10 Streetart-Künstler gefragt II: Dein bestes Artwork?
"So mal' ich mir die Welt, wie-wie-wie sie mir gefällt …" – was Kontra K schon leicht abgewandelt vom Song "Hey, Pippi Langstrumpf" adaptierte, hat auch heute noch Gültigkeit für viele Graffiti-Artists. Zum Glück. Mit handelsüblichen Treibgas-Dosen aus der Abteilung für Wandverschönerung ziehen Künstler durch die Straßen und hinterlassen anonym oder im Auftrag bunte Spots auf Fassaden. Dadurch verleihen sie manchen Städten ein neues Gesicht. Wir knüpfen mit dieser Ausgabe an die erste Streetart-Edition an, weil wir dieser Kunstform mit nur einer Ausgabe nicht gerecht werden konnten. Deshalb haben wir ein weiteres Mal zehn Streetart-Künstler gefragt: "Was ist dein absolutes Lieblings-Artwork, das du selbst angefertigt hast oder bei dem du involviert warst? Wo ist es zu finden und was macht es für dich so besonders?"
3Steps: Im Herbst 2016 haben wir eines unserer Lieblingswerke im Außenbereich geschaffen. Das Gemälde befindet sich im Gießener Industrieviertel, nahe dem Hauptbahnhof. Mit einer Höhe von siebeneinhalb Metern, einer Länge von 30 Metern und einer Gesamtfläche von 225 Quadratmetern gehört es zu unseren größten Wandgemälden. Die Arbeit mit dem Titel "BIRDS of PREY" ist eine Hommage an Kriemhilds ersten Traum im Nibelungenlied. Die Symbolik zeigt eine Übermacht in Form von zwei Adlern, der es sich entgegenzustellen gilt. In der klassischen Sage wird der Falke von den Adlern zerfleischt. In unserem Werk ist anstatt des Falken der Milan "Milvus" dargestellt, der zur Verteidigung ansetzt. Der Raubvogel ist auch bekannt als Roter Milan, der in den hessischen Landen beheimatet und seit unserer Kindheit ein Begleiter und Wappentier für uns ist. Der Milvus kann für das Volk stehen, während die zwei Adler für verschiedene Interessengruppen, Parteien oder Präsidentenkandidaten stehen. Diese könnten sich auch gegenseitig attackieren, jedoch stürzen sie sich in gemeinsamer Sache zunächst auf vermeintlich Schwächere. Der Ausgang ist ungewiss. In den Hintergrund des Werks sind Szenen aus der Nibelungensage eingearbeitet. Die heutige Weltpolitik zeigt, dass Kapitel aus Sagen wie dem Nibelungenlied in der Zeitgeschichte nie an Aktualität verlieren.
Birne: Es ist oft nicht einfach, als Künstler "frei" zu arbeiten und von den Einkünften aus den so genannten Bereichen Urban Art, Graffiti und Streetart gut leben zu können. Das Gürteltier-Wandbild ist mit Hilfe meines Kollegen Angus78 von Coloured Boulevard im Rahmen eines Kunstprojekts in Hilden entstanden. Das Projekt mit dem Titel "FLOW" wurde zu 50 Prozent vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW gefördert. Die andere Hälfte der Finanzierung war durch die Akquise von Sponsorings, Spenden und einem Eigenanteil zustande gekommen. Das Gürteltier-Mural war das dritte und letzte Wandbild aus dem Projekt des Ministeriums, welches bis zum Jahresende umgesetzt werden musste. Ursprünglich hatte ich geplant, eine andere Fassade in der Hildener Fußgängerzone zu gestalten. Ich hatte bereits mehrere Entwürfe angefertigt und längst die Einverständniserklärung der Eigentümer. Leider hatte sich ein Beamter der Hildener Denkmalbehörde quergestellt und mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der offizielle Grund war, dass die Fassade, welche zwar in wenigen Monaten abgerissen werden sollte, im denkmalgeschützten Innenstadtbereich lag. Aus dem Genehmigungsantrag wurde eine regelrechtes Politikum. In dieser Angelegenheit musste dann letztendlich die Bürgermeisterin eine Entscheidung treffen. Der Chef der Denkmalbehörde wollte lediglich dann eine Genehmigung erteilen, wenn er Einfluss auf meine Gestaltung nehmen kann. Diese Option war im Rahmen eines "freien" Kunstprojekts selbstverständlich ausgeschlossen. Die Auseinandersetzung mit machtgeilen Beamten war das genaue Gegenteil vom Projekttitel und Credo "FLOW". Es war ein Kraftakt. Parallel zu diesen Auseinandersetzungen lief die Planung und Umsetzung von drei Workshops und zwei weiteren großen Murals in Witten und Wuppertal. Glücklicherweise konnte ich dann die andere Fassade für das Projekt gewinnen, welche hier und aus der S-Bahn 7 nahe der Haltestelle Hilden Süd wunderbar zu sehen ist und einen Top Spot der Stadt darstellt. Bei der Umsetzung des Murals hatte ich dann alle Freiheiten, das umzusetzen, woran ich gedacht hatte. Und noch dazu das Glück, dass das Wetter mit Temperaturen um die 20 Grad und vielen Sonnenstunden für einen Dezember sehr, sehr mild war.
DOME: Dies ist eines der wenigen Bilder, das in meiner Heimatstadt Karlsruhe entstanden und tatsächlich Streetart ist. Das heißt, dass der Bildinhalt und dessen Umsetzung mit der Umwelt korrespondiert. Dies war mir davor tatsächlich nur einige Male gelungen. Ansonsten würde ich meine Kunst eher nicht definieren, da eine solche Definition eigentlich nur die Nichtkünstler benötigen. Für mich ist das einfach Malerei. Das Bild entstand im Juli 2015 und ich habe die drei heißesten Tage im Jahr erwischt. Es hatte circa 38 bis 39 Grad Celsius und ich stand mit langer Unterhose in der Anglerhose bis zur Hüfte im eiskalten Wasser des Baches Alb. Das waren die ungewöhnlichsten Umstände, bei denen ich je gearbeitet hatte. Man muss sich nur vorstellen, wie man bei 39 Grad in langer Unterhose schwitzen muss, die ich gegen die Auskühlung getragen habe, während gleichzeitig in dem Plastik-Angleroutfit der flüssige Schweiß von außen vom fließenden Wasser abgekühlt wird. Also Schwitzen und Auskühlen zur selben Zeit. Teilweise im Schatten und teilweise in der prallen Sonne. Die Arbeitsmaterialien wie Leitern, Abstelltische, Farbeimer et cetera hatte ich täglich in einem Gummiboot circa 80 Meter durchs Wasser bis zur Wand gezogen … Spaß gemacht hat es trotzdem. Ich würde es wieder so machen.
Jackules: Dieses Haus befindet sich im hintersten Winkel eines kleinen Dorfs. Trotzdem hat zuvor noch keine meiner Arbeiten eine so starke Resonanz bekommen. Nach einem Zeitungsbericht zu dieser Malerei bekam ich wochenlang Mails und Anfragen von begeisterten Leuten. Manche von ihnen schrieben mir, sie seien von Kassel aus in das 50 Kilometer entfernte Dorf gefahren, um sich das Bild anzusehen. Die Krönung war schließlich, dass eines Morgens ein Reisebus einen Abstecher machte und in die entlegene Sackgasse einfuhr, damit die Insassen das Bild besichtigen können. Sicherlich lag es nicht nur an der Malerei selbst, sondern ebenso daran, dass sich jemand sein gepflegtes Haus so gewaltig bemalen lässt – mit anderen Worten: an den Eiern des Eigentümers. Er ist Tätowierer und gab mir freie Hand, er wollte lediglich etwas Nettes mit Gras und Blumen. Als Entwurf lieferte ich ihm nur eine Kritzelei, auf der ohne Erläuterung nichts zu erkennen war, und doch ist es mein Lieblingsbild geworden. Mir gefällt es besonders, weil ich beim Deuten des Motivs kein Ende finde.
L.E.T.: Das Bild ist ein Stencil/Paste-Up und heißt "Turnaround". Eine Arbeit, die mir wichtig ist und gut den Grundgedanken dokumentiert, den ich in jedem meiner Stencils zu zeigen versuche. Das Positive kippt ins Negative oder umgekehrt. Das scheinbar Einfache wird vielschichtig und das, was man dachte zu kennen, verwandelt sich und wird komplexer und tiefer. Seit meinen Anfängen vor 25 Jahren arbeite ich mit Bildern und Fotos, die ich finde. Ich versuche dann, die Geschichte des Bildes "umzudrehen", indem ich mehrere verschiedene Bilder zusammenbringe und diese verbinde. So ist auch "Turnaround" entstanden. Wenn ich auch noch einen Platz finde, der gut mit meiner Arbeit "kommuniziert", dann hat sich die Mühe gelohnt. Hier war das mitten in der Altstadt von Düsseldorf. Die Größe und der Background der Wand passten gut zum Motiv und zigtausend Leute laufen jeden Tag vorbei.
HRVB: Das Bild nenne ich "Pineapple Jonny". Es ist im letzten Jahr an einer elf Meter hohen Wand in Linz entstanden. Zum fünfjährigen Crew-Geburtstag von "The Weird" sind wir dort zusammengekommen und haben im Mural Harbor unter anderem "Die vier Jahreszeiten" als gemeinsames Projekt kreiert. Glücklicherweise konnte ich mich der geilsten Jahreszeit widmen – dem Sommer. So habe ich ganz frei assoziiert und alles zusammengewürfelt, was mir in den Kopf kommt, wenn ich an Sommer denke. Und nicht nur das: Es war ja auch Sommer und ich hatte einfach eine megagute Zeit mit den Jungs. Dass dieses Bild also genau in diesem Kontext entstanden ist und damit voller positiver Energie steckt, macht es zu einem meiner absoluten Lieblingsstücke!
emesa: Ich habe erst im Januar 2016 angefangen zu malen. Ich habe am Lack geleckt und es hat mich schnell gepackt. Die erste Wand, erste Versuche mit der Dose … Wenn etwas nicht so geklappt hat, wie man es auf dem Papier gewohnt war, ließ ich den Kopf nicht hängen und probierte weiter aus. Ich hab' das alles schnell aufgesaugt und immer weiter und weiter geübt. In diesem Jahr sind einige Wände entstanden und ich habe viele Erfahrungen gesammelt. Ich bin an jedem Wochenende rausgegangen und habe gemalt, sozusagen jede freie Minute. Es fühlt sich richtig an. Ich bin immer sehr kritisch mir selbst gegenüber und finde das nur richtig! Es ist mir schwer gefallen, mein Lieblingswerk auszusuchen, da alle meine Ladys etwas an sich haben, das ich bevorzuge. Jede ist ein Liebling für sich. Weil im Jahr 2017 so viel passiert ist, habe ich mich für die letzte Wand aus dem Jahr 2016 entschieden. Sie ist am 28. Dezember entstanden und der Abschluss für alles, was in dem Jahr passiert ist. Eine Wand, bei der ich sehr viel reflektiert habe und eigentlich nur positive Vibes verspürt habe. Ich gebe meinen Mädels oft Namen und "Sarah" ist ein besonderes Exemplar. Den Gesichtern verleihe ich sehr gerne einen Ausdruck, denn jede Dame hat etwas zu sagen und verarbeitet etwas. Man kann es vielleicht nicht zweifelsfrei deuten, aber ich hab' es sehr gerne, wenn jeder Betrachter sich selber ausdenkt, was er in den Augen sieht. Ich habe schon gedacht, dass 2016 verrückt ist, aber im Jahr 2017 passieren noch mehr schöne, verrückte und unerwartete Sachen.
Mr. Trash: Grundsätzlich fällt es auch mir schwer, ein bestimmtes Mural als meine "Lieblingswand" zu bezeichnen, da es da draußen einfach zu viele wirklich gute Arbeiten gibt, die man nur schwer miteinander vergleichen kann. Wenn ich aber mein eigenes Lieblingsbild benennen soll, dann hab' ich das erst vor Kurzem, am 7. und 8. Juli 2017 gemalt. Genau dieses Bild hat im Vergleich zu allen anderen eine besondere Geschichte. Das Mural ist mitten in der Innenstadt von Bad Kreuznach entstanden. Ich bin in Bad Kreuznach geboren worden, habe dort die meiste Zeit meines Lebens verbracht, bin inzwischen aber genau seit zehn Jahren in Köln und arbeite dort in meinem Atelier als freischaffender Künstler. Nachdem ich in diesen zehn Jahren sehr viel gereist bin und dabei auch viel Kunst in der Welt verteilt habe, wollte ich nun das Jubiläum nutzen, um meiner Geburtsstadt ein bisschen Kunst zurückzubringen, da natürlich meine ersten Gehversuche in Sachen Graffiti dort ihren Ursprung hatten. Diese Idee habe ich nun mit dem Mural in die Tat umsetzen können.
Dies Irae: In der Nähe von Berliner Schulen finden sich häufig zahlreiche leere Capri-Sonne-Verpackungen. Als dann auf der Plakatwerbung das schlichte Motiv einer großen Verpackung zu sehen war, lag es nahe, daraus eine kleine Aktion zu machen. Das Sammeln der leeren Verpackungen dauerte nicht lange. Wie die meisten meiner Adbustings hing "Das Müllmonster" in einer Werbevitrine. Selbstverständlich wurde die Werbung nicht gebucht, sondern der Werbekasten gekapert, was mit einem einfachen Rohrsteckschlüssel leicht zu bewältigen ist. Die leeren Verpackungen waren ein echter Eyecatcher und sorgten für viele schmunzelnde Gesichter. Wenn die Neugierde bei den Fußgängern geweckt ist, wird auch schon mal die Oberfläche angefasst, um herauszufinden, ob sich das Plakat wirklich hinter Glas befindet. Genau dieser Irritationsmoment macht die Straßenintervention für mich rund.
Low Bros: Eine unserer liebsten Wände ist letztes Jahr in Vancouver entstanden. Was wir vor allem mögen, ist der Objektcharakter des Bilds, da wir die Front und die Seite des Gebäudes bemalt haben. Das Bild hat den Titel "Holidazed" und ist inspiriert von kitschigen Urlaubspostkarten mit deren Farbverläufen, überzeichneten Sonnenuntergangs-Szenerien und der oftmals eher künstlichen Stimmung. Diese Assoziationen hatten wir auch bei dem Gedanken an Motels, die jeder gut aus amerikanischen Filmen kennt. Das weitläufige Format hat uns viel Raum für die Komposition gelassen, bei der wir auch eher unaufgeregte und abstraktere Parts haben, die uns sehr gefallen. Die Leuchtschrift auf dem Dach unterstützt die Atmosphäre sehr gut. Wir sind im Nachhinein froh, uns um 5 Uhr morgens aufgerafft zu haben, um dieses Foto bei Sonnenaufgang zu schießen.
(Anne Donohoe)
(Foto von Leon Schnabel (DOME), weitere Fotos von privat, Grafik von Puffy Punchlines)