einem unnachahmlichen Flow vorgetragen werden, macht dieses Album einfach großartig. Doch so fesselnd die Geschichten des Rappers sind, so gut sind sie auch musikalisch untermalt. Denn die Arbeit von Bazzazian als hauptverantwortlicher Produzent darf hier nicht unerwähnt bleiben. Jeder Beat auf "Russisch Roulette" bietet dem Rapper genügend Platz, um sich darauf zu entfalten, aber hat noch genug eigenes Leben, sodass er auch für sich stehen könnte. Die Akzente werden zu jeder Sekunde richtig gesetzt und sind unglaublich facettenreich.
"Russisch Roulette" war nichts anderes als ein Gamechanger im deutschen Rap und ist nicht umsonst eingeschlagen wie eine Bombe. Und dass es zu der Zeit genügend Leute gab, die versuchten, Haftbefehl jegliches Talent abzusprechen, zeugt nur davon, wie fantastisch dieses Album ist. Denn die besten Dinge lösen auch die größten Gegenreaktionen aus …
(Sam Levin)
(Grafik von Daniel Fersch)