"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Es gibt Alben, die wie gemacht scheinen für eine bestimmte Stimmung. Gerade im Herbst, wenn die Tage kürzer, kälter und trister werden, hole ich deshalb immer wieder Chissmanns Album "Ganz Normal" raus. Denn mit dieser Platte bewies die RBA-Legende, dass sie zu weit mehr imstande ist, als nur zu lockerem "Bossrap". Stattdessen präsentiert Chiss hier sein Innerstes als Stimmungsbild, das tief blicken lässt.
Schaut man auf die Tracklist von "Ganz Normal", dürfte diese Einschätzung zunächst einmal verwirren, gibt es auf der Platte doch einige Tracks, in denen Chissmann seinen klassischen laidback-Style fährt und in bosshafter Manier das lyrische Du an die Wand battlet. Allen voran "Freshmen" mit Klubking und "Bossrapper 2" mit Kollegah entsprechen diesem Muster und überzeugen mit ausgezeichneten Rapskills der Beteiligten auf ganzer Linie. Doch die Herzstücke von "Ganz Normal" sind die tiefgründigeren Songs, auf denen Chiss Depression und gescheiterte Beziehungen thematisiert. Sogenannter Deeper Rap ist immer dann unpeinlich und kraftvoll, wenn es dem Künstler gelingt, seine lyrischen Sprachfähigkeiten mit einer treffsicheren Nachvollziehbarkeit zu verbinden. Der Hamburger schafft dies durch anschauliche Schilderungen seines Schicksals, die ihre ganz eigene poetische Kraft entfachen. Pointiert macht er sein persönliches Innenleben erfahrbar, schreibt aber zugleich so allgemeingültig, dass vermutlich jeder Bruchstücke des Leids verstehen kann. Zudem zeigt sich eine weitere Facette seiner dunklen, sonst so stylisch-ignoranten Stimme: Sie trägt eine ganz eigene Melancholie in die Songs, welche die dargebotene Stimmung perfekt unterstreicht.
Chissmann beweist sich so als vielschichtiger Künstler. Umso schlimmer, dass man seit diesem Release nur noch wenig von dem Rapper gehört hat. "Ganz Normal" ist sicher kein Album für jeden Tag – dafür kann es einen zu sehr runterziehen. Doch in nachdenklichen Stunden vermag dieses Werk, Gefühle auf beeindruckende Weise in Musik auszudrücken.
(Florian Peking)