Eine typische Hamburger Altbauküche. Optimal genutzte zehn Quadratmeter in nüchtern weiß-blauer Eimsbütteler Keramik. Ein kleiner Küchentisch unter einem Haufen ungeöffneter Post. Davor der soeben eingetroffene, leicht entnervte Adressat: Falk Schacht. Während der mittlerweile in Hamburg lebende Hannoveraner einen Brief nach dem anderen öffnet, riecht er an seinem Hemdkragen und nickt. Der Kragen steht, die seitengescheitelte Frisur in straßenköterblond sitzt. Die glatte, helle Haut komprimiert 43 Lebensjahre auf optisch gesunde 30. Wer bis hierhin wirken könnte wie ein gut situierter Versicherungskaufmann nach Feierabend, ist in Wirklichkeit einer der Dienstältesten unter den einflussreichsten Mediengestalten des deutschen Rap. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat er gesund gelebt – kein Alkohol, keine Drogen. Er ist sich seiner spätjugendlichen Erscheinung bewusst und weiß, dass sein Name ein Begriff sein sollte – jedem, der sich näher mit der Materie Rapdeutschland beschäftigt.
Der Mann, der internationale Größen wie 50 Cent, Jay-Z oder Eminem interviewt hat und sowohl Ur-Backpackern als auch den Twitter-Kids von heute die Stirn bietet, wenn es um HipHop-Wissen geht, gilt als umstrittenster Musikjournalist der Szene. Ab 2001 irritiert der sogenannte "Raprichter" bei dem Musiksender VIVA sowohl Künstler als auch Publikum mit unverblümten Fragen. Als Rapper und Produzent praktiziert er damals unter dem Pseudonym "Hawkeye" sogar selbst. Seitdem hat er für renommierte deutsche Musikmagazine geschrieben und sich so einen Namen als "wandelndes Raplexikon" gemacht. Auch heute noch organisiert er Parties und legt auf, konzentriert sich mittlerweile allerdings auf seine Funktion als Autor und Moderator wie beispielsweise im Rahmen seiner Radiosendung "Die Falk Schacht Show" beim Bayerischen Rundfunk oder als Lehrbeauftragter an der Universität Lüneburg.
"Sparkassen Hurenkinder!" – der zuletzt geöffnete Brief landet in der Ecke und der Fluch der Hamburger Spießer-Karibik scheint vorerst gebrochen. Die Umschläge werden zu einem sogenannten "Blickwinkelkonzentrator" umfunktioniert. Autist ist Falk Schacht nach eigener Aussage nicht. Seit Neuestem aber "Hundefutteraffineur", eine linguistisch leicht nachvollziehbare Ableitung menschlich kultureller Triebe in die "Animal-Friendzone". Zuletzt hat er einen Hundekuchen für eine blinde Hündin gebacken: zwei Kilo Mett, eine Tiefkühl-Spätzlepfanne und einen Apfel fressgerecht in einer Kuchenform zerdrückt gebacken, mit Joghurt und formschönen Hundeleckerlies dekoriert. Falk Schacht bringt sehr viel Begeisterung für seine Ideen und Konstruktionen auf und ist nach eigener Aussage durchaus empfänglich für jede Äußerung von Bewunderung durch sein Gegenüber. Jetzt scheint er abgelenkt – plötzlich geht es um Angela Merkel in Doc Martens und Fragen stehen im Raum: Wo ist der verdammte HipHop? Und was zur Hölle hat Falk Schacht in ihm verloren?
Nach wenigen Minuten omnipotenten Unterhaltungstohuwabohus nimmt schließlich ein Experte dieser Kultur in der Hamburger Altbauküche Platz und erzählt. Aufgewachsen in Hannover in den 70ern bis 90ern – der Zeit, in der die Subkultur HipHop in den abgeschotteten Vierteln der New Yorker Bronx entstand und sich entwickelte, bis sie kommerziell populär wurde. Und in der Falk Schacht mit dem neuen Phänomen in Kontakt kommt. Zu Hause bei seiner Mutter läuft damals nur "schwarze Musik": Funk, Soul, Jazz, Disco. 1980 bekommt er als Fünfjähriger den Erfolg des ersten weltweit vermarkteten Rap-Releases "Rapper's Delight" der Sugarhill Gang mit und wird mit der Breakdancewelle 1983 endgültig vom aufkommenden HipHop-Vibe gepackt. Als diese Welle zwei Jahre später wieder abebbt, bleibt er dabei. "Diese Kultur war einfach zu spannend und aufregend und ich wollte mehr über sie lernen und wissen." Genau das macht Falk Schacht auch. Obwohl es schwierig ist, in der "Provinzhauptstadt" Hannover – damals noch ohne Internet – sein Interesse zu stillen, lässt ihn HipHop nie wieder los, sondern soll ihn zukünftig auch beruflich begleiten. Als Journalist.
"Ich war schon immer extrem neugierig und hartnäckig. Wenn ich was wissen will, recherchiere ich so lange, bis ich es weiß. Es gibt Dinge, die ich seit 25 Jahren wissen will und nach denen ich immer mal wieder recherchiere. Aus der Neugierde heraus bin ich ziemlich gut darin, Menschen auszufragen. Das – gekoppelt mit dem damals sehr schlechten Journalismus über HipHop, was sich leider bis heute nur bedingt verbessert hat – brachte mich dazu, zu sagen: Ich kann das besser als die anderen Journalisten."
1994 ruft er beim Intro Magazin an und sagt, er wolle für sie über HipHop schreiben und sie lassen ihn. Ab 1997 kommt ein wöchentlich zweistündiges Programm bei einem lokalen Radiosender hinzu; die nächsten sieben Jahre moderiert er dort. Ohne Bezahlung. "Weil es mir persönlich wichtig war." Erst 2001 bei VIVA wird Falk Schacht für seine Fähigkeiten und sein gesammeltes Wissen entlohnt. Zunächst bei VIVA Zwei als Redakteur und Moderator der Sendung "Supreme", dann ab 2002 als Redakteur und Moderator von "Mixery Raw Deluxe" auf VIVA. Ab 2005 sogar als Produzent des Formats ohne VIVA. Er bringt das Videoformat ins Internet und gehört somit obendrein noch zu den Pionieren des Internetfernsehens. Seine Interviews sind intensiv, seine Fragen genau und beharrlich. Nicht selten scheint sein Gegenüber irritiert zu sein. Dabei bleibt Falk Schacht stets eloquent, zurückhaltend und seriös. Im Laufe der nächsten Zeit nehmen immer mehr namhafte Musikmagazine wie die JUICE, Sender wie KIKA, Organisationen wie das Goethe-Institut und sogar das Bundeszentrum für politische Bildung sein Wissen und seine Fähigkeiten als Autor und Moderator in Anspruch. 2015 bekommt er sogar einen Lehrauftrag an der Leuphana Universität in Lüneburg. Dabei hat er selber nie studiert, sondern nach der Maxime "learning by doing: immer alles nur ausprobiert". Mit Erfolg. Falk Schacht wird zu einer Art kommunikativem HipHop-(Sub-)Kulturwissenschaftler, zum seriösen Vertreter einer Kultur, deren Ursprung fern seriöser Beachtung im kulturell Ausgegrenzten zu finden ist.
Der vermeintliche Konflikt scheint aufzufallen: "HipHop sei keine Wissenschaft", schreibt der Rapper Prezident. Mit seiner mittelständischen Herkunft, seiner durchaus eloquenten Beharrlichkeit mit arrogant-besserwisserischer Wirkung passe Falk Schacht nicht in das Image eines HipHoppers. Auf Internetplattformen wie Twitter wird er von Usern oft als "pseudo" oder nicht "real" genug bezeichnet. Der ehemalige Aggro Berlin-Rapper Fler wirft ihm Anfang der 2000er vor, HipHop, insbesondere Gangsterrap, nicht verstanden zu haben. Erst letztes Jahr in einem Interview mit dem Backspin Magazin revidierte er seine damalige Meinung. Falk Schacht hatte dazu in einem Facebook-Statement Stellung genommen: "Das stimmt in soweit, dass ich tatsächlich um 2003, 2004 herum ein Problem mit Gangsterrap hatte. Für mich hat Aggro Berlin damals HipHop getötet. Ich wollte aufhören und nichts mehr mit dieser Szene zu tun haben. Ich habe mich dann hingesetzt und habe nachgedacht und brauchte circa ein Jahr und länger, um zu begreifen, dass ich Unrecht hatte."
Heute verteidigt er Rap mit ebendieser Fähigkeit zur Reflexion und kritisiert den immer noch schwachen Rapjournalismus. Im Interview mit dem Meinungsmedium derFreitag schreibt er: "Das Problem von Menschen, die sich in den Medien mit Rap beschäftigen, ist häufig, dass sie persönlich keine differenzierte und abstrahierte Sicht auf die vielen unterschiedlichen Ebenen haben." Seine Fähigkeit, Rap in seiner Wurzel mit all seinen Facetten im ständigen Diskurs zu erforschen und zu verteidigen, findet viel Zuspruch und Anerkennung bei den Künstlern selbst. Dabei spielt vor allem der psychologische Aspekt eine essenzielle Rolle. Falk Schacht scheint den Rappern mit seiner emphatischen und durchdachten Art, Interviews zu führen, emotional näher kommen zu können als so manch anderer deutsche Musikjournalist. So spricht er mit Rapper Haftbefehl beispielsweise über den Selbstmord seines Vaters oder wird vom Radiosender kiss.fm für das längste Interview der Welt mit Bushido angefragt, um diesen auf seinen vermeintlichen Selbstmordversuch anzusprechen. Mit viel Taktgefühl, Geduld und Empathie. Falk Schacht zeigt, dass es ihm um die Personen hinter einem öffentlichen Image geht. Er scheint wider einem objektiven, kritischen Journalismus und mit viel Einfühlungsvermögen an die menschliche Substanz eines jeden in den Medien noch so oberflächlich diskutierten Künstlers vorzudringen und kreiert somit fernab von PR-Plänen ein glaubwürdiges und zugänglicheres Gesamtbild des Künstlers.
Auf der anderen Seite scheint er seinen Kollegen im Journalismus zu einseitig mit dem Thema umzugehen. "HipHop-Lobbyist", nannte ihn der Redakteur der WELT Dennis Sand kürzlich in einem offenen Brief auf der Plattform rap.de. Er kritisiert Falk Schachts mangelnde Kritikbereitschaft am deutschen Rap und wirft ihm vor, Journalismus nicht verstanden zu haben. Falk Schacht geht mit jeglicher Kritik an seiner Person gelassen um. Gelassen anerkennend und hinter sich lassend, dass seine Neugier und Komplexität eben nerven können: "Wenn die mich nicht mögen, kann ich das nicht ändern. Ich bin nicht Journalist geworden, um Beliebtheitswettbewerbe zu gewinnen."
Ob guter Journalist oder "realer HipHopper" oder eben nicht: Falk Schacht weiß, wer er ist, wo er herkommt und was er kann. Neben der theoretischen Auseinandersetzung hat er eine konstante emotionale, sein Leben begleitende Bindung zur HipHop-Kultur aufgebaut. Die Twitter-Kids und Internet-Autotuner der neuen Generationen scheinen sich zurücklehnen und Rap ungestört sowie unreflektiert konsumieren zu können, solange es ernstzunehmende Vertreter wie ihn gibt, die die Kultur kennen und es verstehen, ihre (neuen) Phänomene im historischen Nachvollzug immer wieder für uns zu reflektieren.
"Das Nachdenken über die Kultur und ihre Bedeutung [hat mir] sehr viel beigebracht über das Leben im Allgemeinen. HipHop-Philosophie sozusagen. Alles, was ich tue, ist HipHop. Auch wenn ich mir ein Brot schmiere, dann ist das ein HipHop-Brot."
Falk Schacht ist momentan im Bayerischen Rundfunk im Podcast "Schacht & Wasabi: Der Deutschrap-Podcast" sowie in seiner eigenen Radiosendung "Die Falk Schacht Show" zu hören. In Zukunft sollen weitere Projekte hinzukommen, "die aber noch nicht spruchreif sind". Sein neuestes Interview mit dem Rapper Casper gibt es online auf dem YouTube-Kanal von PULS Musik zu sehen.
(von unserer freien Redakteurin Naya Bindzus)
(Fotos: Sandra Müller)