Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
2009: Tua – Grau
Wenn du kein' Sonnenschein siehst, wirst du depressiv.
Streck die Hand aus, spür den Regen fließen.
2009 stand deutscher Rap kurz vor einem Neubeginn. Über Jahre hinweg litt die Szene unter einem Mangel an Eigenständigkeit und innovativen Ideen. In dieser Zeit war Tuas zweites Soloalbum für viele eine Offenbarung. Denn das Reutlinger Multitalent brach auf "Grau" mit etlichen Szene-Konventionen und schuf ein düsteres Werk, das für viele bis heute als Meilenstein gilt.
Von der Musik über die Videos bis hin zum Artwork ist der Name des Albums Programm. Tuas einzigartiger Stil kommt dabei sowohl auf inhaltlicher als auch auf musikalischer Ebene zum Tragen. Hier gehen auf den meisten Tracks autarke, elektronische Produktionen eine Symbiose mit Lyrics ein, welche zwischen Melancholie, Trauer und Reue vielerlei Gefühle und emotionale Zwischentöne abdecken, die jenseits von guter Laune und Ausgeglichenheit möglich sind. Wenn das Orsons-Mitglied auf "Für immer" beispielsweise mit schonungsloser Ehrlichkeit und voller Scham davon berichtet, als Jugendlicher ein aus schwierigen Verhältnissen stammendes Mädchen gemobbt und einen geistig behinderten Jungen beklaut zu haben, dann spürt man die Wahrhaftigkeit der transportierten Gefühle in jeder einzelnen Silbe. Um ein ebenso ergreifendes Storytelling handelt es sich bei "Ohne Titel", auf dem Tua die Geschichte einer Abtreibung dermaßen detailliert beschreibt, dass man die damit verbundenen emotionalen Schmerzen förmlich selbst zu spüren beginnt. Ein besonderes Highlight ist zudem das energetische "MDMA". Die Abkürzung steht dabei für die Frage "Magst du mich auch?", die der Rapper und Sänger wahlweise an eine Frau oder die gleichnamige, ihn vereinnahmende chemische Droge stellt.
Auch neun Jahre nach Erscheinen von "Grau" ist Tua noch immer Kritikerliebling und ein absoluter Ausnahmekünstler, der fernab jeglicher Trends sein ganz eigens Ding macht – wenn auch leider mit recht geringem Output als Solo-Künstler. Doch dieses großartige Album wird immer einen besonderen Platz in der Geschichte deutschsprachigen Raps haben.
(Steffen Bauer)
(Grafik von Daniel Fersch)