Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
2011: Casper – XOXO
Lieber anti alles. Für jetzt und immer.
Als "XOXO" veröffentlicht wurde, war ich 15 Jahre alt. Deutschrap befand sich im Wandel, ich mich in einer rebellischen Phase. Sowohl für die Szene als auch für mich kam das Album genau zur richtigen Zeit. Casper brachte den entscheidenden Stein ins Rollen und bereicherte die Szene mit einem breiten musikalischen Horizont, welchen er seit "XOXO" in seinen Sound einfließen lässt.
Da ist es: das Album, auf das sich plötzlich alle einigen können. Eindringlich und mitreißend wird mit "Der Druck steigt" das Release eröffnet und gleichzeitig die neue musikalische Richtung des Bielefelders vorgegeben. Das Klangbild steuert die Stimmung über die gesamte Laufzeit. Eine "Balance zwischen Nehmen und Geben", zwischen Stille und Wut, Aufruhe und Gefallensein, druckvoll getaktet durch Drums und mit lauten Gitarrenriffs. Zudem ist es eine Hommage an Benjamin Griffeys musikalischen Background wie The Smiths und Tocotronic und spielt durch die Untermalung von 808s auf Südstaaten-Rap an. Vom technischen Anspruch her ist es eine Rap-Platte, musikalisch eher weit entfernt davon – doch dieser Gegensatz wird zusammengehalten durch die markante, raue Stimme des Protagonisten. In der Essenz bleibt es Rap, schließlich ist "XOXO" alles andere als Regelwerk und durchbricht endgültig eine Art Stagnation. Casper lässt in seine Seele schauen – aber nicht durch typische Selbstdarstellung, eher durch Selbstoffenbarung in flimmernden Bildern, um damit auch thematisch einen roten Faden zu malen. Auf Revolution und Aufbruch folgen Weltflucht und Resignation, Zerstörung und Wiederaufbau, die "bittersüße Melancholie" abgerundet mit "Kontrolle/Schlaf".
Casper gelingt es, mit einem Album die Sehnsucht und die damit verbundene Zerrissenheit der "Generation 'Gott ist tot'" einzufangen. "XOXO" lässt sich in keine Schublade einordnen: Es hat eine eigene Sprache, einen eigenen Sound. Jedem Ton hört man an, dass Casper hier genau die Platte gemacht hat, die er machen wollte, und prägte damit Deutschrap nachhaltig. Zudem wird es auf ewig eines meiner Lieblingsalben bleiben, da es der Anstoß für meine Leidenschaft zu Rap war.
(Anna Eberding)
(Grafik von Daniel Fersch)