HipHop gleich Rap – oder? Zugegeben: Rapmusik nimmt einen großen Teil der Subkultur ein, was wohl auch ein Stück weit am stark angestiegenen "medialen Hype" der letzten Jahre liegt. Doch in Zeiten, in denen Sprechgesang regelmäßig die Charts anführt, rückt der ursprüngliche Community-Gedanke – zumindest oberflächlich betrachtet – zusehends in den Hintergrund. Dabei gibt es nach wie vor genug Menschen, deren Schaffen fernab von Booth und MPC stattfindet und die ihrerseits einen nicht unerheblichen Beitrag zur HipHop-Kultur leisten. In dem MZEE.com-Format "Das hat mit HipHop was zu tun" wollen wir ebendiese Leute zu Wort kommen lassen, die sich in irgendeiner Form, vielleicht sogar aus einer tatsächlichen Leidenschaft heraus, mit HipHop auseinandersetzen, als "Nicht-Rapper" jedoch selten im Rampenlicht stehen.
Zahlreiche Besucher tummeln sich in den Gängen des Museums. Das Interesse an der neuen Ausstellung ist groß. Wenn man näher hinschaut, fällt schnell auf, dass sich zwischen die "üblichen Verdächtigen" auch Menschen gesellt haben, die man nicht unbedingt auf einer Vernissage vermuten würde. Da sind zum Beispiel drei circa 30-jährige Typen mit schwarzen Jogginganzügen und Fitted Caps auf dem Kopf. Zwei von ihnen tragen Rucksäcke, der dritte einen MOLOTOW-Beutel in der Hand. Sie gehen an einem älteren Paar vorbei, das eifrig das Begleitheft zur Ausstellung studiert. Der Mann bleibt stehen und stützt sich an einer Mauer ab. Keine Minute später wundert er sich darüber, dass seine Hand schwarz und klebrig ist. Kurz zuvor hat an der Wand jemand mit Lackfarbe gearbeitet …
Dies ist nur einer von vielen außergewöhnlichen Momenten, die sich seinerzeit während der "BundeskunstHALL OF FAME" ereigneten. Unter diesem Namen brachte die Bonner Bundeskunsthalle Ende 2015 ein riesiges Street Art- und Graffiti-Festival in eines der renommiertesten Ausstellungshäuser unseres Landes – mit großem Erfolg. Verschiedene Medien waren sich einig in ihrer Begeisterung über die Ausstellung, die aufgrund des enormen Besucherinteresses sogar um eine Woche verlängert wurde. "Die Resonanz war durchweg positiv. Nicht nur von der Presse, sondern auch vom Publikum, jung wie alt, und den Mitarbeitern hier im Haus", freut sich Allan Gretzki, einer der zwei verantwortlichen Kuratoren. Anlässlich der Veröffentlichung der "BundeskunstHALL OF FAME"-Publikation am 09. November 2016 zieht er jetzt die Bilanz eines Events, das für die Graffiti-, aber auch die restliche Kunstszene gar nicht mal so unbedeutend war.
Den Grundstein für die Zusammenarbeit mit der Kunsthalle legte der 1979 geborene Gretzki quasi bereits während seiner Studienzeit. Im Rahmen eines Studiums an der Kunsthochschule für Medien Köln fertigte er im Bonner Museum Wandarbeiten mit Klebefolie an. Die Resonanz darauf war so gut, dass er dadurch engeren Kontakt zu den BKH-Verantwortlichen knüpfen konnte. Allerdings war der gebürtige Siegburger schon vor und während seiner akademischen Ausbildung als Writer und Installationskünstler aktiv. Mit seinen Ansätzen zur kreativen Nutzung öffentlicher Räume machte er in Graffiti- und Kunstkreisen früh von sich reden. Vor diesem Hintergrund war es nur logisch, dass zwischen Allan Gretzki und der Bundeskunsthalle irgendwann ein Austausch über Graffiti stattfindet. So kam 2012 zum ersten Mal die Idee auf, ein Event zu diesem Thema zu organisieren. "Ursprünglich war eine noch größere Ausstellung geplant, die aber einfach nicht realisierbar war", verrät Gretzki. Als er im Frühjahr 2015, ganze drei Jahre später, gefragt wird, ob er die Ausstellung immer noch machen wolle, sagt der Künstler sofort und ohne Bedenken zu. Doch das Konzept und die Finanzierung werden erst im August desselben Jahres final von den obersten Verantwortlichen der Kunsthalle bewilligt. Somit bleiben Gretzki und seinem Team nur knapp drei Monate Zeit, um das Projekt zu realisieren. "Es war eine absolute Hauruck-Aktion mit 24-Stunden-Tagen, sieben Tage die Woche. Aber die Arbeit hat sich gelohnt …" – wie man am bereits beschriebenen Ergebnis sehen kann.
Für den Kurator ist dabei rückblickend vor allem das ebenfalls meist positive Feedback innerhalb der Graffitiszene sehr erfreulich: "Von allen teilnehmenden Künstlern, aber auch von Szene-Leuten aus der Region sowie überregional Angereisten gab es durchweg positiven Zuspruch." Dies liegt wohl auch daran, dass Allan Gretzki und sein Kollege Robert Kaltenhäuser ihrer eigenen Idee gefolgt sind, den Künstler an sich und die teilnehmenden Protagonisten im Speziellen in den Mittelpunkt zu rücken. "Es ging darum, nicht einfach einen Sellout für das Publikum zu machen, sondern auch den Künstler zu bedienen und ihm zu sagen: 'Wir haben hier was geschaffen, das einzigartig ist und die Szene weiterbringt'", erklärt Gretzki dazu. Dieser Anspruch, die Szene weiterbringen zu wollen, fußt auf der seiner Auffassung nach herrschenden Stagnation im Graffiti-Bereich, die es aufzubrechen gilt. "Es geht immer noch um Namen, es geht immer noch um Farbe an der Wand. Aber: Es werden verschiedene neue Konzepte entwickelt, neue Wege erfunden." Deshalb ist die BundeskunstHALL OF FAME zwar als Bestandsaufnahme aktueller Entwicklungen zu sehen, bei der sich hauptsächlich auf die Muralists und Writer konzentriert wird. Davon ausgehend soll den Besuchern jedoch auch gezeigt werden, "wohin sich das Ganze möglicherweise entwickelt".
Außerdem – und das ist im Kontext der renommierten Kunsthalle besonders interessant – sollen gerade dem Szene-fernen Publikum Graffiti und Street Art als ausdrucksstarke Formen zeitgenössischer Kunst präsentiert werden. Gretzki und sein Team wollen damit ein Verständnis für die Ernsthaftigkeit der Subkultur in der Kunstszene und der Gesellschaft allgemein schaffen, wie der Kurator verrät: "Street Art- und Graffiti-Kunst sind allgegenwärtig. Jeder kennt das, aber wenige wissen darüber Bescheid. Jeder hat eine Meinung dazu – und diese gilt es zu korrigieren, wenn sie negativ ist." Eine schwierige Aufgabe, wenn man bedenkt, dass sich die Szene in der öffentlichen Darstellung immer noch häufig mit dem Vorwurf des Vandalismus konfrontiert sieht. "Klar sind Tags auf Privateigentum nicht schön oder etwas, das jeder auf seiner Hauswand haben möchte", findet auch Gretzki. Aber man könne den Leuten vermitteln, dass diese Tags die ursprüngliche Basis der Szene bilden und es deshalb Gründe für deren Existenz gibt. Und da sich der Kurator aufgrund seines Backgrounds und der beruflichen Fachkenntnisse dazu verpflichtet sieht, möchte er den Besuchern der BundeskunstHALL OF FAME diese seriösen Hintergründe der Graffitikunst näherbringen.
Um all diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist es notwendig, möglichst viele verschiedene Artists und Stile in der Ausstellung zu erfassen. Das gelingt dem Kuratoren-Team perfekt: Zahlreiche internationale Szenegrößen sowie regionale Künstler stellen den Besuchern ihre jeweilige Vision von Graffiti und Street Art sowie deren Umsetzung vor. Kai "Semor" Niederhausen beispielsweise stellt mit einer berührungssensitiven Leinwand die Evolution eines Pieces von der Skizze bis zum fertigen Bild nach. Der Franzose FUZI-UVTPK wiederum präsentiert seinen "Ignorant Style" nicht nur an der Wand, sondern auch auf der Haut der Besucher – während einer Live-Tattoo-Session. Eine Bildergalerie würdigt das Werk der 2014 tödlich verunglückten Hamburger Sprayer-Legende OZ. Allan Gretzkis persönliches Highlight, HoNeT aus Paris, liefert eine aufwendige Videocollage. "Darin arbeitet er sich durch die verschiedenen Ebenen seiner Heimatstadt. Er fängt in den Katakomben an und bewegt sich Stück für Stück 'nach oben'. Am Ende steht er auf einer Kirchturmspitze und fotografiert den Eiffel-Turm." Hinter diesem kreativen Ansatz steht das Konzept, sich die Stadt durch Graffiti grenzenlos zugänglich zu machen. Daneben malt HoNeT außerdem ein eindrucksvolles Mural, in dem er die Pariser Terroranschläge verarbeitet, die zum damaligen Zeitpunkt erst knappe drei Wochen alt sind. Die Liste der namhaften, beteiligten Künstler ließe sich gefühlt endlos weiterführen. Insgesamt wird dem Publikum so ein großes Spektrum verschiedener Ansätze präsentiert. Ergänzend dazu stehen ein Team von Kunstvermittlern sowie die Kuratoren Gretzki und Kaltenhäuser selbst für Fragen der Besucher zur Verfügung. Im Rahmen von Führungen bringen sie den Besuchern das Konzept und die Inhalte der Ausstellung zusätzlich näher.
Auch generell sei es laut Allan Gretzki von Vorteil, einen zweiten Kurator zur Seite zu haben. "Robert und ich haben zusammen überlegt, welche Künstler man noch mit reinnehmen könnte. Das war absolut wichtig und eine tolle, konstruktive Zusammenarbeit." Denn als Einzelperson verliere man schnell den Überblick und die nötige Distanz zur Künstlerauswahl. "Dann ist man irgendwann wie im Candy Shop und pickt sich nur die besten Süßigkeiten raus", so Gretzki. Durch den kritischen Austausch zwischen den beiden Kuratoren entsteht eine abwechslungsreiche Vielfalt, die dem Gesamtbild der Ausstellung zugutekommt. Dabei profitieren sie auch von ihrem jeweiligen Szenebackground: "Durch unser Standing konnten wir besser abschätzen, welche Positionen gut ankommen und wie man sie einbringt. Diese Authentizität half uns dann auch bei der Präsentation der Inhalte."
Einen Hauptanteil an der Vermittlung der künstlerischen Inhalte trägt allerdings auch die Aufmachung der Ausstellung selbst. Denn wie am Namen deutlich zu erkennen ist, beruht das Projekt auf dem Konzept einer "Hall of Fame". In der Graffitiszene werden so meist legale Flächen bezeichnet, an denen sich Künstler mit ihren Arbeiten verewigen und die Wände immer wieder neu gestalten. "Nach dem Prinzip 'Die besten Bilder bleiben!'", wie es im Infotext zur Ausstellung heißt, "kristallisiert sich im Laufe der Zeit heraus, welches Graffito die längste Zeit überdauert und somit die größte Anerkennung findet." Und genau dieses Prinzip wird auch im Rahmen der BundeskunstHALL OF FAME verfolgt. "Indem man diese Idee wirklich direkt umsetzt, kann man den Menschen das Thema am besten vermitteln", begründet Gretzki diese Entscheidung. So übermalen die Künstler regelmäßig die Arbeiten von Kollegen mit neuen Werken. Dadurch erlebt man nicht nur den Aspekt des stetigen Wandels, wie er auch im öffentlichen Raum stattfindet, da sich die Wände der Museumsräume quasi täglich verändern. Während der Live-Paintings haben die Besucher auch die Möglichkeit, mit den Artists direkt in den Austausch über deren Schaffen zu treten – oder sie gestalten das Erscheinungsbild einfach nach eigenen Wünschen selbst mit. Darüber hinaus erschließt sich anhand des Umgangs mit den Werken nach Ausstellungsende eine weitere Eigenschaft der Wandkunst: dass – auch wenn einige Arbeiten andere zunächst überdauern – kein Piece für die Ewigkeit gemacht ist. Gretzki offenbart nämlich: "Die Arbeiten wurden, so schade es ist, zunächst zensiert und dann abgerissen und vernichtet." Diese Form der Zerstörung mag zunächst befremdlich wirken. Doch zum einen sei man den Künstlern gegenüber dazu verpflichtet, damit an anderer Stelle kein finanzieller Profit aus deren Arbeit geschlagen werden kann. Zum anderen folge man damit den Gegebenheiten des Umfelds, in dem Graffiti normalerweise stattfindet. "In der Regel sind es Unorte – Brachland oder ungenutzte Bauflächen –, an denen Halls of Fame entstehen. Irgendwann wird das Gebiet dann doch bebaut und die Hall of Fame verschwindet, wie es zum Beispiel in Wiesbaden oder München der Fall ist", so der Kurator. Die Vernichtung der Ausstellungsinhalte stelle deshalb seiner Auffassung nach ein lehrreiches Abbild der Realität dar.
Allan Gretzkis Team und die Bundeskunsthalle haben insgesamt also alles richtig gemacht. Dies gelingt in seinen Augen allerdings bei vielen Versuchen, Graffiti in Kunsthäuser zu bringen, eher schlecht. Obwohl er anmerkt, dass die eigene Bestandsaufnahme bei Weitem nicht komplett sei, da man sich auf die Muralists und Writer konzentriert habe, sieht er nämlich grade die teils wahllose Zusammenstellung von Street Art-Inhalten in anderen Galerien kritisch. "Sie kaufen einfach das ein, was im Moment angesagt ist. Da ist dann alles pickepackevoll und sieht einfach poppig-bunt und schrecklich aus", begründet er seine Haltung. Das Schlimme daran sei, dass szeneferne Menschen darauf reinfallen würden: "Sie holen sich dann ein schönes Bild und hängen es an die Wand, aber es steckt einfach keine Seele darin." Dies schade auch dem Bestreben, Graffiti als Kunst zu etablieren – weshalb die Vermittlung des Programms der BundeskunstHALL OF FAME umso wichtiger sei. Denn viele der in Galerien vertretenen Künstler haben in Gretzkis Augen keine Relevanz für die Graffitiszene, da sie mit ihren Atelierarbeiten lediglich den Anschein von Straßenkunst erwecken. "Man muss schon mal aktiv auf der Straße an der Wand stattgefunden haben, um sich wirklich 'Graffiti-Künstler' nennen zu dürfen." Es reiche einfach nicht aus, sich für einen Sticker an angesagten Formen und Elementen zu bedienen – Gretzki nennt dies "Hipster-Graffiti" –, um damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Trotz dieser Problematik begrüßt der Kurator allerdings das zunehmende Aufkommen von Street Art und Graffiti in Kunstgalerien – wenn denn die Präsentation angemessen stattfindet. Dafür nennt er positive Beispiele: "Es gibt Galerien, die vertreten Künstler wie HoNeT oder MOSES & TAPS. Die Galerie Ruttkowski 68 in Köln und einige andere machen da gute Arbeit. Die stehen im engen Kontakt mit den Künstlern und können deren Werke dem Publikum richtig vermitteln." Wenn das geschehe, hätten die Ausstellungen dieser Häuser durchaus eine Daseinsberechtigung, da sie der Szene und den Künstlern guttäten.
Während neben der BKH Bonn also auch andere Kunsteinrichtungen – mal besser, mal schlechter – bemüht sind, die breite Masse für Graffitikunst zu begeistern, bereitet sich Allan Gretzki auf die Vorstellung der "BundeskunstHALL OF FAME"-Publikation am 09. November 2016 vor. An diesem Tag, elf Monate nach Ausstellungsende, wird das Graffiti- & Street Art-Festival zum Book Launch noch einmal Einzug in die Bonner Kunsthalle halten – samt Filmvorführung und Live Painting, versteht sich. Neben der Vorfreude darauf hat der Kurator aber noch einen Tipp, welchen Ort man als Graffiti-Interessierter unbedingt mal sehen sollte. "In Harlesiel an der Nordseeküste gibt es einen Anlegesteg für Fähren. Dieses Siel, in dem die Schiffe an- und ablegen, ist mit Steinen befestigt, die zusätzlich mit Beton verstärkt wurden. Als das vor gut 30 Jahren gemacht wurde, haben viele Urlauber und andere Menschen ihre Namen in den frischen Beton gekritzelt – und die sind da jetzt immer noch konserviert." Generell rät er den Menschen, wachsamer im öffentlichen Raum zu sein – denn überall gebe es diese Formen von Graffiti zu sehen. Aber er fügt lachend hinzu: "Es ist ja auch mal ganz schön, im Wald oder am Strand zu sein, wo es kein Graffiti gibt. Das muss auch mal sein."
(Sascha Koch)
(Fotos: Anna Appel)