Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
1996: Massive Töne – Kopfnicker
Ich will aus der Dunkelheit ins Tageslicht.
Betrachtet man diese Platte nüchtern, ist sie ein Geniestreich in zwölf Akten. Betrachtet man sie emotional, ist sie Spiegel einer Generation und Szene. Ein Spiegel, in den man wie in einem Fantasyfilm hineinblicken und entweder klar und deutlich das eigene Ich oder als unsichtbarer Dritter das Leben der anderen sehen kann.
Trotzdem verliert sich "Kopfnicker" leider neben den "Bambules" der Deutschrap-Geschichte. Woran das liegt, bleibt ein Rätsel. Denn das, was die Massiven Töne vor 22 Jahren veröffentlichten, gab es damals so noch nicht. Ja, es gab 1992 "Fremd im eigenen Land". Doch in genau diesen vier Jahren danach sind in Stuttgart Style und Gefühl für textliche Tiefe, Werte, Flow und vor allem atmosphärische Beats und Scratches herangewachsen. Nadel drauf und der Albumtitel ist Programm: Kopfnicken. Zunächst musikalisch, dann auch inhaltlich. Denn wenn Wasi in "Nichtsnutz" über sein Leben zwischen der Liebe zu HipHop und dem Ausbildungsverdruss rappt, wird zustimmend mit dem Kopf genickt. Das war emotionaler Realtalk, bevor es Realtalk gab. Dazu Tracks für die Crew, die Stadt, ohne Blödelei, ohne viel Politik, ohne oberflächliche Battlezeilen, frei von Sexismus und Protzerei. Was da noch bleibt? Gefühl. Wasi bricht die Ausbildung ab und löst den Bausparvertrag für neues Equipment auf. Heute würde man sagen: "All in." Gestern hieß es noch: "Der Kerl spinnt doch!" Denn wer im Süden Deutschlands an einem Samstag lieber Beats und Texte baut, anstatt den Gehweg zu kehren, der ist gesellschaftlich verloren. Das schwarze, Schande über die Familie bringende Schaf der Hood. So und nicht anders waren die Daumenschrauben des süddeutschen Spießertums einst zu bewerten.
Die Adoleszenz im Nacken, die Liebe zum Game in den Augen. Kopfnicker war Aufbruch. Besinnliche Weihnachtszeit ist jedes Mal, wenn ich dieses Album höre, denn es gibt kaum bessere Geschenke, die ich mir machen kann.
(Micha Walken)
(Grafik von Daniel Fersch)