"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Dissythekid ist auch nach seiner zweiten EP "Fynn" ein Akteur, der mit seinem Schaffen weitestgehend unter dem Radar der Szene fliegt. Im erweiterten Umfeld von Ahzumjot oder Lance Butters zu finden, ruhte sich der Rapper nach seiner "Pestizid"-EP erst einmal aus und produzierte Videos für unter anderem Teesy oder Clueso. Was für ein bemerkenswerter Künstler Dissy selber ist, stellte er auf dieser ersten Veröffentlichung allerdings schon eindrucksvoll unter Beweis.
"Pestizid" ist 21 Minuten geballte Kreativität. Weder inhaltlich noch soundtechnisch ist Dissythekid mit irgendwem zu vergleichen, denn er bietet einen sehr eigenen und kontrastreichen Gegenentwurf zu anderen Rappern. Die Platte klingt für mich genau so, wie ich mir dystopische, sperrige und düstere Musik vorstelle. Sein Produzenten-Alter Ego Fynn entwickelt eine Breite an Sounds, die mal melancholisch wie auf "Interlude" oder "Outro" daherkommen und mal drückend mit knarzendem Bass wie auf "Hook" oder "Kids". Auch sein eigener Track "Fynn's Theme" zeugt von der Versiertheit als Produzent. Doch nicht nur auf klanglicher Ebene präsentiert sich "Pestizid" in einem eigenen Gewand, denn Dissythekid schmückt die Lieder auch mit kreativ ausgestalteten Texten aus. Gerade "Trash" ist dabei eine pointierte und spitzfindige Bearbeitung des leider immer noch nicht qualitativ hochwertigen Inhalts der hiesigen TV-Sender. Dabei dreht "Raps böser Zwilling" immer wieder altbekannte Thematiken um und bietet eine neue Sichtweise. So wird auf "Kids" aus der Sicht der Generation Y eine plan- und emotionslose Rebellion geschildert, zeitgleich aber auch an den Pranger gestellt.
Dissythekids Erstling ist ein ganz eigener Entwurf von Rap, der in sich schlüssig ist und der Szene einen einzigartigen Künstler vorstellt. "Pestizid" klingt komplett durchdacht und jeder Song überzeugt. Trotz der bisher fehlenden Aufmerksamkeit ist der Rapper eine Bereicherung für deutschen Rap, denn kaum ein Newcomer beweist den Mut, sich derartig auszuprobieren – und das beim ersten Release.
(Lennart Wenner)