Oh ja, wir sind richtig spät dran. Das aktuelle Beginner-Album erschien vor einigen Wochen und bis heute haben wir uns nicht öffentlich darüber in Form einer Review geäußert. Das Ganze liegt nicht daran, dass wir das Album etwa für nicht relevant halten und in der Schublade schnell ganz unten verschwinden ließen. Sondern daran, dass die Meinungen innerhalb der MZEE Redaktion selten so gespalten waren und wir noch nie derartige interne kontroverse Gespräche über eine Platte und unsere diesbezügliche Review hatten. Somit bringen wir nun etwas spät – und viele Diskussionen hinter uns lassend – zeitgleich eine Review auf der einen und dazugehörig einen Kommentar unseres MZEE CEOs Ralf Kotthoff auf der anderen Seite. Zwei Meinungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und die wir unseren Lesern nicht vorenthalten möchten.
In der ersten Woche erreichte die Platte bereits Goldstatus – und das Web füllte sich mit Reaktionen. Viele Kritiken fielen zu meiner Verblüffung schlecht bis durchwachsen aus – auch die Review von MZEE ist dabei keine Ausnahme. Hier eine Gegenstimme.
Kennt Ihr diese "Full Disclosure"-Hinweise, die ab und zu vor amerikanischen Texten stehen? Sie erklären, wie der Autor mit dem behandelten Thema verbandelt ist und warum er möglicherweise nicht objektiv sein kann. Nun, dieser Text ist quasi so ein Hinweis – nur etwas länger – zu mir und dem Album "Advanced Chemistry" der Beginner.
Natürlich bin ich als Mitarbeiter von Universal Music befangen: Das Label und der Vertrieb der Beginner sind bei uns. Viel wichtiger ist aber: Ich bin seit 1989 Teil der deutschen HipHop-Szene und kenne somit Eizi Eiz, Denyo und DJ Mad seit Jahren persönlich. Wer sich fragt, warum das eine die Folge des anderen ist, der war nicht dabei: Die "Szene" war damals so klein – natürlich lernte man sich kennen.
Außerdem war ich einst 50 Prozent der HipHop-Szene des Städtchens Itzehoe in Schleswig-Holstein. Es geht aber nicht um meinen persönlichen Lokalpatriotismus, wenn Denyo wieder die Stadt meiner Jugend in einem Text erwähnt. Vielmehr weiß ich, wofür dieses kleine Städtchen in der Historie der Beginner und der HipHop-Szene Hamburgs steht. Manch einer denkt, Denyo mache einen Zwangsreim – aber ich weiß, was er meint. So, wie ich die meisten anderen Anekdoten und Andeutungen auf der Platte verstehe. Eizi erzählt auf "Schelle", was ihn und seine Gang antreibt – und ich kann es sofort auch wieder fühlen: Sowohl den Boden (einmal unter einem Billardtisch) als auch das "Feuer". Die Beginner berichten über das "Anderssein" – ich wurde damals ausgelacht für dieses "Räpp-Räpp"-Zeug …
Was es heißt, ein Außenseiter in einer Welt ohne Internet und Handys zu sein, kann heute kaum einer mehr nachvollziehen. Muss auch keiner. Aber so entstehen eben Missverständnisse – wie beispielsweise in diesem Kommentar: "Der rappt ernsthaft 'Wir kommen von den Jams, verdienten keinen Cent'? Die haben doch mit 19 bis 20 Jahren 10 000 Stück von 'Flashnizm' verkauft?!" – richtig. Nur: Die Scheibe kam Ende 1996 raus und die fünf Jahre davor sind aus heutiger Sicht vielleicht vernachlässigbar; sind aber eine lange Zeit, wenn das, wofür du brennst, nicht in den Medien stattfindet und du dich regelmäßig in deinem Umfeld zum Deppen machst.
Oder nochmal generell gesagt: Denyo und Eizi rappen zwar über ihr eigenes Leben, aber das hat so viele Parallelen zu meinem, dass ich mit fast allem etwas anfangen kann. Inhaltlich, aber auch emotional gesehen. Und darum geht es doch bei Musik: Emotion. Mir fehlt das Verständnis dafür, dass häufig ihre Rapskills abfällig erwähnt werden, vor allem Denyos. Einiges von K.I.Z oder auch der Cloudrapper steht in meinen Augen auch nicht gerade für technische Überfinesse, hat doch aber auch seine Daseinsberechtigung? Und: Wenn man versucht, angetrunken im Club einen Kollegah-16er mitzurappen, dann freut man sich über aufgeräumte Stile von Frauenarzt, Afrob oder eben Denyo. Außerdem: Wenn Eizi und Denyo sich über die Jahre Megaloh-Skills antrainiert hätten, würden die selben Kritiker doch über fehlende Realness meckern. Und jene Fraktion, die das Gzuz-Feature doof findet, würde noch mehr heulen: "Das sind nicht meine Beginner!"
Dasselbe gilt für die Musik. Den einen klingt "Advanced Chemistry" zu sehr nach alten Beginner-Platten, die anderen meinen: "Was sollen die Reggae- und Trap-Elemente?" WTF?! Mad, Eizi und Denyo sind Künstler. Sie machen, was sie wollen, und sind dem Hörer nichts schuldig. Selbst wenn sie jetzt Punk oder Schlager machen würden – sollen sie doch. Aber haben sie nicht. Vielmehr haben sie die perfekte Beginner-Platte abgeliefert: 80 Prozent retrobezogener Sound plus 20 Prozent von dem, was sie aktuell geil finden. Der Break von "Schelle" bumst hart im Club, die Features mit Gzuz und Haftbefehl sind Verneigungen vor dem aktuellen Sound der Straße.
Eine andere Verneigung beeindruckt mich noch mehr: Der Titel des Albums lautet "Advanced Chemistry" und im Intro ist Torch zu hören. Für mich ein Statement, dass die Beginner sich in der Tradition und den Werten von HipHop sehen. Und: Diese Referenz an den Urknall der deutschen HipHop-Szene schmeichelt mir als MZEE Gründer natürlich sehr. Schließlich war meine erste Amtshandlung als MZEE Mitglied das Design des ersten Demotapes von Advanced Chemistry. Also bleibt mir nichts anderes übrig als das neue Beginner-Album zu lieben. Zum Glück ist es randvoll mit detailverliebten Texten und schöner Kopfnick-Musik für meine Generation, so dass ich es richtig gut hören kann. Ist halt Geschmackssache – und in diesem Fall genau meiner. Wäre dieser Text eine Review, würde ich 4,5 Mics vergeben.
Aber ich schreibe keine Reviews. Und hier bei MZEE ist heute eine Generation am Start, für die sich viele meiner Aussagen nach Alte-Leute-Gewäsch anhören und die außer dem Abfeiern des unausweichlichen "Füchse" im Club womöglich keine Beziehung zu den Beginnern hat. Dann liest sich eine Review natürlich auch anders, als wenn ich sie geschrieben hätte. Gut so. Zwar nicht für mich – denn ich bin betrübt. Aber sehr gut für HipHop, denn es geht weiter. Und alles ist gut.
(Ralf Kotthoff)
(Header-Foto: "Absolute Beginnerz": Ausschnitt aus dem MZEE Magazin September 1992.)