"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Kanye Wests Musik polarisiert. Zwar nicht annähernd so sehr wie die Person dahinter, dennoch bewerten Musikliebhaber auf der ganzen Welt einige seiner Alben völlig unterschiedlich. "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" gehört jedoch nicht dazu. Bezüglich des Werks aus dem Jahr 2010 herrscht der Konsens, es handele sich um sein Opus Magnum.
Ich könnte hier nun etliche Situationen aus meiner Erinnerung ausgraben, mit denen ich das Album verbinde – etwa einen Moment der völligen Euphorie, den ich am Tag nach dem Release mit Kopfhörern im Ohr am Saarbrücker Bahnhof erlebt habe. Das könnte meine Liebe für dieses Release jedoch nicht annähernd so gut ausdrücken wie eine Beschreibung der musikalischen Großartigkeit, die sich auf "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" wiederfindet. Ich kenne kein Album, das mir ein ähnlich überwältigendes Gefühl von Größe gibt. Ein solches wird beispielsweise durch den hymnischen Opener "Dark Fantasy", das epische "Power" oder "All of the Lights" ausgelöst. Letztgenannter Track fährt ein Allstar-Lineup auf, wie es beeindruckender nicht sein könnte. Dieses reicht unter anderem von Kanyes üblichen Kollaborateuren Kid Cudi und John Legend über La Roux, Rihanna, Alicia Keys, Fergie, Drake und The-Dream bis hin zu Elton John. Tracks wie "Runaway", "Blame Game" oder "Lost in the World" übertragen hingegen eine überbordernde Emotionalität, die mich zutiefst berührt. Und was Kanye auf der zweiten Hälfte von "Runaway" durch den Einsatz eines verzerrenden Effekts mit seiner Stimme anstellt, ist in seiner sich steigernden Intensität und Schönheit bis heute unerreicht. Dabei handelt es sich jedoch nur um ein Highlight von vielen.
Nichts fiele mir leichter, als hier weiterhin Höhepunkte aus "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" aufzuzählen. Das würde jedoch den Rahmen sprengen. So bleibt mir nichts weiter übrig, als abschließend noch einmal die schiere Brillanz und Zeitlosigkeit von Kanyes wohl bestem Album zu betonen. Mehr brauche ich eigentlich auch nicht mehr hinzuzufügen.
(Steffen Bauer)